Wild. Ella Blix

Wild - Ella Blix


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Wasserhahn abdrehen? Sie warf Jorek einen flehenden Blick zu, aber die Campleiterin hatte ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Olympe gerichtet. Die holte Luft und ein neuer Wortschwall schwappte aus ihr heraus.

      Noomi gab auf. Sie flüchtete vor dem Geplapper, zog sich in ihr Inneres zurück. Dahin, wo es still war. Dachte an das schwarze Loch in ihrem Leben.

      »Wo bist du gewesen, Noomi?«, hatten sie gefragt. Immer wieder. Die Polizei, ihre Eltern, ihre Lehrer. »Sag uns endlich, wo!«

      Sie hatte keine Antwort gehabt.

      Fast einen Tag und eine Nacht war sie verschwunden gewesen – letztes Jahr, während eines Ausflugs im Ferienlager, einfach weg. Alles, woran sie sich erinnerte, war der Ort, an dem sie wieder zu sich gekommen war. Aber an den wollte sie jetzt nicht denken.

      »Wo?«

      Wenn sie versuchte, sich zu erinnern, war ihr, als ginge sie einen Pfad entlang und stürzte übergangslos in eine Fallgrube. Nur manchmal, in Träumen, wehten Erinnerungsfetzen von ganz unten nach ganz oben.

      Als erster Fetzen kam immer der Geruch nach Blut.

      Jedes Mal versuchte sie, ihn zu ignorieren und sich stattdessen auf die Bilder zu konzentrieren, die danach auftauchten, Bilder, die sie nicht verstand: Nebelnester in einem Tal, Fledermäuse, die durchs Dunkel huschten. Bizarre Schatten von Felsen im Mondlicht, knorrige Äste. Das Fauchen einer Wildkatze. Sie schmeckte Chili auf der Zunge, Chili im Rachenraum, und sie hörte einen lang gezogenen Schrei, der hoch und seltsam klang, nicht menschlich. Sie verstand das alles nicht.

      »Wo?«

      Am nächsten Tag war sie gefunden worden. Ihr Kopf hatte so gedröhnt, dass sie dachte, sie müsste sterben. Ihre Augen – sie hatte sie kaum öffnen, kaum etwas sehen können, so sehr hatte das Licht hineingestochen. Ihr Mund – wie Staub. Und Blut an ihren Händen. Das viele Blut.

      Sie hatten die falsche Frage gestellt.

      Die Frage war nicht, wo sie gewesen, sondern wie sie dorthin gekommen war. Wer ihr das angetan hatte. Und wie.

      Die Frage war: Was. War. Passiert?

      »Also eben in der Hütte konnte sie noch sprechen!« Olympes Stimme drang an ihr Ohr.

      Sie schrak auf, blinzelte und stellte fest, dass alle sie anstarrten. Schon wieder. »Ah, sorry. … Was?« Sie hatte sich unauffällig in die Gruppe einschmiegen wollen, und das war alles andere als unauffällig.

      »Ich hab gefragt, ob du stumm bist«, erklärte Flix freundlich. »Und warum du so krasse Kontaktlinsen trägst.«

      »Und ich hatte dich gebeten, dich mal vorzustellen«, fügte Jorek hinzu. Wieder dieser Blick, zudringlich wie ein Bohrer. Jorek war misstrauisch. Genau wie die Polizei damals, ihre Mitschüler … ihre Eltern …

      »Ja klar«, stotterte sie. Sei normal. Sei entspannt. Sei wie die anderen. »Ich heiße Noomi. Ich komme auch aus Berlin. Aus Marzahn. Ich bin fünfzehn, genau wie Olympe …« Sie nickte dem Wasserhahn zu. »Und das sind keine Kontaktlinsen«, wandte sie sich an Flix. Dann fügte sie mit Blick auf Jorek, Ryan, Gunnar und Lara hinzu: »Ich … ich bin hier, weil sie mich erwischt haben, als ich das Schaufenster von einem Juwelier eingeschlagen hab. Mit einem Baseballschläger.«

      »Wie bitte?«, japste Olympe.

      »Alter!« War das Anerkennung in Flix’ Stimme?

      Ryan sagte nichts, aber er schaute sie an, als hätte sie den Schläger noch in der Hand.

      In dem Moment fiel ihr auf, dass keiner der anderen wirklich erzählt hatte, was er getan hatte. Aus Flix’ und Olympes Drumherumgerede war sie jedenfalls nicht schlau geworden. Und Ryan? Der hatte nur »Ich bin Ryan, komm aus Berlin-Pankow und bin vierzehn Jahre alt« geflüstert und dabei auf den Boden gesehen. Das war’s. Jorek schien mit zweierlei Maß zu messen. Kein schneidender Blick wie bei ihr, keine Nachfragen. Warum hatte sie Ryan so schnell vom Haken gelassen? Sie nahm sich vor, auch das herauszufinden. Später.

