Wie tief kann ein Engel fallen? Teil 1 und 2: Zwei Romane: Redlight Street 64/65 Doppelband. G. S. Friebel
du sie berührst, dann ...«
»Ich weiß schon, ich weiß schon. Hast du mir eben schon mal gesagt. Keine Sorge, ich kann mich noch im Zaume halten. Das kommt später. Ich mach mir doch nicht mein eigenes Geschäft kaputt.«
Roger ging zur Tür.
»Vielleicht ist deine Idee gar nicht so schlecht«, murmelte er. »Ich muss nur sehen, dass ich richtiges Material bekomme. Dann könnten wir vielleicht ganz groß ins Geschäft kommen und den anderen Konkurrenz bieten.«
»Jetzt fällt sogar bei meinem Brüderchen der Groschen«, grinste Elvira.
5
Die Tür war ins Schloss gefallen. Elvira und Helga waren allein in der Wohnung. Sie genehmigte sich noch einen Drink, dann drückte sie die Zigarette aus und durchquerte den Salon. Als sie vor Helgas Tür stand, klopfte sie leise an.
»Ja bitte«, hörte sie die übereifrige Stimme.
Als sie das Zimmer betrat, sah sie die Kleine vor dem Schreibtisch sitzen.
Aber sie schrieb nicht.
»So etwas habe ich mir schon immer gewünscht«, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln und stand hastig auf.
Elvira ging näher und nahm sie jetzt gründlich in Augenschein. Obwohl sie jetzt noch sehr einfach und dümmlich wirkte, so merkte sie doch, dass man aus diesem Typ eine Menge machen konnte – mit dem entsprechendem Fingerspitzengefühl.
»Bei euch zu Hause war Luxus wohl verboten, wie?«
»Ja«, sagte Helga schnell. »Alles, was ein bisschen anders aussah, das durfte ich nicht. Was sollen denn die Nachbarn denken? Das war die ständige Ausrede meiner Eltern.«
»Jetzt wird ja alles ganz anders«, sagte Elvira. »Wenn du willst, natürlich.«
»Wenn ich will? O du mein Gott, ich habe immer davon geträumt, von zu Hause fortzugehen. Dort ist es grässlich. Aber hier?« Sie sah sich mit leuchtenden Augen um. »Ich kann es noch immer nicht glauben. Wirklich, es ist wie im Traum. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie keine Unwürdige in Ihr Haus aufgenommen haben.«
»Moment mal«, sagte Elvira überrascht. »Was, um Gottes willen willst du denn tun?« Blitzschnell überlegte sie: Roger hat doch gesagt, sie ist vollkommen unschuldig; und jetzt spricht sie, als wüsste sie schon über alles Bescheid.
»Ich soll doch putzen«, sagte Helga. »Das hat Ihr Bruder mir gesagt, wissen Sie? Etwas anderes kann ich ja noch nicht.«
»Putzen?« Elvira lachte herzlich auf. »Aber Kindchen, dafür bist du ja viel zu schön! Aber nein, das war doch nur ein Scherz von meinem Bruder.«
Helga riss die Augen auf.
»Was?«, flüsterte sie.
»Zum Putzen haben wir unsere alte Schräder. Nein, du wirst dir deine zarten Fingerchen nicht schmutzig machen.«
So hatte noch nie jemand zu ihr gesprochen. Das ging wie Butter runter. Ihr war richtig schwindelig.
Elvira ließ sie gar nicht zur Besinnung kommen.
»Mein Bruder hat mir gesagt, du hast nichts mitgenommen?«
»Nein, leider nicht.«
»Nun, wir haben ja so ungefähr die gleiche Figur. Da werden wir schon etwas finden, zumindest für die Nacht. Morgen werden wir dann weitersehen. Komm mal mit, wir sehen gleich bei mir nach, damit du Wäsche, Nachthemd und einen Morgenrock hast.«
»Ja, aber«, stotterte Helga, »ich möchte Ihnen wirklich nichts fortnehmen.«
So einfach wie sie aufgewachsen war, da hatte es keine doppelten Dinge im Haushalt gegeben. Jeder hatte einen dürftigen Morgenmantel, und der musste für viele Jahre reichen. Neulich noch hatte Helga zu ihrer Mutter gesagt, sie brauche unbedingt einen neuen, ihrer sei schon viel zu klein und zu eng. Da hatte die Mutter doch wirklich gesagt: »Das ist doch wirklich Verschwendung! Du bist jetzt schon siebzehn Jahre alt. In ein, zwei Jahren heiratest du bestimmt, wenn du nicht eine Jungfer bleiben willst. Da kriegst du dann einen schönen neuen Morgenrock, wie es sich für eine junge Frau gehört. Außerdem brauchst du ihn dann auch für das Krankenhaus!«
»Für welches Krankenhaus?«, hatte sie erstaunt gefragt.
