In all den Jahren. Barbara Leciejewski
Barbara Leciejewski
In all den Jahren
Roman
Leciejewski, Barbara: In all den Jahren, Hamburg, acabus Verlag 2015
Originalausgabe
PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-371-0
ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-372-7
Print: ISBN 978-3-86282-370-3
Lektorat: Janina Klinck, acabus Verlag
Umschlaggestaltung: © Marta Czerwinski, acabus Verlag
Umschlagmotiv: skyline München: © JiSign - Fotolia.com; Pustblumen-Wiese: Designed by freepic.com
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.
© acabus Verlag, Hamburg 2015
Alle Rechte vorbehalten.
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
Für Erich
1990
Als ich ihn das erste Mal sah, war er nackt. Er klingelte an meiner Tür und sagte, er habe sich aus seiner Wohnung ausgeschlossen. Dann folgte eine umständliche und ausführliche Erklärung, wieso und weshalb, und ich konnte die ganze Zeit nichts anderes denken als: Warum hält dieser Typ nicht die Hand davor? Also: davor.
Nachdem er seine Erklärungsversuche beendet hatte, stand er vor mir und wartete.
„Kann ich nun telefonieren?“, fragte er und die Art, wie er es sagte, machte mir klar, dass es schon das zweite Mal war. Mindestens.
Ich stammelte etwas, das wohl wie Einverständnis klang, und er schob sich an mir vorbei in meine Wohnung. In der Diele entdeckte er mein Telefon und wählte eine Nummer, während ich vorsichtshalber neben der halboffenen Tür stehen blieb und mich bemühte, nicht auf seinen nackten Hintern zu starren.
„Ich bin’s. Ich hab mich ausgesperrt, kannst du mir den Schlüssel vorbeibringen? – Jetzt gleich wäre gut. – Alles klar, bis dann!“
Er legte den Hörer auf und grinste mit geschlossenem Mund. Damals wusste ich noch nicht, wie typisch dieses Grinsen für ihn war: Die Lippen fest aufeinandergepresst und die Mundwinkel weit auseinandergezogen. Das tat er immer dann, wenn er etwas zufriedenstellend erledigt hatte. So, das hätten wir, sagte dieses Grinsen.
Seine Arme hingen noch immer entspannt neben seinem Körper und es schien ihm nicht im Traum einzufallen, dass es mir eventuell peinlich sein könnte, über die Größe seines Penis Bescheid zu wissen. Sicher, man wollte seine neuen Nachbarn – und offenbar war er ein solcher – gern kennenlernen, aber das gehörte nicht zu den Dingen, die man wissen wollte. Zumindest nicht als Allererstes.
Nun ja, es war das Erste, was ich über Finn erfuhr. Finn, das war sein Name, aber den fand ich erst später heraus.
Als ich nicht weiter reagierte – ich wusste wirklich nicht, was ich tun sollte – sagte er schlicht „Danke!“ und ging nach draußen ins Treppenhaus, wo er sich auf die oberste Stufe setzte. Die Beine lässig auseinander, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt.
Ich überlegte kurz, ob ich noch etwas sagen sollte, ihn nach drinnen bitten, einen Kaffee anbieten, irgendeine Art von Konversation betreiben, doch die Situation sprach dagegen. Die Situation, die durch den Mangel an Bekleidung seinerseits bestimmt wurde.
So schloss ich leise die Tür. Ich fand es angebracht, es leise zu tun. Ich hätte es noch angebrachter gefunden, mich in Luft aufzulösen, doch das war nicht möglich.
Drinnen blieb ich an der Tür stehen und lauschte, was ich selbst albern fand. Warum lauschte ich? Wollte ich herausfinden, ob die Nacktheit des Mannes irgendein akustisches Signal aussandte?
Es war nichts zu hören. Ich ging in die Küche und machte mir einen Tee, obwohl ich nie Tee trank. Was war das für ein Typ, der nackt bei seiner Nachbarin klingelte und sich nicht einmal die Hände vor sein gutes Stück hielt? Ein Exhibitionist? Aber dafür war er zu wenig … exhibitionistisch gewesen.
