Schwabinger G'schichten. RAMSES III. (Wolfgang Kramer)
Also, das "Occam", wie es kurz genannt wurde, entwickelte sich zu einem unglaublichen Renner! Das Occam war "in", wie man heute sagen würde, es war ein Muss, dorthin zu gehen! Der Laden war nur 16m2 klein, aber ständig so voll von 12 Uhr mittags bis abends um 22 Uhr, dass man unmöglich umfallen konnte. Wenn man hinein wollte, musste man die Eingangstür mit "Gewaltanwendung" aufdrücken!
Der monatliche Bierausschank war gigantisch, den schaffen in der Regel nicht mal Großgaststätten im ganzen Jahr!!!
Die damalige Lieferbrauerei, die "Dortmunder Union", erstellte eine Statistik. Sie verglich europaweit ihren Bierverkauf im Verhältnis Quadratmeter des Lokals zum Bierausschank. Dabei schlug das "Occam" alle Rekorde und war somit – statistisch - die umsatzstärkste Kneipe ganz Europas! Auf 16m2 schenkten die 120 Hektoliter monatlich aus!!! Und wir waren es, die es schluckten!
Außerdem war es bemerkenswert, dass der Ausschank, noch dazu in 0,2 Liter kleinen Gläsern, von einem einzigen Zapfer bewältigt wurde, dem "Occam Michi".
Im "Occam" wurde aber nicht nur gesoffen, es war auch eine geniale Flirt- und Aufreißerbörse. Aufgrund der Tatsache, dass es kein "normaler" Stehausschank war, wurde es auch ausreichend von Mädels besucht – wie praktisch! Und im Verlauf des Tages hat sich so manche Beziehung oder auch nur One-night-stand ergeben. Wenn an der Theke bereits sexuelle Avancen stattfanden und heftig gefummelt wurde, hatte es niemand bemerkt - es war schließlich rappelvoll, und kein Mensch konnte sehen, was man unterhalb der Theke mit seinen Händen machte.
Das "Occam" erhielt zusätzlichen Kultstatus, da es in dem Film "Zur Sache Schätzchen" als Treffpunkt erwähnt wurde. Überhaupt wurde Schwabing durch diesen Film in ganz Deutschland zu einem Begriff und einem Ort, wo jeder unbedingt hin wollte. Schwabing wurde zum Traumziel aller Jugendlichen im ganzen "Reich"! Die Hauptdarstellerin war Uschi Glas, die durch diesen Film erst wirklich bekannt wurde, und der von da an über viele Jahre, eigentlich sogar bis heute, der Beiname "Schätzchen" anhaftet.
Ich war mal mit einem Spezi in nördlichen Gefilden, und als wir uns in einer Kneipe unterhielten, bemerkte jemand, dass wir bayrisch sprachen. Das allein war bereits Grund genug, uns Drinks auszugeben. Und als die Leute auch noch feststellten, dass wir aus Schwabing kamen, wurden wir gefeiert wie Stars. Ja, sooo beliebt war Schwabing!
Die männliche Hauptrolle in "Zur Sache Schätzchen", hatte Werner Enke inne, der unter anderem den Ausdruck "Fummeln" kreierte. Ebenfalls eine Redewendung, die den ganzen Film wie ein "Running Gag" durchlief, war: "S' wird böse enden". Ganz Schwabing zitierte den Spruch, bei jeder sich gebenden Gelegenheit. Enke schrieb auch das Drehbuch zum Film. Er war ja eigentlich Autor und kein Schauspieler, aber in dieser Rolle war er geradezu genial. Na ja, er hatte sie schließlich für sich geschrieben.
Natürlich liebten wir Schwabinger den Film ganz besonders, weil er uns das Gefühl vermittelte, als sei es eine Dokumentation über uns – wir erkannten uns wieder. Dazu kam, dass wir die meisten Schauspieler kannten, da sie uns laufend begegneten, ob auf der Strasse oder in Kneipen. Die waren auch "ganz normal", ohne jeglichen Dünkel. Sie waren quasi "welche von uns".
Es gab noch einen Film über Schwabing, das war "Engelchen – oder die Jungfrau von Bamberg" mit Gila von Weitershausen in der Hauptrolle, neben Hans Clarin, ebenfalls aus dem Jahr 1968. Der Film war zwar auch sehr nett und lustig und hat auch das Schwabinger Leben und die Szene beschrieben, aber er hat nicht den Kultstatus erreicht wie "Zur Sache Schätzchen". Und auch hier kannten wir wieder die meisten Akteure.
Es wurde ja keine Gelegenheit für ein Besäufnis ausgelassen, und so wurde auch mal eine Isarfloßfahrt vom "Occam" organisiert. Sozusagen für alle "Pflichtschlucker" Schwabings.
Zu dieser Zeit waren die Floßfahrten noch sehr urig, also ohne Luxus, nicht wie heutzutage Anfahrt mit dem Bus, mit Grill, großer Getränkeauswahl bis hin zum Champagner und Kaffe und Kuchen, inklusive Scheißhäusel! Damals fuhr man noch mit dem Zug nach Wolf ratshausen und wanderte vom Bahnhof zur Floßlände.
