Tankred und die Bergsteiger. Ulf Kramer

Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer


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wurde ihr bewusst, sich in den Händen Wahnsinniger zu befinden. Wer eine Mauer durch ganz Berlin baute, würde auch keine Hemmungen haben, renitenten Westbürgerinnen Schlimmes anzutun – erst recht nicht solange niemand von ihrer Verhaftung wusste.

      Die Frau verließ den Raum. Greta stand auf beiden Füßen, ohne sich anzulehnen. Das Gewicht ihres Körpers manifestierte sich in ihren Fußsohlen und drückte sie fester und fester auf den Boden. Ihr Zeitgefühl hatte sie verlassen. Eine Armbanduhr trug sie nur in der Schule. Sie mochte es nicht, sich von der Zeit verfolgen zu lassen. Ihr Füße begannen zu schmerzen. Sie dachte an den Schlagzeuger mit dem gebrochenen Knöchel. Ob er auch irgendwo in diesem Gebäude in einem der Räume war, auf einem Bein stehend und vor Schmerz heulend? Und was war mit Laurenz? In dem Gewirr im Hinterhof hatte sie ihn nicht mehr gesehen, aber das bedeutete nichts. Sie war höchstens einige Sekunde draußen gewesen, als sie von dem Vopo aufgegriffen worden war. Nach einer endlosen Wartezeit hörte sie draußen vor der Tür Schritte. Inzwischen hatte sich ihr ganzer Oberkörper verkrampft. Sie wagte es kaum zu atmen und musste auf die Toilette. Das grelle Licht schmerzte ihr in den Augen und ihre Knie waren weich wie Pudding.

      Die Tür öffnete sich und herein schob sich die breite, mächtige Gestalt von Josef. Greta benötigte einen Augenblick, um zu begreifen, wer da vor ihr stand. Sie spürte Erleichterung über das bekannte Gesicht, zugleich erschrak sie. Woher wusste er, dass sie hier war? Hatte man ihn verständigt? Oder gehörte er dazu?

      Sie setzten sich an den Tisch. Das Gefühl, nicht mehr stehen zu müssen, war unbeschreiblich, obwohl Gretas ganzer Körper schmerzte.

      »Wie lange habe ich gewartet?«, fragte sie.

      Er musterte sie. »Zwei Stunden.«

      »Ist mir doppelt so lang vorgekommen.«

      »Weißt du, was du hier riskierst, Mädel?«

      Sie schüttelte den Kopf und schaute zu Boden. Am rechten Knie entdeckte sie einen runden Blutfleck im Jeansstoff.

      »Die Deutsche Demokratische Republik ist ein wehrhafter Staat, junge Dame. Auch wenn ihr im Westen das nicht versteht.« Er sprach ganz ruhig, als würde er ihr Matheaufgaben erklären. »Die Stärkung der DDR ist ein elementarer Beitrag zur nationalen Einheit. Der Triumph des Sozialismus ist keine Utopie, sondern eine historische Gesetzmäßigkeit. Erst wenn der Westen das akzeptiert, ist die Einheit unseres Landes möglich.«

      »Hast du dir den Quatsch ausgedacht oder müsst ihr das auswendig lernen?«, murmelte Greta ohne aufzuschauen. Ihre dreiste Antwort erstaunte sie. Vor drei Jahren hatte sie Josef kennengelernt. Damals hatte ihre Mutter Maria sie zum ersten Mal mit nach Leipzig genommen. Greta hatte nie verstanden, was ihre Mutter an dem großen Mann aus der DDR mochte. Ihr war Josef von Anfang an unheimlich vorgekommen, so freundlich er auch stets getan hatte. Sogar als Laurenz und sie ihm gestanden hatten, miteinander zu gehen, war er ruhig und gelassen geblieben. Greta hatte damals instinktiv mit einer anderen Reaktion gerechnet, denn in Josef schien etwas Unberechenbares, vielleicht sogar Animalisches zu wohnen. Zumindest kam es ihr so vor, wenn sie ihn beobachtete, wie er sprach, sich bewegte. Da war etwas, was sie nicht beschreiben konnte und bisher noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Das machte ihr Angst.

      »Nicht ganz. Aber so in etwa hat das der Ulbricht mal gesagt.«

      »Wusste ich’s doch«, sagte sie.

      »Tut es weh?« Er deutete auf ihr Gesicht.

      »Nicht mehr«, log sie.

      Er nickte. »Ich kann verstehen, was Laurenz an dir findet. Ein prima Mädel bist du.«

      Es kostete sie Mühe, nicht aufzuspringen und ihn anzuschreien, er solle sie nicht immer Mädel nennen. »Was passiert jetzt mit Laurenz?«, fragte sie stattdessen.

      Josef atmete laut aus. Er schien sich tatsächlich Sorgen zu machen. »Er ist schon mit den meisten anderen auf dem Weg in die Lausitz.«

      Greta wusste mit der Antwort nichts anzufangen. Lausitz klang in ihren Ohren harmlos, beinahe idyllisch.

