Tankred und die Bergsteiger. Ulf Kramer

Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer


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du auch Kuchen?«

      »Ich bin schon acht.«

      »Donkred. Ich bin drei«, krähte Katrin.

      Sie konnte für ihr Alter schon gut sprechen, auf jeden Fall besser als meine Schwester Anna und die war ein Jahr älter als sie. Dann bewarf ich Katrin aus Spaß mit Sand, aber sie lachte nur, als wäre es das Schönste, was ihr seit langer Zeit widerfahren war. Ich backte einen Kuchen und zwar auf ihrem Kopf. Sie quietschte vor Glück und bewarf mich ihrerseits mit Sand.

      »Donkred. Du auch Kuchen auf den Kopf.«

      Das ging noch eine ganze Weile so weiter, bis wir endlich wieder zum Essen gerufen wurden. Katrins Oma hatte gekocht und es schmeckte zu meiner Überraschung fast wie bei uns im Westen. Überhaupt haben wir in der DDR unheimlich viel gegessen. Das war schon ein wenig verrückt, denn ich hatte damit gerechnet, in einer schwarzweißen Welt Graubrot mit Wasser vorgesetzt zu bekommen. Abgesehen von der Cola und dem Eis war es aber ganz anders, auch wenn ich auf viele der gewohnten Produkte von zuhause verzichten musste. Mich störte das weniger als Linus, der zum Frühstück sein geliebtes Nutella vermisste. Als Ersatz bot ihm Herr Tillinger Nudossi aus dem Kombinat Elbflorenz an, aber nach den schlechten Erfahrungen mit Club-Cola und dem Softeis – Linus hat es sich im Gegensatz zu mir komplett hinuntergewürgt –, begnügte er sich mit selbst gemachter Zwetschgenmarmelade.

      Am nächsten Morgen unternahmen die Erwachsenen, Linus, Dieter und Anna einen Ausflug irgendwohin. Weil ich nicht mehr ins Auto passte, ließen sie mich kaltblütig bei der bekloppten Katrin und ihren Eltern zurück. Einerseits traf mich diese Zurückweisung, andererseits war ich erleichtert, nicht schon wieder zu langweiligen DDR-Sehenswürdigkeiten wie Wälder oder hässliche Städte gefahren zu werden. Da spielte ich lieber mit Katrin.

      Wir waren gerade damit beschäftigt, Äste von einem Baum abzubrechen, um daraus Schwerter zu bauen, als eine Frau auf uns zukam. Sie lächelte eigenartig und irgendwie machte mich das nervös, weil ich mich von Fremden fern halten sollte. Auf der anderen Seite hatte mich meine Mutter bei Fremden zurückgelassen, also schien die Regel in der DDR nicht so eng ausgelegt zu werden wie bei uns zuhause.

      »Bist du aus dem Westen?«, fragte mich die Frau.

      Ich nickte schüchtern. Sie war etwa im Alter meiner Mutter, trug aber eine hässliche Frisur mit einem schiefen Pony und eine graue Jacke, die mich an eine Pferdedecke erinnerte.

      »Und ihr seid zu Besuch bei den Tillingers?«

      Ich nickte erneut und zog Rinde von dem Ast, den ich in der Hand hielt. Ich traute mich nicht, die Frau anzugucken, während sie mit mir sprach.

      »Und was macht ihr da?«

      »Wir haben einen Luftballon steigen lassen«, sagte ich leise und ließ Rinde zu Boden fallen. »Deshalb sind wir hier.«

      »Wie ist denn dein Name?«

      »Das ist Donkred«, rief Katrin.

      Die Frau schaute mich von oben herab an. »Und wie heißt du weiter, Donkred?«

      »Ich heiße ja gar nicht Donkred. Und mein Nachname ist Deutsch.«

      Sie sog die Luft zischend ein. »Dann spielt mal weiter. Kannst ja deinen Freunden im Westen erzählen, wie schön das Kinderleben in der DDR ist.«

      Das tat ich nicht, denn allein die Erinnerung an die widerliche Ostcola ließ mich auch Monate nach unserem lebensmüden Ausflug nach Dunkeldeutschland erschaudern. Ich profitierte davon, auf der richtigen Seite der Mauer geboren zu sein, und schwor mir, dankbar zu sein – wem auch immer. Wir hatten hier alles: cooles Fernsehen, schmackhaftes Eis, Pizza, das A-Team, Felix Magath, Demokratie und eine super Partei namens CDU.

       Dieter

      Seine Mutter verließ sie, als er sieben war. In diesem Alter versteht ein Kind schon viel, aber nicht genug, um sich erklären zu können, was der Vater meint, nennt er seine eigene Frau Hure des verdammten Staates und Spitzelsau. Dementsprechend verbrachte Dieter große Teile seines achten Lebensjahres heulend in seinem Zimmer – alles gut abgehört von der Stasi, aber davon wusste er nichts. Ob seine Mutter ebenfalls weinte, während sie über das winzige Mikrofon im Flur sein Schluchzen vernahm, ist zumindest nicht ausgeschlossen. Sie blieb seine Mutter, obwohl sie sich gegen die Familie und für ihr Vaterland entschieden hatte.

