Wild. Ella Blix
bassig und ein bisschen zu laut. »Ich bin für alles zuständig, was mit der Projektarbeit verbunden ist. Mit mir werdet ihr die zwei letzten Blockhäuser wieder herrichten.« Er deutete auf die zwei Ruinen, in denen die Natur es sich gemütlich gemacht hatte. »In sechs Wochen, wenn ihr als gestärkte Menschen das Camp verlasst, sollen die so aussehen, wie die, in denen ihr jetzt wohnt.«
Haha. Gunnar schien ein ausgemachter Optimist zu sein. Hatte er sich ihre Gruppe mal angeschaut? Ein Schönling, ein Schweiger, ein wandelnder Schmuckladen und … na ja, sie selbst.
»Ich weiß! Sieht nach viel Arbeit aus, ist es auch, aber die Gruppe vom letzten Sommer hat sogar drei Hütten restauriert. Und das, obwohl die Umstände viel weniger komfortabel waren als heute.«
Komfortabel? Kompostklos, kein Strom und Gruppenduschen. Nicht dass es eine Rolle spielen würde. Anders als die anderen musste sie nicht stärker werden oder ihren Blick ändern. Ihr Blick war bereits klar.
»Letztes Jahr hat die Gruppe im Haupthaus schlafen müssen.« Er lächelte und alle Falten in seinem Gesicht lächelten mit. »Geschafft haben sie es trotzdem. Es ist machbar und wir werden dabei Spaß haben, versprochen. Außerdem habt ihr einen Joker! Lara hilft nämlich mit. Und Lara ist eine Maschine.«
»Vati!« Das schwedenblonde Klettermädchen verdrehte die Augen.
Vati? Sie war keine von ihnen?
»Voll der Familienbetrieb!«, frotzelte der Modeljunge.
»Leider nicht«, antwortete Gunnar. »Lara weigert sich hartnäckig, in meine Fußstapfen zu treten und Zimmerin zu werden. Stattdessen studiert sie Medi…«
Noomi bemerkte aus dem Augenwinkel eine hüpfende Bewegung links von Ryans Fuß und dann ging alles ganz schnell.
»Hal-lo?« Joreks Stimme, Joreks scharfer Blick. Beides auf sie, Noomi, gerichtet.
»Alter, von dir können wir noch was lernen!« Der schöne Junge lachte trocken. »Zeigst du mir später den Trick?«
»Mir auch!«, bat Olympe. »Solche Reaktionen hätte ich auch gern – das wär Hammer fürs Gamen. Du warst so schnell, ich hab nicht mal mitgekriegt, wie du aufgesprungen bist. Aber was genau …« Olympe deutete auf ihre Hand.
Sie beäugte ebenfalls ihre rechte Hand. Die schwebte in der Luft und hielt etwas Zappelndes. Es war kalt und … es lebte.
O nein. Es war schon wieder passiert!
Verstört ließ sie los. Der kleine Frosch plumpste auf den Boden und sprang um sein Leben, fort von ihr. Sie sah ihm nach, ähnlich irritiert wie die anderen.
Schließlich begann Lara zu klatschen. »Gute Showeinlage. Können wir jetzt bitte zurück zum Thema kommen? – Ich war gerade dabei, mich vorzustellen.«
»Sorry«, nuschelte sie. »Ich … ähm …«
Während sie sich unauffällig die Hand an den Shorts abwischte und die anderen ihre Aufmerksamkeit wieder Lara zuwandten, spürte Noomi noch lange Joreks Blick auf sich brennen. Sie musste wirklich besser aufpassen.
»Was mein Vater sagen wollte«, ergriff Lara wichtigtuerisch das Wort, »ist, dass ich quasi in seinem Zimmereibetrieb aufgewachsen bin, aber mich für ein Medizinstudium entschieden hab.« Ihr weißblondes Haar glänzte, als wäre es aus Licht. »Und weil ihr wieder nur vier seid wie im letzten Jahr, hat er mich überredet, die letzten zwei Semesterwochen zu schwänzen und noch mal mitzumachen. Mit mir geht’s schneller und besser, ganz einfach, weil ich weiß, wie’s läuft, und ihr nicht.« Wenn das ein Witz sein sollte, misslang er gründlich. Aber immerhin lenkte Lara mit ihrer Angeberei von dem Zwischenfall mit dem Frosch ab. »Ohne mich kommt ihr jedenfalls auf keinen grünen Zweig. Ich bin euer Ass im Ärmel.«
Falls sie versuchte, Jorek den Rang für das unsympathischste Teammitglied abzulaufen, war sie mit dieser Selbstbeweihräucherung auf dem besten Weg. Nur weil ihr Vater sie für den Nabel der Welt hielt, hatte Lara sich offenbar eingeredet, dass sie der Nabel der Welt war. Sie thronte auf ihrem Baumstumpf und verschränkte die braun gebrannten Arme vor der Brust, so fest, dass sich ihre Bi-, Tri- und sonstige Zepse deutlich abzeichneten.