      »Zwei Wochen Zwangsarbeit in einer Braunkohlegrube«, erklärte Josef, der Gretas Gedanken zu lesen schien. »Das wird dem Jungen guttun.«

      »Du schickst deinen eigenen Sohn in ein KZ?«, entfuhr es ihr.

      »Wir in der DDR errichten keine KZs. Wir erziehen unsere Kinder. Mein Sohn wird ein Mann werden. Jetzt gerade ist er das, was die Amerikaner Teenager nennen. Eine Marionette und kein Individuum.«

      So ein Unsinn, dachte Greta, schwieg aber. Josef erhob sich.

      »Du kannst gehen. Morgen wirst du mit deiner Mutter die DDR verlassen. Und du wirst vorerst nicht wiederkommen.«

      Sie spürte das Stechen im Magen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das sollte ihre Strafe sein, Josef wollte ihr Laurenz wegnehmen. Er trat an den Tisch und schaute von oben auf sie herab.

      »Deine dekadente Lebensweise tut Laurenz nicht gut. Er hat genug von dem imperialistischen Gift getrunken, das du mit in den Osten bringst.«

      »Ich habe …«

      Sie konnte nicht weitersprechen, denn Josef schlug ihr mit Wucht seine flache Hand ins Gesicht. Sie wurde vom Stuhl geworfen und landete auf dem Boden. Heiße Tränen strömten ihr über das Gesicht. Schwindel erfasste sie. Nur mühsam rappelte sie sich auf. Josef war aus dem Raum verschwunden. Die Tür stand offen.

       1992

      In den Wochen nach unserer Versöhnung dank KIT und Dillinger tauchte Lejla immer öfter ungefragt in meinem Zimmer auf, um sich mit einem Buch in meinem Bett einzunisten, während ich Musik hörte oder dilettantisch auf der alten Gitarre meiner Mutter herumhackte. Manchmal saßen wir mehrere Stunden nebeneinander, ohne uns zu unterhalten oder weiter zu beachten. Schnell wurden diese Nachmittage zu den schönsten der Woche. Sie verschlang die Bücher aus unserer Familiensammlung, als seien sie lebensnotwendige Nahrung für sie, und manchmal, glaube ich, waren sie es wirklich. Ab und zu erzählte sie von Kroatien, von der Farbe des Meeres und dem Duft, der im Frühling überall in der Luft lag. Sie sprach dann ganz leise, als könnte jemand lauschen, für den ihre Worte nicht bestimmt waren. Ich hörte stumm zu und betrachtete sie dabei, ihr zierliches, aber markantes Gesicht, die langen schwarzen Haare, die runden Augen und den sich sanft bewegenden Mund. Manchmal trafen wir uns abends im Kreis der Familie, schauten Filme zusammen, erzählten uns Geschichten, die wir alle ohnehin kannten, oder spielten Risiko, um uns gegenseitig als Kriegstreiber, Imperialisten oder Hitler zu beschimpfen. Ich genoss Lejlas Nähe, egal was wir machten, zugleich konnte ich die Vertrautheit zwischen uns kaum ertragen, weil ich unbedingt mehr wollte, aber nicht wusste, wie ich ihr das zeigen konnte. Sagen durfte ich ihr das selbstverständlich nicht, denn unsere Zweisamkeit war ein brüchiges Konstrukt, das ich nicht gefährden wollte. Also bevorzugte ich die Dinge unausgesprochen zu lassen und akzeptierte, ein grobschlächtiger Teenager zu sein, der bei einer sublimen Lebensform wie Lejla aus Dubrovnik kein Glück haben konnte. Das war so etwas wie Physik. Mädchen wie sie und Jungs wie ich konnten zusammen im Bett kuscheln, aber sie konnten kein Paar werden. Gegen Naturgesetze ließ sich nicht ankommen. Der Mensch konnte nicht schneller reisen als das Licht. Die Sonne würde erlöschen. Alles folgte den Gesetzen der Gravitation. Manchmal sah ich meine Mutter, wie sie uns beobachtete. Geduld, mein Sohn, stand dann in ihren Augen geschrieben, du brauchst Geduld. Sie verstand nichts von Physik.

      Eine erstaunliche Wendung nahm Lejlas und meine fragile Beziehung als mein sonst so spießiger Bruder Linus eines abends in meinem Zimmer auftauchte und mit einem Schlüssel herumfuchtelte. »Den hat der Volltrottel von Andi heute Nachmittag in der Küche vergessen«, rief er fröhlich und zog eine Flasche Wodka hinter dem Rücken hervor. »Und die hat der gute große Bruder eben im Coop gekauft.«

      Linus war nicht unser Freund, aber die Flasche Wodka sehr verlockend. Wir luden Dillinger ein, uns Gesellschaft zu leisten und machten uns auf, um in Andis Plattenladen einzubrechen – beziehungsweise betraten wir ihn ungebeten mithilfe des Schlüssels durch den Hintereingang, der sich gegenüber des Künstlerateliers im Innenhof der Bonner Straße 42 befand. Wir hätten prinzipiell auch zuhause bleiben und dort Musik hören und Wodka trinken


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