Tankred und die Bergsteiger. Ulf Kramer

Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer


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Sie lachte und ließ mich los.

      »Ist nicht schlimm«, sagte sie.

      Ich fragte mich, wie sie es hinbekam, so entspannt zu sein. Sie legte den Arm um mich und kuschelte sich zu mir. Kurz darauf war sie eingeschlafen. Morgens weckte uns meine Mutter. Sie stand im Zimmer, machte das Licht an, sah uns gemeinsam in meinem Bett, schaute mir in die Augen und seufzte leise. »Das habe ich mir anders vorgestellt«, hörte ich sie zu sich selbst sagen, bevor sie uns alleine ließ.

      Lejla räkelte sich und grinste. Sie konnte sich das erlauben, ihre Mutter war 1.300 Kilometer entfernt und saß nicht wütend nebenan. Mir war das alles ungeheuer peinlich. Ich hüpfte aus dem Bett, schnappte mir eine neue Hose, zog mich im Bad um, bevor ich mich in die Küche wagte. Meine Mutter hockte am Tisch und sortierte Socken. Auf der Anrichte neben dem Kühlschrank saß ein Mädchen mit einem Marmeladenbrot in der Hand. Es hatte ungefähr mein Alter, war braun gebrannt, trug die Haare schwarz gefärbt und dazu dunkle Skaterklamotten. Schockiert erkannte ich meine Schwester. Letztes Jahr war sie noch ein dümmliches, kleines Ding gewesen. Jetzt wirkte sie fast wie eine junge Frau. Dass ihre Zeit in Louisiana in diesem Monat endete, wusste ich zwar, aber ich hatte mich nie gefragt, wann sie wiederkommen würde.

      »Hallo«, sagte ich stupide.

      »Ich dachte immer, du wärst viel zu brav, um Schule zu schwänzen«, entgegnete sie grinsend und stopfte sich das letzte Stück Brot in den Mund.

      »Ich …« Mein Blick fiel auf meine Mutter, die mich mit undurchdringlicher Miene beobachtete.

      Anna griff nach der Milchtüte neben ihr und trank lautstark. Ein schmales Rinnsal rann ihr am Kinn hinab.

      »Habt ihr ein Kondom benutzt?«, fragte meine Mutter in die Stille hinein.

      Anna begann prustend zu lachen. Milch spritzte auf den Boden. Meine Mutter amüsierte sich allerdings nicht besonders. In ihrem Gesicht stand ein Ausdruck, den ich noch nie bei ihr gesehen hatte, als ginge es nicht um mich, nicht um Lejla oder um mein Sperma, das ich harmlos in meine Unterhose vergossen hatte, sondern um etwas Wirkliches und Echtes, das weit über Teenagerprobleme hinausging.

      »Mama«, sagte ich hilflos.

      »Sohn?«

      »Ich will nicht mit dir über solche Sachen sprechen. Also nicht jetzt, ich muss ja in die Schule und so.«

      »Ist das nicht sogar strafbar, sich an hilflosen Kriegsflüchtlingen zu vergehen?«, fragte Anna.

      »Halt die …«

      Ich hielt inne, denn meine Mutter schüttelte mit dem Kopf. »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte sie streng.

      Ich blickte zu Anna, die mich angrinste. Ich kam mir doof vor, weil ich vor ihr nicht zugeben wollte, kein Kondom benutzt zu haben, weil ich es gar nicht benötigt hatte.

      »Wir haben ja gar nicht …«, stammelte ich.

      Meine Schwester lachte mich erneut aus und selbst meine Mutter konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, was ich ihr wirklich übel nahm. Immerhin war das Thema damit vorerst erledigt. Lejla und ich taten in den Tagen danach so, als sei zwischen uns nichts Außergewöhnliches geschehen, unterhielten uns über Nebensächlichkeiten, schauten zusammen Fernsehen und schliefen in den für uns vorgesehenen Betten. Vielleicht waren wir an einem Punkt angelangt, der uns beide überforderte. Dann kam der Brief von Lejlas Eltern. Sie sollte zurück nach Dubrovnik, denn als Ausländer in Deutschland war man inzwischen auch nicht mehr sicher. Die feinen, deutschen Wohlstandskinder gingen auf hilflose Schutzsuchende los. Die BILD-Zeitung schrieb dummes Zeug wie Das Boot ist voll oder Fast jede Minute ein neuer Flüchtling, Die Flut steigt. Lejla war ein Teil dieser Flut. Sie war schuld, dass wir Deutschen absoffen. Zumindest schenkte man den Idioten von der BILD und den Arschgeigen am rechten Rand glauben. Mich hatte die Flut ohnehin längst weggespült. Egal, was geschehen würde, sie hatte mein Leben verändert.

