Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers

Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers


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Schlitten passiert einem schon nichts! Vielleicht ist das sogar unser Schiri-Zahnarzt!“

      Stojan hatte sich sogar zur Gewohnheit gemacht, montags mal kurz die Ergebnisse der Aufsteiger anzusehen, um je nach Bedarf und Lust und Laune öfter ein bisschen Öl ins Feuer gießen oder, seltener, Wogen glätten zu können, wenn Dienstfahrten ins Ruhrgebiet anstanden.

      Mit Sonja gab es immer wieder mal etwas auszutauschen, auch weil sie, seit ihrer Scheidung freiwillig und gerne Single, nicht wusste, wo oder bei wem sonst sie meist beruflich angestauten Ärger am besten abladen konnte. Wie bei einer nicht ganz so ordentlichen Mülltrennung gesellte sich manchmal ein bisschen privater Stress dazu, etwa mit dem trotz seiner mittlerweile zwanzig Jahre offenbar immer noch pubertierenden Junior oder mit dem einen oder anderen etwas verschämt eingestandenen Wochenendlover, der seine Rolle nicht richtig verstanden hatte und lästig wurde. Richtig war zum Beispiel: Tschüss, und nee, nicht telefonieren! Wenn sie ihn wie früher mit „Chef“ ansprach, wusste Stojan, welche Richtung das Gespräch nahm, und er war eitel genug, sich das gute Gefühl gefallen zu lassen, von der klugen und doch in ihren Entscheidungen nicht immer klaren Frau gebraucht zu werden. Damit man tatsächlich von einem Austausch sprechen konnte, brachte sie ihm dann ein paar abgelegte Akten mit, die er, wie er es nannte, „gerne nochmal überfliegen“ wolle. Insidern wäre aufgefallen, dass es sich dabei nur um solche Fälle handelte, die gar nicht oder nur unbefriedigend und mit offenen Fragen, „mit Gewalt“, hatte er früher dann gesagt, gelöst worden waren, so als hätte man die beiden letzten Schrauben, die nicht ganz richtig passten, an denen Drehkraft und Schraubenzieher verzweifelt waren, schließlich mit dem Hammer ins fast aufgebaute Möbel geschlagen, um sich wenigstens kurzfristig der Illusion eines stabilen Schranks hinzugeben. Fido mochte Sonja genauso wie sein Herrchen, auch weil an deren Treffen oft ein Spaziergang angehängt wurde, manchmal noch ein Kaffee bei ihm in seiner Datsche, wie er seinen Bungalow am Waldrand gerne und ironisch verniedlichte. Ganz selten wurde es dann auch mal ein ganzer Abend, und zweimal war es am Ende sogar eine ganze Nacht, in der genug Rotwein im Spiel war, um einen noch führerschein-verträglichen Abschied zu verhindern, aber nicht genug, um den platonischen Status ihrer Beziehung zu gefährden. Und weil beiden dieser Status unausgesprochen wertvoll war, dem väterlichen Freund und der verlässlichen Kumpanin, jonglierten sie seit seinem Ausscheiden aus dem Team virtuos mit der Anrede, wechselten zwischen Vor- und Nachnamen und hatten ihren Spaß daran und ein gutes Gefühl dabei, den anderen mal fest an sich zu drücken.

      Auch diesmal hatte sie übers Wochenende ihren USB- Stick bei Stojan gelassen, mit dem sie sich und zwar, das hatte sie hoch und heilig unterschreiben müssen, nur sich selbst und sonst niemanden ins interne Netzwerk der Kripo einloggen durfte mitsamt Zugangscode und persönlichen Kennwörtern. Nicht dass ihn jetzt ein richtig schlechtes Gewissen lähmen würde, aber doch zehrte ein latent ungutes Gefühl an ihm, das er erst überwinden musste, bevor er noch einmal in den nicht offiziellen Polizeinachrichten stöberte. Ohne Spuren zu hinterlassen, hoffte er, weshalb er sich auch mit diesen Aktionen aufs Wochenende beschränken wollte. Er wusste nicht, wonach er suchen sollte, es gab kein Register, kein Inhaltsverzeichnis, das sortierte, ungeklärte Todesfälle von solchen durch Gift oder äußere Gewalteinwirkung unterschied oder Opfer mit auffälligen Tätowierungen auseinanderhielt. Nirgendwo hatte er sich lange aufgehalten, am längsten noch bei ungenauen und offenbar nicht weiter untersuchten Vorfällen in Westfalen und Nordhessen. Dahin hatte er seinen Fokus ausgerichtet, denn immerhin lagen dort die sieben letzten Haltestellen des Zugs, in dem man die Leiche der Irene Altmann kurz vor elf Uhr in Hamm gefunden hatte. Gut, sie hätte auch schon in Leipzig eingestiegen sein können, in Weimar oder Erfurt, wie ihn ein Blick in den Fahrplan der Deutschen Bundesbahn lehrte, aber zunächst erschien ihm das unwahrscheinlich. Irene Altmann war eine seiner offenen Wunden.

