Tankred und die Bergsteiger. Ulf Kramer

Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer


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sollten wir doch rauchen«, sage ich und spüre ein leichtes Schwindelgefühl.

      Sie schiebt mir das Päckchen Gauloise über den Tisch. Ich stecke mir eine an, die erste seit über einem Jahr, und stelle eine leere Milchpackung als Aschenbecher in die Mitte zwischen uns.

      »Warum könnte Ihre Mutter das getan haben? Ihren Freund, dem sie einst zur Flucht aus der DDR verholfen hat, niederschlagen.«

      Wenn ich das wüsste, säße ich nicht hier und würde Gauloise rauchen, denke ich. »Keine Ahnung.«

      »Hat sie Tillinger in ihre Wohnung gelockt, um ihn vorsätzlich zu töten?«

      Ich huste. »Meine Mutter ist doch keine Mörderin. So ein Blödsinn.«

      »Gut«, sagt sie und greift ihrerseits nach den Zigaretten. »Aber sie hat einem Menschen so hart auf den Kopf geschlagen, dass dieser jetzt im Koma liegt und ums Überleben ringt.«

      »Für mich ist das mindestens so verrückt wie für Sie«, antworte ich leise.

      Ich habe den Eindruck, sie will nach meiner Hand greifen und sie tröstend drücken. Stattdessen ascht sie in die Milchtüte. »Ihre Großmutter stammt aus Schlesien?«

      Der erneute Themenwechsel verunsichert mich. »Meines Wissens schon. Aber sie ist vor meiner Geburt gestorben.«

      »Sie hat sich 1945 in Dortmund als Flüchtling registrieren lassen.«

      Ich zucke mit den Schultern.

      »Kennen Sie Ihren Großvater?«

      »Wie jetzt? Kennen?« Sie berührt einen sensiblen Bereich unserer Familiengeschichte, der nie thematisiert worden ist.

      »Wissen Sie, wer er ist?«

      »Sie sind doch die allwissende BKA-Tussi.« Der Ausdruck rutscht mir so heraus. Ich rechne mit einer Zurechtweisung, aber KOK Termoltke ignoriert meinen kleinen Fauxpas und schaut mich einfach nur mit ihren großen Augen an. Sie ist Teil des gnadenlosen Überwachungsapparats unserer nahezu perfekten Demokratie. Bei solchen Leuten muss man auf der Hut sein, so sympathisch sie auch rüberkommen mögen. »Tut mir leid, war nicht böse gemeint.«

      »Schon gut«, sagt sie und lächelt dabei nicht einmal künstlich, sondern scheinbar aufrichtig erheitert. »Was ist jetzt mit Ihrem Großvater?«

      »Ich glaube, den gibt’s gar nicht.«

      »Ihre Mutter wird kaum von jungfräulicher Geburt sein, auch wenn ihre Großmutter Maria hieß.«

      Was für ein Scheißspruch, denke ich, sehe aber darüber hinweg. Mit der Sache mit der Tussi steht es jetzt eins zu eins. All square wie man im Golfsport sagt. Keine Ahnung, woher ich das weiß. Ich interessiere mich nicht für Golf. Das ist mir zu elitär. So etwas kann ich nicht leiden. Da komme ich ganz nach meiner Mutter. »Also Ihre Art der Gesprächsführung verwirrt mich irgendwie«, sage ich nachdenklich. »Das ist so von Höcksken auf Stöcksken oder wie das heißt.«

      »Sie wissen also nichts über Ihren Großvater mütterlicherseits.«

      »Nein. Über den wird in meiner Familie nicht gesprochen. Deshalb gibt’s den ja auch nicht.«

      KOK Termoltke greift in ihre Handtasche und reicht mir ein Schwarz-Weiß-Foto. Darauf sind zwei Männer und eine Frau an der Kanalschleuse im Norden der Stadt zu erkennen. Heute sieht es dort anders aus, deshalb muss die Aufnahme ziemlich alt sein. Obwohl das Foto aus einiger Entfernung geschossen worden ist, kann ich die junge Frau als meine Mutter identifizieren. Sie trägt einen kurzen Rock und eine bunte Jacke. Ihre hellen Haare fallen ihr lang auf den Rücken.

      »Von wann ist die Aufnahme?«, frage ich.

      »1971.«

      Ich rechne. Einundsiebzig minus sechsundvierzig. Meine Mutter ist auf dem Foto über zehn Jahre jünger als ich heute. Mich schockiert, sie in dem Alter zu sehen. Das ist nicht meine Mutter, das ist eine aufreizend gekleidete, ziemlich hübsche Hippiefrau. Vielleicht war sie damals sogar schon mit Linus schwanger. Der ist 1972 geboren. Sehen kann man noch nichts. Meine Mutter ist extrem schlank und wirkt trainiert. Sie kommt mir gänzlich unbekannt vor. Das verunsichert mich.

