Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers

Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers


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blöde Modehaus hätte sich ja an den Zahnarztkosten beteiligen können, schließlich machten die Kohle ohne Ende mit ihren dämlichen Billigpullovern aus Viskose und schlechten Kunstfasern. Die sollte man erst mal unter die Lupe nehmen! Ihr lief jetzt noch ein Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte, wie unangenehm sich das auf der Haut anfühlte. Normalerweise wäre das schon ein Grund gewesen für finster verschlossene Lippen statt eines strahlenden, Zähne zeigenden Lächelns. Mittlerweile genügte allerdings schon halbwegs genaues Hinsehen, um zu merken, dass die Vergangenheit nicht spurlos an ihren Zähnen, ihrer Haut, ihren Haaren, ihrem ganzen Körper vorbeigerauscht war, das musste sie zugeben. Auch die einzig verbliebene Vierzig-Watt-Birne an ihrem Kosmetikspiegel reichte dafür. Hätte sie die anderen drei irgendwann durchgebrannten Birnen ersetzt, sie hätte auch den schmutzig-gelben Schimmer um das Blau in ihren Augen sehen können.

      Es war gemein, je mehr zu flicken war, desto weniger konnte sie sich das leisten. „Das letzte Jahr hat dich ruiniert“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Das letzte Jahr war schlimmer als das vorletzte. Und das vorletzte war schlimmer als das davor. „Sorry, Onkel Igor, bin ein bisschen verrückt, verrutscht, abgerutscht, genau wie die Schere. Gut, dass ich mir nicht noch die Finger abgeschnitten habe!“ Die Kolleginnen von damals, was machten die? Mit gutem Grund gab es keine Kontakte mehr, alle verstreut auf der ganzen Welt. Die meisten ließen sich von irgendeinem Kerl aushalten, immer dieselbe Leier, irgendwo hatte sie es gehört, das wär ja das allerletzte für sie. Als Aushilfe im Café und ein bisschen nett sein zu den Leuten, stundenweise in einer Boutique und zeigen, dass man mal gut war, was gekonnt hatte, immer noch konnte. Das würde schon hinhauen, sie musste nur dranbleiben, etwas mehr Disziplin an den Tag legen. Dann war das mit Alf auch noch nicht vorbei, hatte er versprochen, sie erinnerte sich daran. Gut, dass sie wieder Tagebuch schrieb, wie früher, jetzt auf Deutsch, das tat ihr gut, das erleichterte sie. Sie hatte immer Angst, eine gute Idee zu vergessen. Davon hatte sie nämlich nicht so viele. Und so konnte sie die, die sie hatte, einfach ablegen, auf Wiedervorlage sozusagen, und all die Dinge, die immer so einen schlechten Geschmack verursachten, wenn man dran denkt, die konnte sie ja auch da ablegen, auf Niemehrwiedervorlage. Und wenn dann die Gedanken doch wiederkamen, nachts zum Beispiel, oder wenn das Telefon klingelte und sie nicht wusste, wessen Nummer das war, dann konnte sie sagen: „Schert euch zum Teufel, Gedanken, ich weiß nicht, worum es geht, fragt meine Memos.“ Sie war nicht mehr zuständig.

      „Und dann wird das nächste Jahr wieder besser“, dachte sie, „ich durchschreite eine Sohle, ein Sohlental. Und dann wird die Funzel wieder aufgerüstet. Talsohle muss das heißen? Echt? Auch gut. Aber Funzel aufrüsten gefällt mir.“

      Gut, dass sie nicht nur keinen Kerl, sondern auch kein Balg am Hals hatte, keinen Paul und keine Paula und wie die kleinen Nervenräuber alle hießen. Wieso war ihr Igor eingefallen? Hatte sie ihn Onkel genannt? Ach ja, wegen der Finger.

      Aber sie hatte noch einen Piccolo, übriggeblieben, hinten im Küchenschrank. Ihre Hand prüfte die Temperatur. „Kälter muss der gar nicht sein“, dachte sie und zog das grüne Fläschchen hervor. „Der kommt gerade richtig.“ Ein Glas herauszuholen, lohnte sich nicht, nicht für den Schluck, den Abwasch könnte sie sich sparen, befand sie. Sie schraubte den kleinen Verschluss ab. Sie mochte dieses feine Klicken, wenn das Aluminium-Gewinde aufbrach, diesen kleinen Sieg, diese kleine Niederlage.