»Was meine Tochter euch auf ihre bescheidene Art zu sagen versucht, ist: Sie ist meine rechte Hand und ihr alle werdet meine linke sein.«
Wie konnte ein Mann mit derart positiver Ausstrahlung eine so unangenehme Tochter haben? Wobei – umgekehrt kam es auch oft genug vor.
»Das war’s erst mal von uns beiden.«
Jorek, die endlich den scharfen Blick von ihr genommen hatte, wies auf den Modeljungen. »Erzähl mal ein bisschen was zu dir und warum du hier bist.«
Alle Aufmerksamkeit flog zu dem Jungen.
Gute Frage, dachte sie, was macht jemand wie du hier? Hast du Heidi Klum gestalkt? Oder sie dich?
»Ich … ähm … ich bin Flix.« Er machte eine angedeutete Verbeugung in die Runde.
»Nicht dein Ernst!«, rutschte es ihr heraus. »Ist das dein richtiger Name?
»Ähm … fast. Eigentlich heiß ich Felix, aber so nennt mich keiner. Ich mag das auch nicht. Wegen … ähm …«
»… dem Hasen.« Olympe lachte.
Der Junge sah Olympe an und Olympe ihn. Einen Moment lang schien es, als würden Sonnenpunkte auf den Boden rieseln. Schließlich zwinkerte er. »Ja, der Scheißhase … Jedenfalls … ich komm aus Berlin. Aus Mitte. Und ich bin siebzehn. Hier bin ich, weil ich …« Er löste den Blick von Olympe und hypnotisierte stattdessen den Wald hinter ihr. »Na ja … ich bin ein bisschen zu schnell gefahren.«
Zu schnell gefahren? Dafür landete man nicht in einer Maßnahme wie dieser. Es musste eine Metapher sein, eine Art Geheimcode … Für Drogen vielleicht? In der Art: Ich hab Speed genommen – ich bin zu schnell gefahren?
»So kann man’s natürlich auch nennen«, kommentierte Jorek trocken. »Aber für den Moment lass ich es gelten.«
Sie ließ ihm das durchgehen? Das konnte sie doch nicht machen! Das Ziel dieser Vorstellungsrunde war ja wohl, dass sie wussten, mit wem sie es hier sechs Wochen lang zu tun hatten. Sie selbst musste jedenfalls wissen, ob sich hinter dem männlichen Jungmodel ein Junkie verbarg. Das war wichtig. Alles war wichtig! Jedes Detail. Ihre Mission beruhte darauf, dass sie exakte Informationen sammelte.
Aber ehe sie nachhaken konnte, wies Jorek bereits auf Olympe. »Jetzt du.«
Olympe, das hatte sie schon festgestellt, war ein Wasserhahn. Wenn man die aufdrehte, flossen Worte. Und richtig, es ging schon los.
»Hallihallo, ich bin Olympe.« Sie winkte! Mit beiden Händen! Ihre zahllosen Ringe funkelten im Sonnenlicht. »Ich komm auch aus Berlin.« Sie nickte dem Schönling Flix zu. »Aber aus Spandau. Ich bin fünfzehn und bin hier, weil ich … Also ehrlich, ich find’s ein bisschen übertrieben. Ich meine – ich wollte nur wissen, ob es geht. Und es ging. Yeah. Aber dann? Drama! Himmel, das ist doch nicht meine Schuld, dass die sich nicht ordentlich absichern! Wenn man die Tür auflässt, muss man sich doch nicht wundern, dass jemand reinkommt, oder? Aber nee – plötzlich sind alle übelst ausgeflippt.«
Nicht genug, dass Olympe viel und schnell redete, sie hatte auch noch die Angewohnheit, bestimmte Worte zu betonen und dabei vollkommen unpassende Gänsefüßchen in die Luft zu zeichnen. Die war völlig überdreht! Wie sollte sie es sechs Wochen mit der aushalten? In einer engen Hütte?
»Dabei hab ich denen geholfen«, sprudelte der Wasserhahn weiter. »Die sollten dankbar sein, dass ich sie auf diese Lücke aufmerksam gemacht hab! Ehrlich, eigentlich müssten sie mir ein Denkmal bauen.«
Wovon sprach die? Von den funkelnden Gänsefüßchen in der Luft war sie ganz wirr im Kopf. Wie konnte man so viel reden und gleichzeitig nichts preisgeben?
»Aber stattdessen? Katastrophenstimmung. Befragungen. Sogar Headhunting.« Gänsefüßchen.