»Na, wenn du ein Kind kriegst, dann gehst du doch ins Krankenhaus. So was macht man nicht mehr zu Hause.«
Helga hatte damals nur ganz dumm die Mutter angesehen, und dann war ein Würgen in ihrer Kehle gewesen. Man sprach so kalt, so gleichgültig von dem Leben und der Ehe und der Liebe. Sie hatte so viele Bücher verschlungen, und überall stand zu lesen, wie wundervoll die Liebe sei. So ganz anders, als es die Eltern darstellten.
Damals hatte sie gedacht: Vielleicht bin ich gar nicht ihr Kind. Vielleicht hat man mich damals in der Klinik vertauscht? Vielleicht sind meine wirklichen Eltern reich und vornehm. Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen. An allem störte sie sich: an der Sprache, an den groben Tischsitten, an allem. Sie war für das Feine und Nette, das Freundliche, Herzliche. Mit dieser Sehnsucht im Herzen in so einem rüden Haushalt leben zu müssen, sich auch noch unterzuordnen, da fühlte man sich ständig gedemütigt und gequält.
Natürlich wurde sie ständig aufgezogen und gehänselt. Man war auch wütend darüber, dass sie so viel las. Über alles mokierte man sich. Nichts konnte sie ihnen recht machen, und wenn sie dann wirklich mal sagte: »Man isst Fleisch mit Messer und Gabel«, dann sah der Vater sie nur schräg an und sagte: »Lass mich in Ruhe, sei keine Zimperliese. Das ist ja nicht mehr zum Aushalten mit dir!«
»Ja ja!«, rief dann Eva dazwischen, die auch nicht viel gelernt hatte, »das kommt von dem vielen Schmökern. Sie soll lieber kochen und putzen lernen. Aber dazu ist Fräulein Prinzessin zu vornehm.«
In diesem Augenblick merkte sie erst, wie sehr sie ihre Familie hasste. Sie betete diese wundervolle Frau an. Einfach herrlich war sie!
Elvira hatte ein ähnliches Zimmer wie Helga, nur noch etwas größer und pompöser. Aber sonst glichen sie sich, was Möbel und Teppiche betraf.
Sie ging jetzt zu dem siebentürigen Schrank und öffnete all seine Türen. Helga hielt die Luft an.
»Sind das alles Ihre Kleider?«
»Aber ja doch!«, lachte Elvira. »Ich trag sie nur eine kurze Zeit, und dann werf’ ich sie fort. Die Mode ändert sich ja so schnell. Komm her, hier sind die Morgenröcke. Warte mal, dieser würde dir stehen. Du bist ja jünger als ich, und da muss man deine Jugendlichkeit herausstreichen. Das ist sehr wichtig, Kleines.«
Sie holte einen Traum von Morgenmantel aus dem Schrank. Er war schneeweiß, mit Federn um den Hals. Ganz zart und wie Spinnweben umschmeichelten sie den kleinen Kragen. Auch um die Ärmel, wie unten um den Saum, waren die Federn angenäht.
Helga sagte keuchend: »Ist das wirklich ein Morgenmantel?«
»Aber ja doch, wenn ich dir das sage!«
»Und den soll ich tragen?«
»Ich schenke ihn dir.«
Helga schluckte. »Aber das kann ich doch nicht annehmen. Der ist doch viel zu kostbar für mich.«
»Komm schon«, sagte Elvira. »Mach jetzt keine Zicken. Zieh den Mantel an. Wenn ich dir sage, er gehört dir, dann gehört er dir. Später brauchst du natürlich keine abgetragenen Sachen zu nehmen. Dann kannst du selbst einkaufen.«
Helga stand wie verzaubert vor dem bodenlangen Spiegel und hielt sich den Mantel vor.
»Los, zieh deine Klamotten aus! Jetzt wollen wir mal sehen, ob er dir wirklich steht.«
Gehorsam schlüpfte sie aus dem Sommerkleidchen. Jetzt stand sie in ihrer billigen Unterwäsche vor der eleganten Elvira. Diese rümpfte die Nase. Wirklich, die kam ja aus der tiefsten Provinz!
»Zieh den Plunder auch aus«, sagte sie herrisch.
Helga