      4

      Samstag, 6.2.16

      Kalt und grau hatte der nächste Tag begonnen. Dichter Nebel hing über den Fichten, geregnet hatte es auch etwas. Ein paar Schnee- und Eisflecken lagen noch auf dem Weg. Sie waren in der Nacht wieder gefährlich glatt geworden und flößten Stojan Respekt ein. Er achtete bei seinen Spaziergängen mit Fido zwar auf den Witterungsverhältnissen angepasstes Schuhwerk, allein schon, weil er immer mal mit einem plötzlichen Ausreißversuch des Hundes rechnen musste. Wenn also ein Reh meinte, den Weg kreuzen zu müssen, half nur schnelle Reaktion, festes Zupacken und eben Standsicherheit. Sonst hatte er keine Chance. Auch ohne Fidos Dazutun war er im sich langsam verabschiedenden Winter auf einsamem und unwegsamem Gelände öfter mal mit einem Fuß weggerutscht und hatte nur mit Glück einen Sturz vermeiden können. Gerade sein linkes Knie meldete sich in letzter Zeit öfter ungefragt mit unangenehmem Reiben und Ziehen und ließ ihn seine Strategie des konsequenten Ignorierens manchmal hinterfragen. Die verschiedensten Szenarien mit ihm selbst als hilfloser Hauptdarsteller wegen eines Wirbel- oder Beinbruchs war er schon durchgegangen, keines konnte ihm gefallen. Immerhin versuchte er seitdem daran zu denken, sein Handy mitzunehmen. Vorzugsweise aufgeladen. Und wen hätte er dann angerufen, vorausgesetzt, er wäre weder hilflose Person im Funkloch noch sonst körperlich oder geistig außerstande, ein paar Knöpfe zu drücken? Die Tochter? In Hamburg? Gut, die könnte den Notarzt bestellen, doch das hätte er dann auch selbst gekonnt. Seinen Bruder, fast genauso weit weg? Der ihm dann erst mal einen Vortrag gehalten hätte, er solle endlich mal etwas Sport treiben, nicht so viele gesättigte Fettsäuren zu sich nehmen, Alkohol und Gewicht reduzieren und ähnliche Dinge, die man im Notfall auch gerade brauchen konnte und gerne hörte und die noch nicht einmal gut gemeint waren. Nein, Andreas konnte ihm gestohlen bleiben, fast siebzig, aber immer noch der große Bruder, mischt immer noch in seiner alten Hausarztpraxis in der Nähe von Buxtehude mit, obwohl er längst einen Nachfolger hat. Kann einfach nicht loslassen, redet sich ein, er werde noch gebraucht. Sei unverzichtbar. Okay, so richtig losgelassen hatte der kleine Bruder Peter ja, strenggenommen, auch noch nicht. Und seinen Blutdruck könnte er mal wieder messen, der kleine Bruder, kann nicht schaden.

      Dann der halbtaube frühpensionierte Hauptfeldwebel, der mit seiner immer seltsamer werdenden Schwester als einziger Nachbar weit und breit in dem heruntergekommenen Fachwerkhaus mit dem merkwürdigen Antennenwald auf dem Dach wohnte? Der ging sowieso nie ans Telefon und schien wie seine Schwester auch intellektuell und logistisch damit überfordert, galt es, irgendjemanden am Verrecken zu hindern. War sich Stojan jedenfalls ziemlich sicher, unbeschadet dessen anzunehmender militärischen Ausbildung. Außerdem hassten sie Fido und unterstellten ihm wiederholt Grenzverletzungen bei der Erledigung wichtiger Geschäfte. Angeblich machten sie jetzt in Seher und Heiler mit eigener Homepage, alles sehr merkwürdig. Dass die beiden ein inzestuöses Verhältnis pflegten, hatte Stojan aber unter böswilliges Geschwätz eingeordnet und sich jedwede Beteiligung daran konsequent verkniffen. Größeren Wahrheitsgehalt wollte er dann schon anderen Gerüchten zubilligen, etwa dass Madame Goro, wie des Unteroffiziers Schwester jetzt zumindest auf dem Holzpfeil an der Auffahrt zu ihrem Schuppen hieß, die vor einem halben Jahr im Dorf vermissten und erst auf ihren Tipp hin wiedergefundenen Kühe selbst versteckt hatte. Das interessierte Stojan ähnlich wenig wie die Homepage.

      Von seinen Schachfreunden fiel ihm auf Anhieb auch keiner mit hervorragender Qualifikation in Berg- und Katastrophenrettung ein. Sonja? Klar, die wüsste natürlich, was zu tun ist. Oder besser noch Jankowski, der packte zu, auch wenn er nicht immer wusste, was er tat und vor allem, warum. Und für jede Lebenslage noch einen mal mehr mal weniger passenden Zweizeiler parat hatte, einen kleinen Kalenderspruch, eine Bauernregel; doch, es gab Leute, die mochten so etwas. Ob er sich selbst dazu zählen sollte, zumal außer Gefecht in einer ziemlich extremen Situation, naja, da kamen ihm Zweifel. Aber Jankowskis direkte Art hatte er immer geschätzt und ihn um manch einen schrägen Kommentar oder eine schlagfertige Antwort beneidet. Auch wenn der manchmal geradezu auf Stichwortgeber wartete. „Wo hast du denn den blauen Fleck her?“, durfte man Jankowski beispielsweise nicht fragen, es sei denn, man hatte nichts zu tun und Lust auf Geschichten.

      „Sei froh, dass ich überhaupt noch lebe!", so könnte dann der Einstieg in die folgende Story gehen, oder besser „Seid froh!“, und deutlich lauter als für nur ein Paar Ohren notwendig, so dass alle anderen im Raum und bei offenen Türen auch nebenan zum Zuhören oder Lauschen eingeladen waren. Und das musste man ihm lassen, erzählen konnte er. Banale Erlebnisse oder Nachrichten wurden gewürzt, vermengt, ausgerollt und breitgewalzt, bis große Dramen entstanden, die dann auch noch spannend und witzig vorgetragen wurden. Dass der Wahrheitsgehalt dieser Storys nicht immer jeder Überprüfung standhalten konnte, tat ihnen keinen Abbruch. Dafür und dass so jemand den oft grauen und ernüchternden Arbeitsalltag mit etwas Farbe und Ablenkung ausstattete, wurde er in der Abteilung nahezu geliebt. „Einer muss ja zuständig sein für Jubel, Trubel, Heiserkeit“, hatte Sonja gesagt, ohne Neid auf diese Rolle. Das klang dann eher froh, dass sie sich nicht auch noch


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