Erzählwege. Regina Richter
Die kennen sich bei vielen Fragen besser aus als wir und falls Mama mal krank sein sollte, würdest du die Leute schon kennen. Außerdem muss Mama noch den Hof versorgen und wir sind auch nicht immer da. Was meinst du?«
Die beiden Geschwister hatten diese Worte seit Tagen durch ihre Köpfe geschoben, gedreht und gewendet, sich mit der Mutter besprochen. Das größte Problem an der Sache war die Frage danach, wer von ihnen den Mut haben würde, ihr Anliegen gegenüber dem Vater zur Sprache zu bringen. Schließlich hatte Marie die Initiative ergriffen.
Nur diese wenigen Worte hatten genügt, um beim scheinbar harmlosen Abendbrot den ersten richtigen Wutanfall, den sie überhaupt je bei ihrem Vater miterlebt hatten, zu provozieren. Voller Zorn knallte Franz den Teller zu Boden, welcher anstandshalber entzweibrach. Wie befreit kullerten die Erbsen eilig von ihm herunter, nur die Soße floss so langsam und zäh auf den Teppich, dass man es beinahe nicht erwarten konnte.
»So dick wie das Blut, das seine Arterien verstopft«, dachte sich Marie, sich zugleich dafür schämend. Sie war nur froh, dass ihre Mutter nicht Zeugin des Spektakels war.
Ungelenk fummelte ihr sichtlich schwer getroffener Vater an seinem Rollstuhl herum, wollte ihn umdrehen, um so gut er es noch konnte zu fliehen. Aber seine rechte Hand gehorchte ihm nicht und er bekam den Rollstuhl nicht schnell genug weg, weit genug weg von seinen Kindern.
»Papa, lass doch. Ich, warte …«, wollte Anton seinem Vater zur Seite springen, der seinen Impuls, ihm zu helfen, mit einer kurzen, aber gebieterischen Bewegung seiner gesunden Hand abwehrte.
Er wollte seinem Sohn nicht die Möglichkeit geben, sein schlechtes Gewissen, das er offenbar im Nachhinein angesichts dieser Unverschämtheit empfand, durch die Verrichtung banaler Tätigkeiten abzudienen. »Wessen Idee war das?«, brüllte er mit überraschend fester Stimme. »Wessen Idee das war, möchte ich wissen. Fremde Leute in meinem Haus! Ich bin noch nicht entmündigt. Widerlich seid ihr, widerlich. Entwürdigend ist das. Und Carola, hat sie auch damit zu tun?«
Die Kinder wussten instinktiv, dass sie die Mutter schützen mussten. »Nein, Papa, nur wir beide haben uns das überlegt, ehrlich«, logen sie gemeinsam dem kranken Mann ins Gesicht.
Sie konnten im Notfall all das hier, den Hof, den Vater, hinter sich lassen. Ihrer Mutter wäre diese Möglichkeit jedoch nicht gegeben. Alle anderen Sorgen, welche die Kinder umtrieben, die Frage nach den notwendigen, unweigerlich in Zukunft zu ergreifenden weiteren Maßnahmen, beschlossen sie für den Moment zu verschweigen. Nur ein kleiner Fleck Soße verblieb, kaum mehr sichtbar, als Zeuge der Auseinandersetzung eingetrocknet zu ihren Füßen.
»Wir sollten ein Bild von diesem Klecks machen und es einrahmen«, dachte sich Anton. »Quasi als Erinnerung an den Ursprung für alles, was ab sofort noch kommen mag.«
Die Zeit direkt nach dem Schlaganfall hatte die Familie sehr eng zusammenrücken lassen. Arztgespräche, die sie gemeinsam, einander an den Händen haltend absolvierten, kollektive Besuche in der Rehaklinik, die Frage nach der Organisation zu Hause, man überschlug sich förmlich an Unterstützungsvorschlägen.
Die Dankbarkeit für die vielen, guten, gemeinsam verbrachten Jahre beflügelten Ehefrau und Kinder nicht nur, sondern sie verlieh sämtlichen ihrer Worte und Taten zudem einen heroischen Unterton. »Papa, was brauchst du?«
»Franz, kann ich dir helfen?«
»Geht es dir gut?«
Dies waren nur einige von unzähligen Fragen, die trotz stetiger Wiederholung niemals inflationär zu werden schienen, nachdem der Vater endlich in die gewohnte Umgebung zu ihnen zurückgekehrt war.
Je länger dieser Zustand jedoch ohne jegliche Veränderung, gar Verbesserung andauerte, umso deutlicher mussten die bislang die Fahne des Optimismus hochhaltenden Familienmitglieder einsehen, dass er wohl niemals enden würde. Wenn sie ehrlich sein sollten, dann bestand nur eine einzige Aussicht, die wiederum besagte, dass die Umstände im schlimmsten Fall noch dramatischer werden konnten.
Die zu Beginn tragende Nähe, gespendet durch sich liebende Menschen, zog sich mit der Zeit bei jedem Einzelnen von ihnen immer enger um den Hals, legte sich alsbald bleischwer auf den Brustkorb, so dass jede Bewegung zu einem unermesslichen Kraftakt wurde. Diese Liebe, sie wog so schwer, dass sie es kaum noch schaffte, das alles aufzuwiegen.
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