Erzählwege. Regina Richter

Erzählwege - Regina Richter


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Moosen, Bäumen, kleinen Flechten, Hasen und Mäusen des Waldes. Bis auf das letzte weiße Hemdchen würde sie alles mit den Bewohnern des Waldes teilen, um am Schluss über und über mit Laub und Beeren belohnt zu werden.

      Bei Anton verhält es sich etwas anders. Franz hat den Eindruck, sein Sohn könne inmitten all dieser Natur vor allem eines, nämlich klarer denken. Seine Sinne wirken hier geschärfter, seine Atmung konzentrierter als irgendwo sonst.

      Bei der Wendeltreppe, die in den Keller führt, nimmt Franz meist freihändig zwei Stufen auf einmal, doch heute hält er sich lieber, Schritt für Schritt, am Geländer fest. Erneut ist ihm schummrig zumute, sein Kopf fühlt sich an wie mit Schaumstoff umhüllt.

      »Werde ich mir doch keine Grippe eingehandelt haben. Dafür habe ich jetzt überhaupt keine Zeit«, argwöhnt er, gleichzeitig energisch beschließend sich nicht weiter damit zu beschäftigen.

      Im Untergeschoss hat Franz sich ein kleines Büro, ausgestattet mit einem Computer, einer leistungsstarken Musikanlage und ein paar Hanteln für zwischendurch, eingerichtet. Schwungvoll dreht er die Anlage auf – »heute kann ich ja mal lauter also sonst« – fährt den Rechner hoch – »ah, den Kaffee habe ich vergessen« – steht auf, um ihn zu holen – »was soll denn schon wieder dieser Schwindel« – will sich wieder hinsetzen, seine Knie geben nach – »wir sollten öfter tanzen gehen«, denkt er sich völlig unzusammenhängend – rutscht weiter – verliert das Bewusstsein.

      Der Bürostuhl hat Armstützen. Schief, halb am Boden, hängt Franz zwischen einer der Lehnen und der Sitzfläche unglücklich mit dem Kopf fest, als Carola ihn endlich nach wer weiß wie langer Zeit findet.

      Verwundert und merklich eingeschränkt erwacht Franz erst im Krankenhaus wieder. Ohne Wenn und Aber lautet die Diagnose Schlaganfall. Das Sehen bereitet ihm Probleme, die rechte Hand, vielmehr die ganze rechte Seite scheint nicht mehr zu gebrauchen zu sein und auch die Worte, sie wollen nicht so recht heraus zwischen den rechts leicht nach unten hängenden Lippen.

      Die Krankenhaustage bringen Geschäftigkeit mit sich, zusätzlich müssen zu Hause die Tiere und der Hof versorgt werden, doch an den ruhigen Abenden erlöst die zurückgebliebene Familie leider keine alltägliche Ablenkung von ihren Sorgen.

      Schweigend sitzen die Geschwister mit ihrer Mutter um den vertrauten Tisch, der nun kaum noch einladend wirkt. Auch wenn nur eine Person fehlt, so scheint diese Holzplatte auf vier Beinen, eines der bisherigen Kernstücke der Familie, komplett leergefegt zu sein. Aussagen von Ärzten werden wiedergekäut, muss doch der Raum auf irgendeine Weise, notfalls mit bereits Bekanntem, gefüllt werden.

      Dann passiert es endlich und zugleich viel zu früh. Auch wenn sich an seinem gesundheitlichen Gesamtzustand nur wenig geändert hat, wird Franz aus der Klinik entlassen. Die nach wie vor bestehende rechtsseitige Lähmung macht für ihn nicht nur ein selbstständiges Fortkommen ohne Rollstuhl unmöglich, die unnütze Hand schränkt ihn zudem derart ein, dass er bei zahllosen alltäglichen Verrichtungen dauerhafte Unterstützung benötigt. Auch sein Sprechen, sogar seine Stimme sind verändert, wenn er nun langsam und gepresst um die passenden Worte ringt. Einzig und allein das Sehen hat sich deutlich verbessert, was erfreulich ist, die anderen Defizite dennoch nicht auszugleichen vermag.

      Seitdem der Vater wieder zu Hause ist, zieht sich die Mutter nach ihrem vollbrachten Tagwerk immer zeitiger zurück, um ihre Augen versteckt vor den Blicken der Kinder mit Tränen zu füllen und den Tag für sich selbst nicht unnötigerweise in die Länge zu ziehen. Der Schlaf, dem sie manchmal ein wenig nachhelfen muss, ist in seiner Abgeschiedenheit vom wirklichen Leben derzeit ihr bester Freund. Ihre sichtlich von der Situation betroffenen Kinder lässt sie im restlichen Licht des ausgehenden Tages auf sich gestellt zurück.

      Meistens sitzen Anton und Marie dann noch für eine Weile in der Wohnküche zusammen, aber ihre Unterhaltungen gestalten sich äußerst mühsam. Früher spielten sie das Spiel, wer als Erster spricht, hat verloren. Jetzt haben die Ereignisse den einst harmlosen Zeitvertreib ins Gegenteil verkehrt. Das erste Wort bekommt den Zuschlag.

