Könnte schreien. Carola Clever
zählte: „Ich ein, du kein. Ich zwei, du ein.” Das hörte sich melodisch richtig an!
Abends fuhr Martin in die Garage. Ella lief aus der Tür, fing ihn an der Garage ab. Überschüttete ihn wie die Niagarafälle mit prasselnden Worten. Erzählte ihm vom Anruf des Direktors und meinte: „Ich erwarte, dass du ihn dir ordentlich zur Brust nimmst. Was sollen die Leute von uns denken? Der Bauer hat eine Anzeige gemacht!“
Martin war müde und genervt. „Der kann was erleben, der wird nie wieder klauen. Ich sorge dafür.” Erschrocken sah ich, wie Martin mit hochrotem Kopf wie ein Löwe „Wo ist er?“ brüllte und den Flur betrat.
Schaum hatte sich an seinen Mundwinkeln gebildet. Alex stand stocksteif, verschüchtert in der Garderobenecke. An den Haaren zerrte Martin ihn in den Keller, riss ihm seine Kleidung vom Leib, sodass er nackt und zitternd vor ihm stand. Martin holte mit tosendem Geräusch aus, das die alte ausgefranzte Bügelschnur machte, und schlug blind vor Wut auf Alex ein. Die nackten Metalldrähte zerrissen die Oberfläche seiner Haut auf dem Rücken, am Po und über den Oberschenkeln.
Ich saß wie gelähmt im Kinderzimmer und hörte seine verzweifelten Schreie, sein Flehen, durch den Fußboden. Ich bangte um ihn, bohrte mir in der Aufregung in der Nase. Kratzte mich am Hals, der hektisch rote Flecken bekam wie immer, wenn ich aufgeregt war. Aus Angst kaute ich nervös an den Nägeln. Streichelte über meinen gluckernden, schmerzenden Bauch. Hielt mir abwechselnd die Ohren zu, denn diese gequälten Schreie wollten einfach nicht aufhören. Der Keller lag unterhalb meines Zimmers. Auf dem Bett sitzend hörte ich weitere herzzerreißende Schreie. Mit jedem Schlag litt ich mit, hielt mir weiter die Hände über die Ohren. Blutend und winselnd musste Alex zwei Tage im Keller ohne Essen verbringen. Ich wollte schon früher in den Keller gehen, traute mich aber nicht. Dort waren überall diese ekligen langbeinigen großen Spinnen. Wahrscheinlich gab es auch Mäuse dort. Außerdem war es trotz Lichteinfall unglaublich dunkel im Keller.
Innerlich zwiegespalten spürte ich wieder Angst den Nacken hochkriechen, wollte aber Alex unbedingt sehen. Ella wuselte auf dem Dachboden umher. Martin war nicht im Haus. In diesem unbeobachteten Moment schlich ich vorsichtig auf Zehenspitzen die Kellertreppe runter. Dort sah ich Alex gekrümmt und zusammengerollt auf Putztüchern über ölverschmierten Lappen auf dem Betonboden liegen. Seine verweinten Augen waren erschreckend weit aufgerissen. Ich hatte vom Frühstück eine Banane und einen Apfel unter meinem Bademantel versteckt. Reichte Alex die Früchte. Begutachtete erschrocken seine tiefen Wunden, die sich wie blutunterlaufene wulstige Luftschlangen auf seiner Haut wanden. Bei diesem grauenhaften Anblick liefen mir Tränen übers Gesicht. Ohne Worte streichelte ich über die blutunterlaufenen blauroten Striemen, die sich über seinen gesamten Körper zogen. Tiefe Narben hinterließen diese Wunden in meinem Herzen. Eine Welle unglaublicher Wut gegen beide Elternteile breitete sich aus.
Wütend flüsterte ich Alex ins Ohr: „So ein Arschloch, warum hat Ella das zugelassen und dich nicht beschützt!“
Alex noch leiser: „Sie hat uns doch noch nie vor seinen Wutausbrüchen und Schlägen geschützt. Ich hasse beide.”
„Ich auch.“ Dann legte ich mich zu Alex auf die Lappen, küsste und umarmte ihn.
Monate nach diesem Vorfall kam ich gemeinsam mit Alex aus der Schule. Zu Hause angekommen schloss Alex die Tür auf. Normalerweise begrüßte Cookie uns direkt an der Tür mit lautem freudigem Quietschen und Bellen.
Verwundert fragte Alex: „Wo ist Cookie?“
„Vielleicht hinten im Garten?“, fügte ich fragend hinzu.
Ella kam zur Haustür. „Hallöchen, na, wie war die Schule? Kommt rein und macht die Tür zu.”
Im Flur nahm sie uns die Jacken ab. Beiläufig erklärte sie: „Stellt euch vor, Cookie hat ein neues Zuhause gefunden. Er lebt jetzt auf einem schönen Bauernhof auf dem Land!“
Ich verzog mein Gesicht zu einer gequälten Fratze und begann zu heulen. „Aber Mama, er lebt doch hier bei uns …“ Tränen erstickten meine Stimme.
