Tankred und die Bergsteiger. Ulf Kramer

Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer


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des grauen Alltags kurz ans Licht des Elends anderer entführt hätte, herbei. Leider wurden durch den Aufruhr auch einige Lehrer angezogen, die gewöhnlich im Rudel in einer ruhigen Ecke herumlungerten, um während ihrer Aufsicht ja nicht arbeiten zu müssen. Man konnte konstatieren, es lief nicht rund. Die Phase der inneren Emigration tat mir nicht gut. In den vergangenen Wochen hatte ich mich ab und zu mit zwei Losern aus der Parallelklasse getroffen, die sich ausschließlich mit ihren brandneuen Personal Computern, Fußballmanagerspielen und der Bundesliga beschäftigten. Da ich Hitler bei Wolfenstein 3D wiederholt niedergemacht hatte und mich Fußball kaum interessierte, langweilte mich ihre Gesellschaft jedoch inzwischen und ich mied sie so gut es ging. Seit einigen Wochen hatten wir zuhause Kabelfernsehen und ich schaute, wenn überhaupt, NBA-Spiele statt Bundesliga. Die Chicago Bulls schickten sich an, ihren Titel zu verteidigen. Als Einlaufmusik vor den Spielen lief Sirius von The Alan Parsons Projekt. Das war schwer beeindruckend und rief bei mir eine Gänsehaut hervor. Außerdem spielte bei den Bulls Michael Jordan. Aus der Fußballnationalmannschaft kannte ich Klinsmann und Kohler. Beide hießen Jürgen und waren im Vergleich zu einem Athleten wie Jordan Witzfiguren.

      »Was ist hier los?«, ertönte die herzlose Stimme meiner Klassenlehrerin. So ist es im Leben, man trifft immer auf die falschen Leute. Frau Krone ist die Toastscheibe, die mit der Marmelade voran auf den Boden fällt.

      »Hat dir der Dieter was getan, Tankred?«, fragte sie. »Das geht jetzt aber nicht, dass ihr euch hier schlagt.«

      So war sie, die Frau Krone. Kurz Sorge heucheln, dann die Ordnung wiederherstellen. Dass ich nach wie vor auf dem Asphalt kniete, interessierte nicht.

      »Nee, wir machen nur Spaß, Frau Krone«, sagte ich.

      »Der Deutsch ist doch der Sohn von der besten Freundin meines Vaters«, ergänzte Dillinger. »Wir sind fast Familie. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Blut ist dicker als Wasser. Sie wissen schon.«

      Er grinste meine Klassenlehrerin an und klopfte mir dabei auf den Rücken. Ich hustete. Frau Krone schaute unschlüssig von mir zu ihm und wieder zurück, während ich Dillingers Arm ergriff und mich daran auf die Beine zog. Sie war höchstens dreißig und ich fragte mich, was mit ihr geschehen sein mochte, dass sie in diesem Alter schon so verbittert wirkte. Wahrscheinlich wusste sie es einfach nicht besser. Auch für Erwachsene kann es schwer sein, erwachsen sein zu müssen.

      »Ich weiß ja nicht. Für mich sah das ganz anders aus«, dozierte sie. »Ich denke, ich sollte euch zum Kriseninterventionsteam schicken, damit ihr mal in Ruhe darüber redete. Wir brauchen hier keine Schuldzuweisungen aussprechen. Ihr habt einen Konflikt, den können wir lösen. Friedlich! Hört ihr! Dann kann ich davon absehen, das Ganze der Schulleitung zu melden.«

      Das Kriseninterventionsteam bestand aus Schülerinnen und Schülern der Oberstufe, die gelangweilt ihre Pausen im Interventionsraum abhingen, am Fenster Zigaretten rauchten und ab und an gepeinigte Mädchen und Jungen verhörten, die vom überforderten Lehrpersonal verdonnert worden waren, sich das dumme Gelaber der angehenden Abiturienten anzuhören.

      »Er hat mir in die Eier …«

      »Na, na, Tankred«, unterbrach sie mich streng. »Wortwahl! Achte auf deine Wortwahl, wenn du mit mir sprichst.«

      »Aber ich habe nichts …«

      »Das kann das KIT in Ruhe auseinander klamüsern.«

      Dillinger seufzte. Er schien seinen Tritt inzwischen aufrichtig zu bereuen.

      »Klamüsern ist kein Wort«, sagte ich trotzig.

