Tankred und die Bergsteiger. Ulf Kramer

Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer


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du Tsutomo Yamaguchi?«, fragte sie nach einer Weile.

      Er überlegte, ob es sich bei der Person um jemanden handelte, die im Westen jedes Kind kannte. Würde er sich blamieren, gäbe er sein Unwissen zu? Wollte sie ihn als dummes Ostkind darstellen? »Keine Ahnung. Ich kann mir Namen nicht gut merken.«

      »Letztes Jahr haben wir im Westen alle eine Broschüre bekommen, in der uns erklärt wird, wie wir einen Atombombenangriff unbeschadet überstehen können.«

      »Gar nicht, würde ich sagen«, rief er.

      Sie nickte. »Frag mal Tsutomo Yamaguchi. Von dem wird da berichtet. Der hat sowohl Hiroshima als auch Nagasaki überlebt. Erstaunlich, findest du nicht?«

      »Wer schickt denn in der BRD so einen Mist herum? Die Bild-Zeitung oder wer?«

      »Bundesamt für Zivilschutz. Wir sollen auf einen Angriff von euren Verbündeten aus der Sowjetunion vorbereitet werden.«

      »Und was hast du gelernt? Wegrennen und beten?«

      Greta lächelte und das gefiel Laurenz. »Wer rennt, der stirbt. Hinfallen lassen, Ohren und Augen zuhalten, ein Loch buddeln. Die Hitzewelle einer Atombombe ist zwar mehrere Millionen Grad heiß, reicht Dutzende von Kilometern, aber wirkt nur sehr kurz und nicht in die Tiefe. Eigentlich also kaum gefährlich.«

      Laurenz wusste nicht recht, wie er Gretas Ausführungen einordnen sollte. Machte sie sich über ihn lustig oder kritisierte sie ihre Regierung, die lächerliche Überlebensstrategien verbreitete? »Wie kommst du eigentlich auf diesen Yamaguchi?«

      Sie nippte an ihrem Bier. »Weiß auch nicht so genau. Seit ich regelmäßig hier bei euch drüben bin, nervt mich das irgendwie, dass die Menschen und die Politiker im Speziellen so bescheuert sind. Ich meine, die haben letztes Jahr eine Mauer durch Berlin gebaut und seitdem schießen die auf euch. Das ist doch krank.«

      Sie schien zu allem eine Meinung zu haben. Das verunsicherte Laurenz, zugleich faszinierte es ihn.

      »Ich bin der Sohn von Josef«, sagte er, während die Band ein neues Lied anstimmte, das er nicht kannte.

      Sie schaute skeptisch. »Wie jetzt?«

      Er zuckte unsicher mit den Schultern, da er nicht wusste, wie sie reagieren würde. Vielleicht wollte sie nichts mit dem Sohn des Liebhabers ihrer Mutter zu tun haben.

      »Du meinst Josef Tillinger?«, fragte sie.

      »Richtig. Du wohnst in meinem alten Kinderzimmer, wenn du mit deiner Mutter bei ihm bist.«

      »Hätte nicht gedacht, dass du mich so überraschen würdest«, sagte sie und grinste.

      Zur Verabschiedung knutschen sie, drei Monate später trafen sie sich ein zweites Mal. Bei der dritten Verabredung schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Laurenz schaffte es gerade noch in sie einzudringen, bevor er kam. Ab diesem Moment teilte sich sein Leben in zwei Phase – die Zeit mit Greta und die ohne. Seine Geduld wurde dabei auf eine schwerwiegende Probe gestellt. Jeder Tag ohne Greta erschien ihm verloren. Er interessierte sich für nichts anderes mehr. Der Kalender wurde sein treuster Begleiter, sein Hoffnungsträger und, wenn es noch Monate dauern sollte, bis er Greta wiedersehen konnte, zu seinem ärgsten Feind. Zudem begann er Hass auf die DDR zu entwickeln, auf einen Staat, der ihn zu diesen grausamen Wartezeiten verdammte, weil er es ihm nicht erlaubte, vierhundert Kilometer durch Deutschland zu seiner Freundin zu reisen.

       1984

      Meine Kindheit war geprägt von meiner Mama, meinem Bruder Linus und einigen seltsamen Ereignissen, die ich meistens erst Jahre später einordnen konnte. Ich erinnere mich noch gut an das Ehepaar Popp, das in der Wohnung ein Stock über uns wohnte – bis irgendwann Herr Lörich die Wohnung kaufte und die beiden hinauswarf. Herr Popp war bei einer Versicherung angestellt, sie machte auf Hausfrau, obwohl die beiden gar keine Kinder hatten. Die Frau schaute immer freundlich, begegnete sie uns auf der Treppe, aber sie hatte eine Art an sich, die sie unheimlich wirken ließ. Sie nannte mich manchmal den Bastardjungen. Dabei lächelte sie fröhlich, als machte sie mir ein Kompliment, aber so dumm war ich nicht, zu glauben, die Bezeichnung Bastardjunge sei etwas Positives.