Alex rief aufgebracht unter Tränen: „Ihr müsst uns auch wirklich alles nehmen. Wieso werden wir nicht vorher gefragt?“
Ella hob ihren ausgestreckten Zeigefinger: „Vergreif dich nicht im Ton, ja? Wir entscheiden hier, was geschieht. Ich kann mich nicht um alles kümmern. Er braucht Pflege und mehr Auslauf, das können wir ihm nicht mehr bieten. Da hat er es gut und viele tierische Freunde.” Damit war das Thema Cookie für sie beendet.
Stur versuchte Alex es noch mal: „Aber er gehört doch zur Familie und wir lieben ihn!“ Dann fügte er schreiend hinzu: „Wie konntet ihr nur so herzlos sein!“
Zustimmend schluchzte ich: „Ja genau. Außerdem hat er Narben, ist krank und liebt mein Bett. Ist mein Freund und …“
Dann brach ich abrupt das Vorgebrachte ab. Ich merkte, Betteln war zwecklos. Ella hatte sich entschieden. Die Schultern hängend, den Blick gesenkt, gingen wir in unser Zimmer. Alex knallte die Tür hinter sich zu. Ella schrie uns nach: „Hier werden keine Türen geknallt. Wenn hier einer Türen knallt, dann bin ich das, ja!“ Wir antworteten ihr nicht. Aus Wut und Enttäuschung schlugen wir heulend ins Kopfkissen.
VERÄNDERUNGEN
Man hatte Martin wegen Trunkenheit am Steuer für sechs Monate den Führerschein entzogen. Abends nach der Arbeit trank er in letzter Zeit öfter Wein oder Bier. Die randvoll gefüllten Gläser leerte er mit dem Spruch: „Prost, Kehle, jetzt kommt ein Platzregen.“ Die heimlichen Treffen mit Renate, die häusliche Situation und sein Arbeitspensum belasteten ihn. Der Sonntag nach dem Frühschoppen wurde ihm zum Verhängnis. Mit 1,5 Atü auf dem Kessel hatte man ihn erwischt. Der Führerscheinentzug hatte weitreichende Folgen. Martin und Ella waren sich einig. Ein Internat für Alexander schien die beste Lösung zu sein. Abends im Bett flüsterte mir Alex ins Ohr: „Scheiße, das ist bestimmt ein Straflager, Martin hat es ausgesucht.”
„Wieso Straflager? Dachte, das ist eine Schule, wo man auch schläft und …“
„Ja, schon, aber bestimmt sehr streng und weit weg.” Er verstummte.
Freitagmorgen, als ich noch in der Schule war, holte Martin Alex früher ab und fuhr mit ihm ins Internat nach Bad Honnef. Ich konnte mich nicht mal verabschieden. Ella war zu Hause geblieben. Jetzt, wo alles entschieden war, bekam sie Gewissensbisse und fühlte sich krank. Im Bett nagten Zweifel an ihrer Entscheidung. Wieder fühlte sie sich zerrissen. So gut sie es vermochte, hatte sie es den Kindern erklärt, dass sie ihre Zeit jetzt anders einteilen musste. Martin brauchte ihre Unterstützung. Sie musste ihn jetzt begleiten, ihn zu den Kunden fahren. Ihre Kopfschmerzen meldeten sich zu Wort. Wie bei einer Stechpalme schienen die speerartigen Spitzen sich ins Gehirn zu bohren. Sie hielt es kaum aus. Stand auf und ging ins Wohnzimmer. Öffnete im Wohnzimmerschrank die Klappe zur Bar. Genehmigte sich ein Schlückchen Marillen-Likör, den Martin aus Österreich mitgebracht hatte. Mit dem sie ihre Nerven und Gedanken beruhigte. Das hatte schon ein paarmal geholfen. Den sich ständig wiederholenden Vorgang relativierte sie für sich mit Martins Worten: „Dummheit frisst und Intelligenz säuft!“ Frechheit, für sie war es Medizin. Martins Mutter Frieda wurde angefordert. Sie sollte mich die nächsten Monate versorgen. Uns beide ins Internat zu stecken, war Martin zu teuer. Deshalb schien Frieda die bestmögliche Lösung. Sie zog vorübergehend ins Haus ein, schlief bei Alex im Bett. Frieda war gnadenlos streng, predigte Zucht und Ordnung. Nach vier Wochen abends beim Abendbrot, verlangte ich nach Butter fürs Brot. Butter stand nicht auf dem Tisch.
Frieda meinte: „Es ist nicht mehr viel da. Das, was da ist, ist nur für meinen Sohn, weil der arbeitet.“
„Wie bitte?“, rutschte es empört aus mir heraus. „Aber ohne Butter schmeckt es nicht, und die Wurst hält nicht auf dem Brot!“
„Das macht nichts, das geht auch ohne Butter.“
Wütend nahm ich die belegten Wurstbrote ohne Butter in die Hand, holte weit aus und schleuderte sie quer durch die Küche. Am Küchenschrank schmierte die Wurst an der Außenfläche entlang. Die Brote lagen am Boden. „Du bist eine blöde Oma!“ Bei diesen Worten sprang