Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers

Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers


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habe, ohne länger als unbedingt notwendig von ihrem Handy aufzusehen. Das sei definitiv bei der zweiten Kontrolle, folglich hinter Kassel, wahrscheinlich sogar hinter Warburg gewesen. Nein, die Toiletten würden normalerweise nicht kontrolliert, es sei denn, ein ungewöhnlich langes Rot ließe den Verdacht auf einen versteckten Schwarzfahrer aufkommen oder sonst jemanden, der zu Ordnung, Anstand oder Sitte gerufen werden müsse. Stojan stutzte, las den Satz noch einmal. War das etwa wörtliches Zitat eines Ermittlungsbeamten? In der Zweitberufung Spaßvogel? Oder hatten sich ein paar Zyniker ins Team geschlichen, die es sich nicht nehmen ließen, allzu trockene Berichte mit ihrer eigenen Note zu würzen? So etwas hatte ihm nie gefallen und er war fast erleichtert, dass er das Unterschriftenkürzel zu dieser Seite nicht zuordnen konnte. Jedenfalls war es keiner von seinen Leuten, die sich in den ersten Tagen nach Entdeckung der Leiche auf das direkte Umfeld der Toten konzentriert hatten.

      Da auf dem Totenschein „unnatürliche Todesart“ angekreuzt worden war, landete Irene Altmann schließlich nachmittags auf dem Seziertisch des Instituts für Rechtsmedizin Dortmund. Als Todesursache wurde Ersticken durch Würgen mit Bruch von Zungenbein und Kehlkopf festgestellt. Der Angriff musste von hinten erfolgt sein, und zwar wahrscheinlich von einem Rechtshänder. Ebenfalls auffällig war ein erhöhter Insulinwert im Blut, der weitere und genauere Untersuchungen veranlasste. Man fand eine Einstichstelle im Bereich der linken Halsschlagader vermutlich durch eine Injektionsnadel, deren Kaliber deutlich größer war als üblich bei einer therapeutischen Insulinverabreichung. Eine Unterzuckerung war noch nicht eingetreten. Ob die Insulinkonzentration im Blut zum Tode hätte führen können, ließ sich nicht sicher nachweisen, wohl dass die Injektion noch zu Lebzeiten erfolgt sein musste, bei noch wenigstens für ein paar Sekunden funktionierendem Kreislauf. Ansonsten waren keine weiteren Auffälligkeiten zu Protokoll genommen worden.

      Die Identifizierung war rasch gelungen, in ihrer linken hinteren Jeanstasche hatte sie eine EC-Karte ihrer Bank. Wie sich später im Laufe der Ermittlungen ergeben sollte, hätte sie zum Zeitpunkt ihres Todes über 720 Euro verfügen können.

      Sobald sich absehen ließ, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelte, war eine Sonderkommission gebildet worden mit Teams aus der Kreispolizeibehörde des Hochsauerlandkreises und weiteren Teams aus der für den Fundort der Leiche zuständigen Polizeibehörde Hamm. Zeitweise bestand die Soko Irene aus 45 Mitarbeitern. Stojan hatte die Ermittlungen nur wenige Tage und mit einer gewaltigen Dosis an Schmerzmitteln leiten können, bis er notfallmäßig in der neurochirurgischen Klinik in Dortmund an einem Bandscheibenvorfall im unteren Lendenwirbelsäulenbereich operiert wurde. Dass er auch heute noch seine rechte Großzehe nicht mehr richtig anheben konnte, schoben die Ärzte auf die zulange hinausgezögerte Behandlung. „Seien Sie froh, dass Sie das Bein überhaupt noch bewegen können, Sie indolenter Dickschädel!", musste er sich danach noch mehrmals anhören. Immerhin ließ er sich dann doch auf eine stationäre Reha ein, sodass er insgesamt fast fünf Wochen ausfiel. Für Sonja, die ihn vertrat, war es die erste Mordermittlung in leitender Funktion, die unter diesen Umständen offiziell zuständige Leitung der Soko blieb beim Ersten Kommissariat Hamm. Auf Stojans Drängen hin wurde er während seiner Reha zwar gelegentlich häppchenweise mit E-Mails und SMS gefüttert, aber richtig beteiligt wurde er an den Ermittlungen nicht.

      Als er schließlich wieder mitmachen konnte, war die Soko auf sein eigenes Team von fünf Leuten geschrumpft, der Fall Irene Altmann aus der Presse und damit dem öffentlichen Interesse verschwunden. Zugleich hatten sich andere Akten Platz auf den Schreibtischen gesucht und genommen, und wenn die Kollegen des Gewaltdezernats morgens die dringlich zu bearbeitenden Dateien auf ihren PCs aufriefen, mussten sie ziemlich lange hinunterscrollen, bis sie auf die Tote aus dem Zug stießen. Die lokalen und natürlich auch die für Sensationen allgemein und für sex and crime besonders zuständigen überregionalen Zeitungen hatten ihre Leserschaft zunächst täglich seitenlang mit Texten voller Ausrufe- und Fragezeichen bombardiert. Dazu kamen überraschend schlechte Fotos vom Opfer zu Lebzeiten, bessere vom Tatort, noch bessere vom Polizeisprecher.