Das Angebot auf dem Floß bestand aus Musik und Bier. Für Brotzeit und Schnaps musste man selber sorgen, je nach Bedarf. Dafür hatte so ein Vergnügen damals auch nur 15 Mark gekostet zuzüglich Bahnfahrt. Also ein wirklich billiger Spaß!
Gebieselt wurde einfach über Bord, und wenn die Mädels mussten, hat sich halt jemand als Sichtschutz davor gestellt. Gekackt wurde nur in der Pause, beim "Brucken Fischer" in Schäftlarn oder bei der "Aumühle"! Das sind Wirtshäuser am Isarufer, so etwa auf halber Strecke nach München, und dort wurde um die Mittagszeit herum angelegt.
Die Unterbrechung der Floßfahrt wurde auch von einigen Pärchen gerne dazu genutzt, sich ins Gebüsch zu schlagen und ein Nümmerchen zu schieben.
Da die Floße so etwa ab 9 Uhr früh in Wolf ratshausen ablegten, mussten wir ca. um 7 Uhr mit dem Zug losfahren. Für mich war das natürlich eine äußerst unwirtliche Zeit, weshalb "Durchmachen" angesagt war. Es wurde also die Nacht vorher heftigst getrunken, gekifft, und nicht zuletzt hatte ich die Angewohnheit, "Captagon" einzuschmeißen. Wer die nicht mehr kennt – das waren "Muntermacher"! Verschreibungspflichtig zwar, aber ich hatte da meine Quelle!
So also verging die Nacht recht kurzweilig.
Am Morgen dann wurde der Zug sogar gefunden, war aber total überfüllt, weshalb ich und einige Leute nur noch Platz im Gepäckwaggon fanden. Aber das war uns in unserem Zustand ziemlich wurscht! Im Waggon kam ich am Boden zu sitzen, neben einer sehr attraktiven jungen Dame, die ich von nun an mit extremer Penetranz anbaggerte! Ich hatte eine Flasche "Jack Daniels" in der Klaue, weshalb auch an Ernüchterung nicht zu denken war.
Im Normalfall bin ich - wie gesagt - schüchtern und keineswegs penetrant, aber in meinem Vollrausch kannte ich keine Grenzen mehr. Allerdings wurde mir diese Situation erst klar, als ich wieder nüchtern war. Jedenfalls ließ ich wohl nicht mehr von ihr ab. Ihren Namen möchte ich hier nicht erwähnen, denn der ist SEHR bekannt, was ich natürlich ebenfalls nicht wusste. Nur soviel – sie hieß Marlene.
Als wir nach einem halbstündigen Fußmarsch die Floßlände erreichten, versorgte ich mich noch mal mit Bier, damit auch ja keine Durststrecke dazwischen kam, und fragte schließlich, welches Floß denn das unsere wäre? Mein Nachbar sah mich etwas verdutzt an und entgegnete: Da steht doch nur eins! So schlimm war es also mit mir – ich sah zwei Floße!
OK, es dauerte nicht mehr lange, dann legte das Floß ab.
Der Tag verlief logischerweise weiterhin äußerst feuchtfröhlich, und ich war auch äußerlich nur noch nass, da ich bei meinen Wanderungen von einem Ende des Floßes zum anderen ständig ins Wasser fiel – und die Isar war kalt!
Kurz vor Schäftlarn gibt es eine Holzbrücke über die Isar. Als wir diese erreichten, bekam ich Zurufe, dort rauf zu klettern und zu springen, andere wiederum riefen: Spinnst du, spring ja nicht! Ich war hin und her gerissen und endlich, als das Floß bereits fast unter der Brücke war, sprang ich doch ins kalte Nass und dann rauf auf die Brücke. Das Brückengeländer ist etwa vier Meter über dem Wasserspiegel, und wieder hörte ich die gegensätzlichen Zurufe.
Aber ich war wie in Trance, und nach eigentlich zu langem Zögern sprang ich schließlich.
Eine vage Erinnerung war, dass ich mich in der Luft bereits überschlug, also einen Salto machte – einen unfreiwilligen allerdings. Als ich wieder auftauchte, sah ich das Floß in fast unerreichbarer Entfernung vor mir schwimmen. Vermutlich etwa 30 Meter. Die Leute auf dem Floß schrien Unverständliches, und obwohl ich fix und fertig war, wurde mir klar, dass es keine Bremse hatte. Also musste ich hinterher!
Mit allerletzter Anstrengung hatte ich es bis zum Floß geschafft, aber dann war ich total erledigt.
Dieser absolute Raubbau mit meinem Körper die Nacht zuvor und auf dem Floß und das eisige Wasser hatten dazu geführt, dass ich einen "Kreislauf Otto" hatte. Man zog mich aus dem Wasser, und ich machte eine gespenstische Erfahrung. Ich war zwar bei Bewusstsein und bekam alles mit, was um mich herum geschah, aber ich war unfähig, mich zu äußern oder mich zu bewegen – absolut apathisch und paralysiert. Ich brachte nicht ein einziges Wort heraus. Die Leute um mich herum und vor allem Marlene kümmerten