      »Der ältere Mann dort ist Josef Tillinger«, erklärt KOK Termoltke und deutet auf einen der Männer auf dem Foto.

      »Laurenz Tillingers Vater.«

      »Richtig. Sie halten einen von mehreren Beweisen in der Hand, dass Ihre Mutter und die Familie Tillinger sich lange vor 1984 kannten.« Sie schaut mich mitleidig durch den Rauch an. »Laut Stasi-Akten haben Ihre Großmutter und Ihre Mutter in den Sechzigern mindestens ein Dutzend Mal Josef Tillinger in der DDR besucht. Damals hat Ihre Mutter Laurenz Tillinger kennen gelernt. Die beiden hatten eine Weile eine sexuelle Beziehung.«

      Ich werfe die Zigarette in die Milchtüte und kämpfe mit dem Schwindel, der vermutlich nicht vom Nikotin kommt. KOK Termoltke macht mich fertig. »Und dann treffen sie sich in den Achtzigern wieder …«

      »… und Ihre Mutter verhilft Laurenz zur Flucht«, beendet die Kommissarin meinen Satz. »Und achtundzwanzig Jahre später schlägt sie Laurenz Tillinger mit einer Pfanne ins Koma.«

      »Während die anderen Fluchthelfer von damals entweder tot oder verschwunden sind beziehungsweise von der Stasi entführt wurden«, murmele ich.

      »Über die Schicksale von Jochen Maus, Stephan Pedersen und Gideon Goldmann wissen Sie also Bescheid.«

      Ich nicke geknickt. »Meine Mutter hat mich zwar offensichtlich in einigen Punkten belogen, aber die Sache mit der Flucht und den Fluchthelfern ist in der Familie damals Thema gewesen. Seitdem aber nicht mehr.«

      »Können Sie sich vorstellen, dass die Tat Ihrer Mutter in einem Zusammenhang mit der Flucht von Laurenz Tillinger stehen könnte?«

      Ich blase die Wangen auf. »Scheiße, selbst wenn, dann würde ich Ihnen das nicht sagen.«

      KOK Termoltke blickt unzufrieden aus dem Fenster. Sie macht nur ihren Job und das vermutlich gar nicht mal schlecht. Ich kann ihr nicht böse sein.

      Sie greift nach dem Foto und verstaut es in ihrer Tasche. »Der andere Mann auf dem Bild, das ist Christoph Quarz.«

      Ich kann mich eine Zeitlang nicht bewegen, hocke stillschweigend auf meinem Platz und starre auf die Tischplatte. Noch Stunden nachdem sie gegangen ist, hängt ein unangenehmer Geruch nach kaltem Rauch in der Küche, der mich daran erinnert, was sie erzählt hat. Warum trifft sich meine Mutter 1971 mit einem Stasimann? Wurde sie vom BKA beschattet? Was hat mein Vater, den ich kaum kenne, mit der Angelegenheit zu tun? Warum ist er auch auf dem Foto? War meine Mutter am Ende eine Spionin der DDR? Oder drehe ich endgültig durch?

      Anscheinend sollte man sich der Dinge niemals sicher sein. Ein unangenehmes Gefühl, das mir seit zwei Tagen sehr vertraut erscheint.

       Greta

      Kein Arzt in Westdeutschland wäre bereit gewesen, einem achtzehnjährigen Mädchen die Antibabypille zu verschreiben. Nicht im Jahre 1964. Das Präparat wurde ausschließlich an verheiratete Frauen ausgegeben. Anscheinend fürchtete man in den Hinterzimmern der alten Eliten, die Menschen würden in wilder Ekstase das gesellschaftliche Miteinander in eine perverse Orgie verwandeln, könnte jede Frau mit einem simplen Medikament eine Schwangerschaft vorbeugen. Die Weiber würden vor Lust stöhnend durch die Gassen ziehen, nur darauf aus, sich den nächsten Schwanz eines unschuldig daherkommenden Mannes zu packen, um ihn sich in die Vagina zu führen. Das war sie, die schmutzige Fantasie der Pfaffen, der reaktionären Politiker und selbst ernannten Hüter von Moral und Anstand. Anders ließ sich diese Farce nicht erklären. Dabei wollte Greta nichts Schlimmes, sondern nur ein bisschen Spaß mit ihrem Freund. Sie verstand nicht, was daran falsch sein sollte. Sie hatte noch keinem Menschen etwas vorgeschrieben, litt aber unter so vielen, die genau das zu ihrem Beruf gemacht hatten. Sie durfte sich nicht effektiv vor einer Schwangerschaft schützen, ihrem Freund war es verboten, sein Land zu verlassen, sie benötigte einen Berechtigungsschein, um ihn zu besuchen. Das alles wurde in der Öffentlichkeit als normal dargestellt. Sie hielt es für


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