      Ein Verkehrsunfall mit einem tödlich verletzten Fahrradfahrer und Fahrerflucht in Habichtswald interessierte ihn nicht, ein Totschlagsverdacht gegen den Ehemann einer krebskranken Frau in Korbach, der für sich Tötung auf Verlangen reklamieren wollte, ebenfalls nicht, eine Serie von KFZ-Diebstählen im Paderborner Umland, ein Einbruch in eine Modeboutique in Lohfelden, bei dem offenbar keine Beute gemacht wurde: Das alles rauschte an Augen und Kopf vorbei, ohne allzu viel Speicherkapazität in seinem Gehirn zu belegen. Hin und wieder hatte er sich ein paar Namen, Aktenzeichen oder Webseiten notiert, um sich später darum zu kümmern, ohne möglicherweise Sonja oder andere zu kompromittieren. Das konnte warten, das hatte ihn alles lange nicht so angesprungen wie eine andere Meldung, auf die er vor zwei Wochen mehr oder weniger zufällig gestoßen war und die sich seitdem in seinem Hirn festgebrannt hatte. Und mittlerweile da eine Menge Raum forderte und die er sich deshalb jetzt noch einmal ganz genau angucken wollte. Unter der Rubrik "Mögliche Straftaten" stand am Donnerstag, dem 17. 12.2015 folgende Notiz:

      „Am 14.12. 2015 meldete sich auf dem Polizeirevier in Bad Zwesten im Schwalm-Eder-Kreis der nigerianische Staatsbürger Opako K. und gab zu Protokoll, er habe in einer Gaststätte in der Altstadt einem ihm unbekannten Mann ein gebrauchtes Handy abgekauft. In einem Mix aus Deutsch und Englisch hatte der Mann mit ihm gesprochen. Auf der sich noch im Gerät befindlichen Speicherkarte habe sich eine Art Tagebuch befunden, das ihm ein Kollege im Wohnheim übersetzt habe, da er nicht alles habe verstehen können. Der Mann habe auch nicht alles verstanden, ihm aber geraten, damit zur Polizei zu gehen, weil es sich nach dem Geständnis einer Straftat angehört habe und er, K., unter Beobachtung der Behörden stehe. Speziell handele es sich wohl um die Ankündigung oder Planung oder Durchführung oder Geständnis eines Tötungsdelikts. Die Speicherkarte wurde gesichert. Es ist zu bemerken, dass der Opako K. bereits im Vorjahr versucht habe, eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu erschleichen durch eine angeblich notwendige Operation, die nur in Deutschland erfolgreich durchgeführt werden könne. Zurzeit werde zum wiederholten Male geprüft, ob bei einer Rückführung ins Heimatland Foltergefährdung bestehe.“

      Aus dreierlei Gründen hatte sich Peter Stojan über diese Notiz aufgeregt: Erstens das in seinen Augen miserable Beamtendeutsch –„Beamtenanwärterdeutsch", korrigierte er laut für Fido, der kurz ein Auge und ein Ohr für sein Herrchen öffnete, um dann, leicht seufzend und offenbar der gleichen Meinung, weiterzuschlafen. Auch grammatikalisch klang das nicht ganz sauber, fand Stojan, investierte da nun aber keine Zeit für eine intensive Prüfung. Zweitens die kaum verhohlene Abqualifizierung einer Aussage nur aufgrund des Status des Zeugen, hier der des Asyl suchenden Migranten. Stojan hatte im Gespür, dass der Beamte nur mit Mühe - oder vielleicht fremder Hilfe, wer weiß? – einen Hinweis auf die Hautfarbe vermieden hatte. Drittens stand nirgends, ob man dem Verdacht nachgegangen war und ermittelt hatte. Auch ob die Speicherkarte als Asservat gewertet und dann der Staatsanwaltschaft zugeleitet wurde, ging nicht aus den Aufzeichnungen hervor. Gesichert konnte auch abgenommen und vernichtet heißen. Stojan seufzte, fuhr sich mit der Rechten durch die Haare und lehnte sich dann einen Moment zurück. Jetzt war er ungeduldig. Die Meldung konnte tatsächlich zum Namen auf einem der Ordner auf seinem Schreibtisch passen: Altmann, Irene. So stand es da in großen Druckbuchstaben geschrieben.

      Aber einfach und vor allen Dingen schnell kam er an diese Speicherkarte nicht dran. Wenn überhaupt. Auch oder gerade ein pensionierter Kriminalbeamter musste sich hier an den Dienstweg halten.

      Und Dienstweg hieß Formulare, Stempel, Geduld und Zeit. Stojan hatte davon nur noch letzteres. Mal eben anrufen und die Kollegen strammstehen lassen, ihnen Bescheid sagen, sie hätten gefälligst mal, wahlweise ob sie eventuell bereit wären, freundlicherweise bitte sehr irgendwelche Daten online rüberzuschicken: Dass das so kaum funktionierte, war ihm klar.

      Also Sonja. Sonja hatte auch nicht immer Zeit, ja, sah er ein, klar, tat er, natürlich. Und selbst hinzufahren, wäre zwecklos, er hatte seit zwei Jahren keinerlei Befugnisse mehr. Zuständig musste Kassel sein. Er könnte telefonisch ein bisschen recherchieren, wenigstens eine Dienststelle, eine Asservatenkammer. Erstmal an die frische Luft. Und dann zu Tasso. Da war er verabredet. Am Donnerstag. Nicht heute. Heute würde er ein Bier trinken. Auf die Spur. Prosit!

      2

      Donnerstag, 4.2.16

      „Nenn mich nicht Stasi, verdammter Nazi!“

      Endlich, dachte Stojan. Die Ruhe des kleinen griechischen Gastwirts hatte er bewundert, gleichzeitig hatte sie ihn geschmerzt. Er hatte schon befürchtet, Anastasios Charipidis,


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