      »Tja, so sieht’s aus.« Betont freundlich lächelte sie in die Runde. »Ich bin also wegen versuchten Raubs hier.«

      »Alter«, wiederholte Flix.

      »Gut, dass sie unsere Portemonnaies auch gleich einkassiert haben, was?« Egal, wie viel Mühe Olympe sich gab, sie zu provozieren, sie würde keinen Stress riskieren.

      »Raub, echt jetzt?« Noch mal Flix. Der Typ mochte schön sein, besonders schnell war er nicht.

      Ryans Blick ließ von ihr ab und suchte wieder den Boden.

      Erstaunlich, dachte sie, wie leicht es ist, so etwas auszusprechen: Baseballschläger. Juwelier. Versuchter Raub.

      So leicht.

      Es war immer leichter, Dinge zu sagen, die nicht wahr waren. Oder nur zur Hälfte. Sie hatte den Laden nämlich nicht ausrauben wollen. Aber sie hatte verurteilt werden wollen. Zu Arbeitsstunden in diesem Resozialisierungscamp. Und jetzt war sie hier, bei Feel Nature, und sie würde nicht lockerlassen, bevor sie nicht alle Antworten hatte.

      Sofort nach der »Willkommensrunde« sprang sie auf und rannte in den Waschraum. Warf die Klamotten auf einen Plastikstapelstuhl, der dort einsam herumstand, und stellte sich unter die Dusche.

      Sie musste allein sein, über die Bilder nachdenken, die sie schon so lang verfolgten und eben wieder eingeholt hatten.

      Das Wasser lief prasselnd über ihren Kopf, wusch diese dumme Sitzung ab, ihr aufgesetztes Lächeln, die Gesichter der anderen, alles, bis sie klar denken konnte.

      Die Bilder blieben.

      Die Erinnerungsfetzen, die immer wieder unerwartet auftauchten. Seit dem Tag, der ein tiefes Loch in ihr Hirn gestanzt hatte, in das ihre Erinnerung hineingefallen war.

      Ihr Verschwinden aus dem Ferienlager. Ihr Erwachen. Die endlosen Fragen der Polizei. Ihre Antworten. Die Fakten. Nichts hatte zusammengepasst, nichts! Die Leere in ihrem Kopf …

      Seither träumte sie. Nachtträume. Tagträume. Und alle begannen mit dem Geruch von Blut.

      Sonderbarerweise machten ihr die Träume keine Angst. Auch der Geruch ekelte sie nicht. Im Gegenteil: Er ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen; es war der köstliche Geruch eines fein geäderten roten Flusses, der dicht unter der Haut entlanglief. Pochte. Warme Kurven nahm. Sie träumte diesen Geruch. Sprühnebelfein, ihre Poren schluckten ihn; er war spürbar wie Nieselregen, der die Augen benetzte.

      Nach dem Geruch träumte sie die wilde Schönheit von Felsen, raste von großer Höhe in ein dunstverhangenes Tal hinab und der Sturz, der Sturz war schwindelerregend und so brachial, dass sie einen langen Schrei ausstieß.

      Angst hatte sie nicht. Aber sie fühlte sich seltsam beschmutzt von diesen Bildern, die irgendwie lustvoll waren. Wie oft schon hatte sie unter der Dusche gestanden, weil sie diese Lust abwaschen wollte?

      Das Blut, noch spürbar auf ihrer Zunge, nicht widerlich, sondern süß wie Zuckerwatte, die sich langsam im Mund auflöste. Sie war von sich selbst entsetzt. Und wie jedes Mal stellte sie den Strahl schärfer ein, das Wasser kälter – obwohl da auf ihrer Haut natürlich nichts war, es war etwas in ihr, in ihrem Innern. Sie schluckte den Geschmack weg. Fühlte sich verloren. Hilflos.

      Immer dieser Traum. Als versuche ihr Unterbewusstsein, ihr irgendetwas mitzuteilen.

      Nur was?

      Klappernd trat sie aus der Dusche, rubbelte sich ab, schlang sich ein Handtuch um den Kopf und eins um den Körper, atmete durch und öffnete die Waschraumtür, um sich der Realität zu stellen.

      Flix

      Punkt zehn Uhr verstummte das Knattern des Generators und die grelle Deckenleuchte ging flackernd aus. Die Hütte versank im Dämmerlicht. Die Grillen vorm Fenster schienen wie auf Kommando lauter zu zirpen. Er blickte von seinem Buch auf, zu Ryan.

      Ryan hatte


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