In all den Jahren. Barbara Leciejewski

In all den Jahren - Barbara Leciejewski


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gemacht, hätte er die Begebenheit sicher nie mehr angesprochen. Wer es nicht für nötig hielt, seinen Penis mit der Hand zu bedecken, wenn er in eine solche Situation geriet, hielt es auch nicht für nötig, ein weiteres Wort darüber zu verlieren. Allerdings wäre mir das lieber gewesen.

      Allmählich kam ich wieder zu mir und leistete mir sogar etwas Empörung über diesen seltsamen Typen mit der Kaschmirstimme. Ich holte meine Post zum zweiten Mal aus dem Briefkasten und warf dabei einen Blick auf den meines Nachbarn: Finn McGregor. Ein Schotte? Er hatte aber gar keinen Akzent. Sein Deutsch war so gut wie meins, und das sagte einiges, schließlich sollte man als Schauspielerin, die ich war – nun ja, Sprecherin eigentlich eher – perfektes Hochdeutsch beherrschen. Alles, aber auch alles an diesem Mann war merkwürdig. Ich hoffte, ich würde ihm nicht allzu häufig begegnen. Seinen Vormieter hatte ich praktisch nie zu Gesicht bekommen, obwohl wir Tür an Tür gewohnt hatten. Das hätte ich gerne so beibehalten.

      Meine Hoffnungen wurden jedoch schon bald zunichtegemacht. Gleich am nächsten Tag, als ich zu einem frühen Termin aus dem Haus musste, kam er mir auf der Treppe entgegen, eine große Mappe unter dem Arm, mit schnellen Schritten und geistesabwesend auf die Stufen starrend. Wäre ich nicht ausgewichen, wobei ich mich fast an die Wand drücken musste, wir wären zusammengeknallt. Ich murmelte ein leises, verschrecktes „Hallo!“, doch er reagierte nicht. Er schien mich nicht einmal zu bemerken. Als ich weitergehen wollte, verstummten seine Schritte plötzlich und hinter mir ertönte ein freundliches, in Kaschmir gehülltes „Guten Morgen!“ Ich drehte mich um und sah, dass er sich mir zugewandt hatte, erneut dieses breite Grinsen mit geschlossenem Mund in seinem Gesicht. Ich nickte und lächelte verklemmt zurück. Das Grinsen wurde womöglich noch ein paar Millimeter breiter, dann wirbelte er herum und lief weiter nach oben. Diesmal war ich in der Lage, ein paar weitere Details zu erfassen: seine langen, schlaksigen Beine zum Beispiel. Und die besondere Art, wie er sich bewegte: lässig, elegant und gleichzeitig voller Energie.

      Er sah gut aus. Hübsch, wenn man das von einem Mann sagen konnte. Seine Gesichtszüge waren weich und harmonisch, doch deswegen nicht weniger männlich. Er musste in meinem Alter sein, Mitte bis Ende zwanzig also. Hätte ich ihn unter anderen Umständen kennengelernt, hätte ich versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich hätte ihn gefragt, was er so machte und wo er vorher gewohnt hatte. Wo sein Name herkam, lauter banale Smalltalk-Sachen eben, über die man als neue Nachbarn so redete, zumal wenn man etwa im gleichen Alter war und sich ganz sympathisch fand. Aber zwischen Finn und mir waren diese Gespräche vorerst ausgeschlossen. Dazu wusste ich schon zu viel von ihm.

      Als plötzlich oben eine Wohnungstür geöffnet wurde, riss mich das aus meinen Gedanken und mir wurde bewusst, dass ich immer noch sinnlos auf der Treppe herumstand. In der Hoffnung, dass es nicht Finn mit seinen schnellen, langen Beinen war und er mich überholen würde, eilte ich schleunigst treppab.

      Für den Rest des Tages versuchte ich mich auf andere Dinge zu konzentrieren als auf meinen neuen, sonderbaren Nachbarn. Die Arbeit im Studio war dabei an diesem Tag sehr hilfreich, obwohl es keine Herausforderung war. Ich hatte mich vom Aufnahmeleiter breitschlagen lassen, an einem Ensembletag teilzunehmen, dem Tag, an dem bei einer Produktion im Synchronstudio die kleinen Rollen und Mengen – das anonyme Hintergrundgebrabbel in einem Film – aufgenommen wurden. Normalerweise machten das vorwiegend Anfänger, wofür ich mich wirklich nicht mehr hielt, doch bei hochwertigen Filmen legten die Regisseure manchmal Wert darauf, auch kleinere Rollen mit erfahrenen Leuten zu besetzen. Nicht mit den Stars der Szene natürlich, aber solchen wie mir: Leuten, denen man nicht mehr viel erklären musste, die eine Szene schnell erfassten, den Text fehlerfrei, natürlich und lippensynchron rüberbringen konnten und damit dem ganzen Team nicht unnötig Zeit stahlen.