       Anna

      Als Tochter einer alleinerziehenden Mutter sowie Schwester zweier älterer Brüder galt es, sich zu behaupten. Das lernte Anna schon früh. Nicht nur, dass sie jahrelang in blauen Klamotten für Jungs herumgelaufen war, mit Baggern, Cowboys und Indianern sowie lächerlichen Actionfiguren hatte spielen müssen, die anderen stellten sie in der Familienhierarchie wie selbstverständlich nach ganz unten. Weder ihre Mutter noch Linus oder Tankred nahmen sie für voll und das schmerzte in jedem Alter, ob als Fünfjährige mit Brüdern von sieben und elf, oder als Vierzehnjährige mit einem sechzehnjährigen Waschlappen sowie einem zwanzigjährigen Vollidioten als gefühlte Vorgesetzte. Natürlich gab es auch erträgliche Phasen und mit Tankred verstand Anna sich allgemein recht gut, aber ihre Rolle als die Kleine nagte an ihr, auch wenn sie das nicht offen zugegeben hätte. Immerhin gelang es ihr mit etwas Glück, Beharrlichkeit, finanzieller Unterstützung der Großeltern aus Schweden und dem Wohlwollen ihrer Mutter das Auslandsjahr in den USA zu ergattern.

      Die ersten Wochen in Louisiana erschienen ihr wie ein infernaler Fiebertraum. Sie wohnte bei einer Cajun-Familie, Nachfahren von französischen Siedlern in Kanada, die es in den Wirren der Geschichte in den Süden der USA getrieben hatte. Es waren gute Leute, robust, aber freundlich. Sie sprachen einen eigenwilligen englischen Akzent, den Anna erst kennenlernen musste, um ihn einigermaßen zu verstehen. Der Vater der Familie war Musiker und spielte Akkordeon in einer Cajun-Band. Zweimal nahm er Anna mit zu Konzerten. Die Musik klang altmodisch, nach einer Anomalie in der Zeit. Das passte zu diesem seltsamen Landstrich, diesem Schlupfloch in die Vergangenheit. Stets schien es darum zu gehen, wer man war – Amerikaner, Kreole, Franzose, Hispanic, Weißer, Schwarzer, alles ein bisschen oder nichts von alldem? Anna konnte damit nichts anfangen. Ihr war die Frage nach der eigenen Identität fremd. Ihre Oma Ingrid war Schwedin. Aber damit verband sie nichts. Oma Maria stammte aus Schlesien. Dieses Land existierte nicht einmal mehr. Heute gehörte es zu Polen und die Menschen, die einst Schlesien zu Schlesien gemacht hatten, waren vertrieben oder tot. So lief es in dieser Welt. Kein Grund, Schlesien nachzutrauern, fand Anna. Es war fort. Sie selbst war weder schwedisch noch schlesisch. Ihre Gastfamilie legte großen Wert drauf, Cajun zu sein.

      Nach zwei Monaten hatte sie Freunde gefunden. Sie ging mit einem älteren Footballspieler aus und kam sich vor wie in einem Hollywoodfilm. Der Junge war riesig und durchaus sympathisch, obwohl sie manchmal nicht verstand, was er sagte, weil er einen extremen Akzent sprach, den sie nicht zuordnen konnte. Sie rauchten zusammen Marihuana, er steckte seine Pranken unter ihr T-Shirt. Beim dritten Date knöpfte Anna ihm die Hose auf. Sein Penis war ekelhaft groß und biegsam gewesen, gar nicht wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie holte ihm einen runter und ließ sich dabei Sperma auf den Bauch spritzen. Ob das Absicht oder ein Versehen war, versuchte sie nicht herauszubekommen. Sie warf ihre Klamotten später in der Nacht weg und beschloss, den Footballspieler zu vergessen. Sie wollte sich nicht noch einmal bekleckern lassen. Sperma war nicht ihr Ding, das hatte sie gelernt. Zwar hatte der Penis sie neugierig gemacht und sogar ein bisschen erregt, aber der Schleim, den er gespieen hatte, war einfach nur ekelhaft. Einige Mädchen erzählten auf der Schultoilette, dieses Zeug schon einmal geschluckt zu haben, doch bei dieser Vorstellung bekam Anna einen Kotzreiz. Vielleicht änderte sich das mit dem Älterwerden, aber sie war gerade erst fünfzehn und nicht scharf auf weitere Erfahrungen dieser Art.

      Worauf Anna nicht verzichtete, waren die Drogen. An Marihuana zu kommen, war nicht besonders schwierig, und Freunde zu finden, die mit ihr kifften, erst recht nicht. Später traf sie sich mit einem Afro-Amerikaner namens Mathew, der total auf Hip Hop stand und permanent MC Hammer hörte. Das fand Anna irgendwie lustig, weil Linus das auch mochte, die beiden aber sonst absolut keine Gemeinsamkeiten hatten. MC Hammer passte allerdings besser zu Linus als zu Mathew, denn irgendwie wirkte der Rapper ziemlich bieder und viel weniger gefährlich als beispielsweise Public Enemy, Cypress Hill oder Ice-T. Trotzdem stand Mathew ausschließlich auf MC Hammer, obwohl er sich sonst gern benahm wie ein kleiner Gangster, mit Drogen handelte oder auch mal das ein oder andere Portemonnaie klaute. Anna machte da zwar nicht mit, aber aufregend fand sie es trotzdem. Sie war the hot Nazigirl, so nannten Mathews Kumpels sie liebevoll. Weil es gut lief und sie den Status der mysteriösen Deutschen mit den Gangsterfreunden genoss, ließ sie sich weiter auf Mathew ein als geplant. Zweimal schlief sie mit ihm, ohne dabei großen


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