      Vielleicht hätte es mehr Hinweise aus der Bevölkerung gegeben, wenn dies umgekehrt gewesen wäre. Nun, die Texte wurden kleiner und schmuckloser und immer seltener, die Fotos wurden nicht besser, der Polizeisprecher tauchte als letzter nach drei Wochen noch einmal auf und bedankte sich für die Vielzahl der Hinweise und versprach, dass weiter mit Hochdruck in alle Richtungen ermittelt werde. Es gebe vielversprechende Spuren und man sei optimistisch, zeitnah eine Verhaftung durchführen zu können.

      Auf den Tag elf Monate nach dem Tod der einzigen Tochter starben die Eltern Ernst und Agnes Altmann bei einem Verkehrsunfall. Sie waren mit ihrem fünfzehn Jahre alten Renault Clio gegen einen Autobahnbrückenpfeiler geprallt, Bremsspuren fand man nicht, Gurtspuren auch nicht, statt eines Abschiedsbriefs eine leere Flasche Wodka zwischen den Autotrümmern. Alkohol hatten die Eheleute laut einiger Aussagen in ihrem Umfeld - viele hatte man da nicht mehr befragt, warum auch? - selten und sehr gemäßigt getrunken. Es sah alles so aus, als hätten sie den Jahrestag des Mordes an ihrer Tochter nicht mehr abwarten können. Der Vater war schon lange nicht mehr im Schützenverein erschienen, hatte nicht mehr an der Tippgemeinschaft teilgenommen, die Mutter wegen Erkrankung kaum noch Pflegevertretungen angenommen. Bei Pepe hatten sie noch ein paar Mal ohne große Lust und Freude etwas bestellt und dann kaum angerührt. In der Hosentasche von Ernst Altmann fand man später die Quittung einer Gärtnerei über für drei Jahre im Voraus bezahlte Grabpflege für Irene Altmann, Familiengrab Nummer 702. Achthundert Euro hatte er dafür bezahlt.

      Stojan erinnerte sich gut an die Artikel im Westfalenkurier, den er sich nach Bad Sassendorf hatte nachschicken lassen, und die ihn jetzt noch einmal, im Ordner chronologisch sortiert, ärgerten. Dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen unbekannt schloss, zwölf Monate und acht Tage nach dem Mord an Irene Altmann und einen Monat und acht Tage nach dem Unfalltod oder Selbstmord ihrer Eltern, fand nicht den Weg in die Nachrichten, Lokales oder Vermischtes aus aller Welt. Der Polizeisprecher hatte sich längst mit demselben Foto, aber in anderer Sache etabliert: Er bedankte sich bei der Bevölkerung für die zahlreich eingegangenen Hinweise auf den Feuerteufel, der für insgesamt sechzehn Scheunenbrände im Großraum Dortmund verantwortlich gemacht wurde, und aufgrund derer man mit einer baldigen Verhaftung des Täters rechnen könne. Auch daran erinnerte sich Stojan gut. Tatsächlich war der Feuerteufel drei Wochen später gefasst worden.

      Er verbot sich weitere Abschweifungen. Wenn er irgendwo doch noch irgendetwas finden wollte, irgendeine Antwort auf eine der vielen Fragen, um den Fall noch einmal aufzurollen, eine Wiederaufnahme der Ermittlungen zu bewirken, um einen Mörder seiner Strafe zuzuführen, um einen besseren Schlaf in seinen Nächten zu finden, musste er nüchtern bleiben, bei den trockenen Fakten. Fantasie war erlaubt, sicher, sogar nötig, aber in kleinen Dosen.

      Er klappte sein Tablet auf, um den Posteingang seiner E-Mails durchzusehen.

      „Fido, wir sollen wieder zu einer der berüchtigten Familienfeiern in die Heide, diesmal aber nicht mehr das Parkcafé. Wie hieß der Kellner noch? Zlatko, richtig. Weißt du noch, wie viel das gekostet hat? Also für die Versicherung?“

      Fido öffnete ein Auge, seufzte einmal tief, um dann wieder in ein leises gleichmäßiges, sehr gesund klingendes Schnarchen zu verfallen. Stojan erinnerte sich an diese zunächst recht langweilige Feier vor mittlerweile mehr als einem Jahr besser als ihm zuweilen lieb gewesen war. Langweilig war es dann auf einmal nicht mehr gewesen, das lag vor allen an den beiden Hauptdarstellern des zweiten und letzten Teils der Veranstaltung. Wenn man die Cousine zweiten Grades dazurechnen wollte, ja vielleicht auch seine Wenigkeit, kam man sogar auf vier Beteiligte. Gut, fünf, den Neffen oder Großneffen - wer das überhaupt war, wusste er bis heute nicht – wollte er mal mitzählen. Schließlich hatte dieser die ganze Szene geistesgegenwärtig mit Bild und Ton auf sein Smartphone gebannt und verewigt. Und wahrscheinlich verkauft, jedenfalls nahm er es schwer an, wenn es denn tatsächlich ein Mitglied der Großfamilie Stojan gewesen sein sollte.

      Zlatko, nein Dragan hieß der Kellner, jetzt fiel es ihm wieder ein, junger Kerl, geschickt, wie er Flaschen und Gläser und Torten und Tassen auf seinen Tabletts balancierte und offenbar Spaß an seinem Beruf hatte. Er hatte das Bild noch genau vor Augen, wie Dragan mit einem Tortenstück auf dem Tablett neben einem reich dekorierten Cocktail zunächst zögerte, dann aber zielstrebig die entfernte Cousine ansteuerte. Er erinnerte sich gut,


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