      Zu meiner Überraschung traf ich an diesem Tag dennoch viele unbekannte und nervöse Gesichter im Aufenthaltsraum. Darunter mischten sich auch einige bekannte Kollegen, alte Hasen, die man immer an solchen Tagen traf. Schauspieler, die von Termin zu Termin hetzten, weil sie das Geld brauchten, und die nie richtig groß rausgekommen waren, weil es ihnen am gewissen Etwas fehlte oder schlicht an Begabung. Oder auch weil sie die falschen Leute kannten oder den falschen auf die Füße getreten waren. Sie schlugen sich an kleinen Theatern durch, mit winzigen Film- oder Fernsehrollen, mit Werbung, wenn sie Glück hatten, solchen Ensembletagen und kleinen Nebenrollen beim Synchron. Sie schienen mir oft als Spiegel meiner eigenen Zukunft. Auch ich verkehrte nicht mit den richtigen Leuten, war kein Mitglied des ‚Inner-Circle’ und im Vergleich zu anderen Vertretern meiner Zunft geradezu introvertiert. Nur meiner Stimme hatte ich es zu verdanken, dass ich trotzdem recht häufig gebucht wurde, manchmal sogar für etwas größere Rollen. Das lag an meiner leichten Naturheiserkeit, die ich immer schon gehabt hatte, so als hätte ich permanent eine Halsentzündung. Oder so als müsste ich mich immerzu räuspern. Das machte meine Stimme interessant. Außerdem ‚funktionierte‘ ich ganz gut, ich hatte Rhythmusgefühl und ließ mich nicht davon beirren, dass der Text, den ich sprechen musste, in den Mund einer anderen Person passen sollte.

      Ich kam jedenfalls ganz gut über die Runden, ohne kellnern oder putzen zu müssen. Das war okay. Meine Ambitionen als Schauspielerin waren begrenzt, denn auch mein Selbstbewusstsein war es. Und ich war grundsätzlich ein Mensch, der sich leicht zufrieden gab und an sich selbst nicht die höchsten Ansprüche stellte, vor allem, weil er nicht erwartete, sie erfüllen zu können.

      Allerdings fühlte ich mich an diesem Tag im Studio doch erheblich unterfordert. Ich hatte in ermüdenden Zeitabständen diverse Winzrollen mit Zweiwortsätzen zu sprechen, daneben inmitten einer Menge von Leuten unverständlich zu murmeln, zu schreien oder zu jammern. Immer wieder saß ich im Aufenthaltsraum herum, hörte mir die immer gleichen Anekdoten der älteren Kollegen an, die die jungen Frischlinge damit zu beeindrucken versuchten, beantwortete Fragen nach der Kantine oder dem Klo oder wie lange ich das schon machte, ob ich schon als Kind angefangen hätte und so weiter. Ich war einsilbig und genervt. Immer wieder ertönte die Stimme der Cutterin durch den Lautsprecher, verlangte einen bestimmten Sprecher oder eine ganze Gruppe oder – und das war das Schlimmste – alle ins Studio. Mein Kopf dröhnte.

      Als ich laut Plan etwa eine halbe Stunde lang nicht dran war, ging ich in die Kantine und besorgte mir einen großen Milchkaffee.

      „Schlimm heute, was?“, ertönte eine Bassstimme neben mir am Tresen. Manfred Kober, genannt Läubel, stand dicht, zu dicht, neben mir, Hände in den Taschen, den Bauch herausgestreckt. Wie immer trug er seine schwarze Lederjacke, einen schwarzen Rollkragenpullover und Jeans. Diese natürlich unter dem Bauch. Er war mindestens sechzig und erzählte immer gerne Geschichten aus der Zeit, in der er eine kleine Rolle als Polizist in einer sehr beliebten Krimiserie gespielt hatte. Läubel war sein Serienname gewesen und ein sich häufig wiederholender Dialog mit dem Hauptdarsteller von damals war:

      „Läubel?“ – „Ja, Chef?“ – „Sagen Sie mal …“, oder: „Gehen Sie …“, oder: „Können Sie …“, oder: „Kümmern Sie sich …“, und so weiter, woraufhin Läubel jedes Mal antwortete: „Ja, Chef!“

      Manfred Kober war also damals der Ja-Chef-Sager der Serie gewesen. Der Läubel eben. Aber er erzählte davon, als hätte er den Faust neben Gründgens als Mephisto gegeben.

      Ich lächelte kurz zu ihm rüber und bestellte meinen Kaffee.

      „Zwei bitte!“, rief der Läubel der Bedienung zu und hielt zwei Finger in die Höhe, als wäre sie taub. „Ich lad dich ein“, bemerkte er großzügig und ich ahnte schon, dass er sich damit das Recht erkaufte, mich vollquatschen zu dürfen. Außerdem wunderte es mich, dass wir per Du waren, so gut kannten wir uns auch wieder nicht. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, über einen Gruß hinaus jemals ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Aber gut. Wir erhielten unsere Milchkaffees und er redete sicherheitshalber gleich weiter, damit ich nach meinem freundlichen „Danke!“ nicht annehmen durfte, dass ich mich nun zurückziehen könnte.

      Er redete und redete. Über die heutige Schauspielausbildung („Das ist doch alles nur noch Pipifax, was die da machen.“), die Theatertournee, die er letztes Jahr an der Seite irgendwelcher ehemaliger Boulevardtheatergrößen gemacht hatte („Einen Monat lang jeden Abend in einer anderen Stadt, das schlaucht.“), die Werbung, die er neulich gedreht hatte („Lauter Idioten da in der Werbebranche, kann ich dir sagen.“),


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