      Zwei Jahre später brachte sein Vater ihn nach Berlin. Er parkte den Trabant in einem engen Innenhof irgendwo in der Stadt und führte ihn in eine feuchte Halle einer Autowerkstatt. Zwischen Ersatzteilen und alten Autos warteten drei Männer und Greta. Sie war vor einigen Monaten mit ihren blöden Westkindern Tankred, Linus und Anna bei ihnen in Eisenach zu Besuch gewesen. Verzogene Gören, die sich etwas auf ihre Klamotten von angesagten Marken und ihr tolles Westspielzeug eingebildet hatten. Greta lächelte ihn an. Er schaute demonstrativ an ihr vorbei. Dabei fiel sein Blick auf die drei Männer. Zwei von ihnen steckten in ölverschmierten Blaumänner, der dritte schien ebenfalls aus dem Westen zu stammen. Er trug einen weiten Anzug und eine Frisur, die Dieter aus amerikanischen Vorabendserien in der ARD kannte. Die anderen nannten ihn Gideon. Ein seltsamer Name, den Dieter noch nie gehört hatte. Vermutlich gehörte ihm der riesige, silberne BMW in der Mitte der Werkhalle.

      Die Erwachsenen begannen aufgeregt miteinander zu reden. Er starrte betreten auf seine grauen Zeha-Sportschuhe, die ihm seine Mutter vor einigen Wochen gekauft hatte. Jedesmal wenn sie sich trafen, bekam er ein Geschenk von ihr. Meistens wusste er damit nichts anzufangen. Er wollte keine Dinge, er wollte eine Mama, die von seinem Papa nicht verachtet wurde. Aber das würde ein unerfüllter Traum bleiben.

      Sein Vater trat zu ihm, nahm ihn in den Arm und begann, auf ihn einzureden. Dieter nahm kaum etwas von dem Wortschwall wahr. Tapferkeit, Mut, Disziplin. Das war es, was er aufschnappte. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, bevor er von einem der Männer mit Blaumann unter das Auto geschoben und dort in einen schmalen Hohlraum zwischen Innen- und Motorraum des BMWs buxiert wurde. Es roch nach Benzin, war dunkel und eng. »Wenn sie dich finden, muss ich ins Gefängnis, mein Junge«, rief sein Vater, bevor von unten der Eingang in das Versteck durch die Blechplatte verschlossen wurde.

      Dieter versuchte sich zu beruhigen. Sein Herz raste, er spürte seine volle Blase und dachte an die letzten Worte seines Vaters. Stumm ließ er alles über sich ergehen und wischte sich die Tränen aus den Augen. Der Motor brummte laut in seinem Rücken, als sie anfuhren und auf die Straße bogen. Er spürte die Vibration des groben Straßenpflasters und versuchte sich mit den Armen abzustützen, um die Schläge abzufedern. Dieter verstand mit seinen elf Jahren nicht viel von Politik. Er konnte nicht beurteilen, warum es diese Mauer gab, ob sie die Menschen in der DDR schützte oder einsperrte, man sie besser eingerissen oder doch vielleicht höher gebaut hätte. Die Erwachsenen sprachen nicht viel über solche Sachen, weil sie Angst zu haben schienen. Aber in Dieter wuchs mit jeder Minute, die er in dieser elenden Blechbüchse klemmte, die Überzeugung, dass hier etwas ganz gewaltig falsch lief, denn wenn man wirklich kleine Kinder wie ihn unter solchen Bedingungen von einem Teil Deutschlands in einen anderen transportierte, obwohl man eigentlich nur ein paar Meter über die Straße hätte laufen müssen, dann war die Welt aus den Fugen geraten. Von Normalität konnte da keine Rede mehr sein. Und einen Sinn vermutete Dieter hinter dem Zirkus, den die Erwachsenen hier veranstalteten, erst recht nicht.

      Nach einer halben Ewigkeit hielt der Wagen an. Dieter hörte Stimmen und zweimal ein Klopfen, bevor sie weiterrollten. Bei der nächsten Bodenwelle entleerte sich seine Blase. Er spürte die warme Flüssigkeit zwischen seinen Beinen und die kalten Tränen auf den Wangen. Der BMW stoppte ein weiteres Mal. Draußen unterhielten sich Männer, Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen.

      »Sie verlieren Flüssigkeit«, sagte ein Mann.

      »Wahrscheinlich Kühlwasser«, hörte Dieter jemand anderes rufen. »Danke für den Hinweis.«

      »Keine Ursache«, antwortete der erste und lachte. »Nicht, dass ihr toller Westwagen ausgerechnet bei uns an der Grenze seinen Geist aufgibt.«

      Erneut schlug eine Tür. Sie fuhren nun schneller und es ruckelte weniger. In seinem Versteck wurde es wärmer und er spürte einen Schweißfilm auf seiner


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