      In der Schule bezeichnete mich niemand als Bastard, aber ohne Vater und mit einer unverheirateten Mutter aufzuwachsen, schien ungewöhnlich genug zu sein, um es wiederholt herauszustellen – allen voran von meiner Klassenlehrerin Frau Neumann, einer inkompetenten Hexe, der rational denkenden Menschen nicht mal ihren Kanarienvogel anvertraut hätten, wären ihnen der miese Charakter dieser Frau bekannt gewesen. Das Prinzip in meiner Grundschule war nicht Liebe und Vertrauen, wie man es sich von seiner ersten Klassenlehrerin wünscht, sondern blanke Angst. Wir waren fünfundzwanzig fehlbare Kinder im ewigen Kampf gegeneinander, vereint nur durch die panische Furcht vor dem Versagen. Trotzdem haben wir Frau Neumann verehrt, denn als kleiner Hosenscheißer klammert man sich an jeden Strohhalm, um den temporären Verlust der Mutter während der Schulzeit zu kompensieren.

      Zum Sommerfest der Grundschule begleitete uns Platten-Andi, einer der besten Freunde meiner Mutter. Er kaufte mir Waffeln und Frau Neumann hinter dem Stand fragte, ob das mein neuer Vater sei. Es würde sie richtig freuen, unsere Familie könnte einen Mann gut vertragen. »Ein echter Junge braucht auch einen echten Kerl als Vaterfigur«, sagte sie lächelnd.

      Ich hatte danach keinen Hunger mehr. Ihr Verhalten wirkte auf ein Kind meines Alters verstörend. Meine Mama kaufte mir einen Luftballon, den wir später mit Gas füllten, eine frankierte und mit unserer Adresse versehenen Postkarte daran befestigten und zum Abschluss der Feier zusammen mit Dutzenden anderer Ballons in den Himmel aufsteigen ließen. Am Ende sollte der gewinnen, der die größte Distanz hinter sich brachte – und dessen Karte zurückgeschickt wurde. Seltsamerweise schaffte es meiner mit Abstand am weitesten, nämlich bis in die DDR, die sich in meiner Vorstellung wirklich am Ende der Welt befand. Ich hätte mich freuen sollen, als die Postkarte mit freundlichen Grüßen von unseren sozialistischen Nachbarn zu uns zurückkam und ich einen Lego-Lastwagen als Preis erhielt. Aber ich ahnte, dass hier etwas nicht stimmte, und als meine Mutter etwas später verkündete, die Familie Deutsch würde bald ihre neuen Freunde im Osten besuchen, wusste ich, warum ich misstrauisch gewesen war. Dank meines Luftballons mussten wir in die DDR reisen und das war wahrlich keine verlockende Aussicht.

      »Alle Dunkeldeutschen sind Spitzel«, erklärte mir Linus, während unsere Mutter uns in den alten Opel Ascona scheuchte, den sie fuhr, seit ich denken konnte. Damals war unser brüderliches Verhältnis noch in Ordnung. Linus war gerade vierzehn geworden und wusste genau, was abging. Ich schaute zu ihm auf und hing an seinen Lippen, die viel und weise sprachen.

      »Was ist ein Spitzel?«, fragte ich wehmütig zurückblickend, als wir die Bonner Straße verließen und am Bahnhof vorbei Richtung Autobahn fuhren.

      »Das sind Menschen, die andere ausspionieren, aber nicht wie James Bond, der das für die Freiheit tut, sondern genau umgekehrt, um die Menschen besser einsperren zu können.«

      Selbstverständlich gehörte James Bond zu meinen Helden, erst recht nachdem ich heimlich mit Linus Moonraker im Fernsehen geschaut hatte. Tagelang hatte ich an nichts anderes als das hässliche Monster mit den Metallzähnen denken können. Noch mehr Angst hatte ich nur vor den Kommunisten. So absurd es sein mochte, ich war mir sicher, die Welt im Osten hinter der Grenze wäre schwarzweiß statt bunt, die Luft röche modrig und es wäre eiskalt. Linus’ Einflüsterungen funktionierten.

      »Bei uns im Westen wird es auch immer schlimmer«, behauptete er, kurz nachdem wir Kassel hinter uns gelassen hatten. »Letztes Jahr sind die Grünen in den Bundestag gewählt worden. Das ist eine Partei voller Durchgeknallter.«

      »Red doch nicht so einen Stuss«, sagte meine Mutter und ich wusste, dass sie mit den Augen rollte, obwohl ich das von der Rücksitzbank aus nicht sehen konnte.

      »Das sind gefährliche Superspinner«, beharrte Linus auf seinem Standpunkt. »Die wollen, dass wir Männer alle lange Haare tragen wie damals die Hippies, Fleischessen verbieten und Atomkraft auch. Dann steigen die Preise für Elektrizität so stark an, dass normale Menschen wie wir nur noch drei Stunden am Tag Licht machen oder fernsehen können. Das


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