      »Was hat das alles zu bedeuten?«, wagt Anton sich vor, nachdem die Mutter sich an einem Abend früher denn je zurückgezogen hat. Als Marie zu ihm aufsieht, wiederholt und ergänzt er seine Frage: »Was bedeutet das jetzt für uns?«

      Zaghaft schüttelt sie lediglich den Kopf.

      »Erzähl mir eine Geschichte, Marie, eine Geschichte darüber, wie das hier ausgehen wird«, fleht Anton seine ältere Schwester beinahe flüsternd an, während er die Hände gefaltet in ihre Richtung reckt. »Ich brauche einen Anhaltspunkt. Was soll ich anfangen mit meinem Leben? Wie und wofür soll ich mich entscheiden?«

      »Anton, du bist kein Kind mehr«, startet Marie ihren Versuch, sein Ansinnen abzuweisen. »Wir sollten …« Mitten im Satz hält sie inne, während sie ihren Bruder abwägend taxiert.

      Aus Erfahrung weiß sie, dass er nicht eher aufgeben wird, als dass sie sich geschlagen gibt. Zudem macht er, zusammengesunken wie er vor ihr sitzt, einen überaus elenden Eindruck.

      Sie kann nicht anders, sie muss ihm helfen. »Also gut, ich habe eine Idee, die durchaus Sinn machen könnte«, gibt sie sich einen Ruck. »Wir können sie gemeinsam durchgehen, unsere zukünftigen Lebensgeschichten in verschiedenen Varianten, soweit das überhaupt möglich ist. Sozusagen erzählen wir uns unsere Zukunft gegenseitig vorneweg. Vielleicht fällt es dir danach leichter, dich durch den derzeitigen Dschungel zu navigieren. Aber ich brauche dabei deine Unterstützung.«

      Auffordernd blickt sie den kleinen Jungen von einst an. »Ein Kneifen von deiner Seite gibt es dieses Mal nicht, verstanden?« Marie hat Lunte gerochen. Vielleicht konnte diese Unternehmung durchaus interessant werden.

      »Einverstanden«, signalisiert ihr Anton mit einem Nicken.

      »Gut.« Marie befindet sich sichtlich in ihrem Element. »Der Plan sieht wie folgt aus. Zuerst schaffe ich die allgemeinen Grundlagen der Geschichte, sozusagen eine gemeinsame Basis. Von dieser ausgehend entwerfen wir im Anschluss unsere jeweiligen Wege, welche auf allen zuvor getroffenen Entscheidungen fußen müssen.«

      »Wie bei den Mäusegeschichten?«, versucht Anton sich selbst aufzuheitern.

      »Ganz genau, nur mit dem Unterschied, dass der Ausgang bei uns leider gewiss ist.«

      Mit großen Augen, den Blick nach unten gerichtet, starrt Anton betroffen vor sich hin.

      Ohne weiter auf ihren Bruder einzugehen, fängt Marie an von dem zu erzählen, was sein könnte oder vielleicht einmal werden wird, und so beginnt eine sehr lange Nacht mit ihren möglichen zukünftigen Leben.

      Kapitel 4: Die Rückkehr des Vaters/ Basis

      (erzählt von Marie)

      Der kranke Vater kehrte nach einigen Wochen, die er im Krankenhaus und zuletzt in einer Rehaklinik verbracht hatte, nach Hause zurück. Aufgrund des erlittenen Schlaganfalls hatte er weiterhin Schwierigkeiten mit der rechten Hand, auch sein rechtes Bein war gelähmt und er benötigte einen Rollstuhl, aber das Sprechen ging, wenn auch langsamer, und er konnte wieder genauso gut sehen wie zuvor. Die furchterregenden Zerrbilder, die in seinem Gehirn durch eine Fehlinterpretation der visuellen Signale entstanden waren, hatten sich zurückverwandelt in eine, wenn auch zum Teil nicht minder beängstigende Realität.

      Dank eines Treppenlifts, der Anschaffung eines Pflegebettes und nach der Umgestaltung des Badezimmers konnte er im Haus relativ gut versorgt werden, wobei er dennoch zur Verrichtung der meisten alltäglichen Tätigkeiten Hilfe benötigte. Essen schneiden, Schuhe anziehen, auf die Toilette gehen, sich ins Bett legen, all diese Dinge beinhalteten für ihn unüberbrückbare Hürden.

      Als größtes Problem stellten sich jedoch die Zugänge im Hof mit ihren vielen Stufen und größtenteils ausgetretenen, schmalen Wegen heraus, die allesamt nicht rollstuhltauglich waren. Der Wald, das Herzstück seines Lebens, lag für ihn in unendlich weiter Ferne. Wie hätte man das unhandliche bereifte Vehikel, mit dem großen und schweren Mann darin, auch über das unwegsame Gelände manövrieren sollen?

      Er riss sich zwar ordentlich am Riemen, wie man es ihm von klein auf im Umgang mit persönlichem Leid


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