      »Oh doch, lieber Tankred. Und deine Widerworte zeigen mir nur, wie viel Nachholbedarf bei dir und deinem Freund besteht.«

      Dillinger guckte mich unschlüssig an. Ich wusste nicht weiter. Besonders bizarr fand ich, wie Frau Krone die Frage nach Täter und Opfer unter den Tisch fallen ließ und Dillinger und mich gleichsetzte. Dabei hatte ich nur mein Pausenbrot gegessen. Aber das schien längst niemanden mehr zu interessieren. Das gute Brot lag geschändet zwischen mir und Frau Krone am Boden.

      Sie begleitete uns bis zum Raum des KITs. So wurde es genannt. KIT. Etwas Bescheuerteres war anscheinend niemandem eingefallen. Frau Krone schob uns unsanft in das kleine Kabuff, in dem zwei ältere Schülerinnen zusammen mit zwei Mädchen an einem Tisch saßen und auf sie einredeten.

      »Oh, ihr habt schon Klienten?«, fragte Frau Krone.

      »Nein, nein«, rief eine der älteren Schülerinnen. »Das ist gar kein Problem. Wir können die auch gleich alle in einem Rutsch verarzten.«

      Das klang professionell und vertrauenerweckend. Die wollten mich verarzten. Ich überlegte wegzurennen, aber dann stand ich schon vor dem Tisch und Frau Krone warf von außen die Tür zu. Die KIT-Idioten grinsten finster. Ich schaute auf die bedauernswerten Mädchen neben mir. Das eine hatte ein geschwollenes Auge, das andere war Lejla.

      »Was machst du denn hier?«, entfuhr es mir.

      »Sprichst du wieder mit mir?«

      Ihr war mein isolationistisches Gebaren der vergangenen Wochen natürlich nicht entgangen, schließlich tat ich alles, um mich zuhause zum Affen zu machen.

      »Keine Ahnung, was du von mir willst«, sagte ich grummelnd in meinen kaum existenten Bart.

      »Ähm, wer hat denn hier jetzt alles ein Problem miteinander?«, fragte eine der beiden älteren Schülerinnen.

      »Die blöde Kuh hat mich dumme Polin genannt«, sagte Lejla zu mir und deutete auf das Mädchen, das eingeschüchtert neben ihr hockte und zu Boden starrte.

      »Es reicht«, rief die Wortführerin des KITs genervt und deutete uns an, Platz zu nehmen.

      »Jetzt hör mal, Sonja«, sagte Dillinger zu ihr. »Lass uns einfach wieder gehen. Wir kennen uns doch von der Abi-Vorparty. Das alles ist wegen der Krone. Die spinnt …«

      »Das spielt doch keine Rolle, ob ich dich kenne oder nicht«, sagte die Schülerin, die offenbar Sonja hieß.

      »Ey, jetzt mal wirklich …«, setzte Dillinger zu einem erneuten Versuch an, die Dinge unbürokratisch zu lösen, wurde aber von Sonja mit einem finsteren Blick ruhig gestellt.

      »Wir sind hier nicht umsonst als Kriseninterventionsteam ausgebildet worden«, sagte sie streng. »Wir nehmen das ernst! Deshalb könnt ihr euch jetzt erst mal anhören, was die Lisa hier dazu gebracht hat …«

      »Die heißt Lejla«, sagte ich.

      Sonja guckte verwirrt. »Woher kennst du die überhaupt?«

      »Die wohnt bei uns.«

      »Wieso wohnt die bei euch?«, fragte Sonja in einem Tonfall, als hätte ich etwas ungemein Dummes gesagt.

      »Meine Mutter meint, wir müssten von unserem Wohlstand etwas zurückgeben«, antwortete ich.

      »Klassisches Helfersyndrom«, ergänzte Dillinger.

      Die beiden KIT-Schülerinnen wussten nicht mehr weiter.

      »Kennt ihr euch denn alle hier?«, fragte Sonjas Kollegin.

      »Tankred und ich sind so etwas wie Brüder«, erklärte Dillinger. »Obwohl wir nicht so erzogen wurden. Brüder im Geiste.«

      »Na ja«, murmelte ich.

      »Also wir machen das alles hier jetzt streng nach Protokoll«, sagte Sonja energisch.

      »Was ist denn passiert?«, fragte ich Lejla.

      »Hab ich doch schon gesagt. Die blöde Kuh hat mich beleidigt.«

      »Blöde Kuh ist aber auch eine Beleidigung«, sagte Sonja.

      Sie lehnte sich über den Tisch und schaute tadelnd. Ich starrte ihr in den Ausschnitt direkt auf die Titten. Ich weiß, das ist abartig, aber ich war sechzehn und konnte in diesem Moment nicht anders. Sie trug einen blauen, ausgeleierten BH, unter dem sich verführerisch ihre Brüste wölbten. Lejla schien meinen Blick bemerkt zu haben, denn sie trat mir gegen den Fuß und ich schrie leise auf.

      »Hey,


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