Ich musste mir schließlich eingestehen, dass die Unverkrampftheit, mit der der Mann sein Schicksal ertrug, und die Selbstverständlichkeit, mit der er sich Hilfe holte, mich mindestens genauso aus der Bahn geworfen hatten wie der Anblick seines nackten Körpers.
War womöglich ich es gewesen, die sich lächerlich gemacht hatte? Hätte ich nicht genauso unverkrampft sein können wie er?
Die Antwort lautete: Nein. Wie sich später noch in unzähligen Situationen herausstellen sollte, war unser Kennenlernen symptomatisch gewesen. Er, der Entspannte, Lockere, den kaum jemals etwas in Verlegenheit bringen konnte, ich, die Verklemmte, Nervöse, der alles peinlich war.
Ich hätte zu gern durch den Spion nach draußen gesehen, doch dabei hätte ich mich vor mir selber geschämt. Also musste meine Neugierde leiden.
Später erfuhr ich, dass sein Bruder, der einen Ersatzschlüssel besaß und nur eine Straße weiter wohnte, vorbeikam und ihn erlöste. Ich hörte an diesem Abend nur noch ein paar Schritte auf der Treppe, einen knappen Wortwechsel, von dem ich nichts verstand, und ein kurzes Lachen, dann fiel die Tür nebenan ins Schloss und mein kurioses Abenteuer war vorbei.
Es dauerte eine ganze Woche, bis ich Finn wiedertraf und dabei schließlich auch herausfand, dass er Finn hieß. Er stand neben mir am Briefkasten, gänzlich bekleidet, und sortierte Werbung aus. Mit Kleidung erkannte ich ihn nicht, sonst hätte ich mich wahrscheinlich an ihm vorbeigestohlen und erst später in meinen eigenen Briefkasten gesehen, doch so stellte ich mich direkt neben ihn, grüßte geistesabwesend und fischte meine Post heraus.
„Mein Bruder hat gemeint, ich sollte mich bei Ihnen entschuldigen“, sagte er unvermittelt. Eine weitere Eigenschaft, die ich noch als typisch für Finn kennenlernen sollte: Er brauchte keinen Einstieg für Gespräche, keine Einleitungsfloskeln, keine Ämmms und Ähhhs und Alsos. Er sagte einfach, was er sagen wollte.
Ich erkannte die Stimme sofort und erst da wurde mir bewusst, dass ich auch noch etwas anderes an ihm wahrgenommen hatte als das Augenfällige. Er hatte eine Stimme, die so unverwechselbar war, dass ich sie nach Jahren wiedererkannt hätte, so einzigartig, dass ich sie unter tausend ähnlichen Stimmen herausgehört hätte. Sie klang wie Samt, nein, viel besser, wie Kaschmir.
Wenn man nun bedenkt, dass ich an diesem Abend, als er nackt an meiner Tür klingelte, diesen unvergleichlichen akustischen Genuss nicht beachtet hatte … Aber wollen wir das nicht weiter vertiefen.
Seine Direktheit, seine Stimme und die Tatsache, dass ich meinem nun nicht mehr nackten Nachbarn so ganz ohne Vorwarnung gegenüberstand, brachten mich in die größte Verlegenheit. Mein Gesicht wurde heiß, und ich konnte nur noch hoffen, dass es sich schlimmer anfühlte, als es tatsächlich aussah. Ich würde wahrscheinlich noch als Achtzigjährige erröten.
„Also“, sagte er weniger betreten als verwirrt, „ich entschuldige mich dann für neulich. Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört.“
„Nein, nein“, stammelte ich eine Oktave zu hoch, „überhaupt nicht. Ist schon okay.“ Ich grinste unbeholfen und steckte meine Post, die ich gerade aus dem Kasten genommen hatte, wieder hinein.