Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers

Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers


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Küche gegen drei Uhr getroffen, zusammen etwas Obst gegessen. Sie hatte erzählt, dass sie ab sofort bis zu ihrer Prüfung montags immer frei hätte.

      Dann hätte sie sich verabschiedet, sie wolle noch zu Ralf, wahrscheinlich würde sie auch da schlafen, wüsste sie aber noch nicht. Langsam schlendernd sei sie Richtung Stadt gegangen, sie hätte ihre gelbe Strickjacke getragen, einen Rucksack aufgehabt, in der Hand ihr Handy, das wisse sie genau. Sie habe dann abends oder in der Nacht nichts gehört, woraus sie hätte schließen können, Irene sei zum Schlafen wieder nach Hause gekommen. Sie seien früh zu Bett gegangen, sicher vor 22 Uhr. Am nächsten Morgen hätte sie noch eine Tasse Kaffee mit ihrem Mann in der Küche getrunken, habe sich dann fertig gemacht und sei zur Arbeit gefahren, ohne etwas von Irene gehört oder gesehen zu haben. Als sie am Mittag dann Irenes Zimmertür verschlossen vorfand, war das für sie nicht besorgniserregend. Sie vermutete sie bis zum Abend in der Praxis, vielleicht würde sie kurz mal während der Mittagspause hereinschneien, das sei alles nie fest verabredet gewesen. Kleine Snacks, die nicht verdarben oder im Laufe des Tages dann von ihr selbst oder ihrem Mann verzehrt werden konnten, hatte sie immer im Kühlschrank. Auch andere Regeln hatten sich eingespielt und dafür gesorgt, dass trotz einer gewissen Entfremdung zwischen Eltern und Tochter im Hause meistens Frieden herrschte.

      „Den Schlüssel zu ihrem Zimmer hatte Irene immer an ihrem Bund und wenn sie ihre Tür unverschlossen ließ, hieß das: Eintritt gestattet, egal ob sie selbst dabei war oder nicht,“ hatte Agnes Altmann gesagt. Das habe gut funktioniert und die Mutter habe diese Zeiten unregelmäßig genutzt, um wenigstens mal eben staubzusaugen oder frische Wäsche in den Schrank zu legen. Sie tat das gerne, es war sonst so wenig Nähe übrig geblieben zum einzigen Kind. Und sie war peinlich darauf bedacht, dieses kleine Vertrauen nicht aufs Spiel zu setzen durch neugieriges Herumschnüffeln. Ob und wann sie abends oder nachts nach Hause kam, war ihnen zwar bis zuletzt nicht gleichgültig gewesen, aber sie hatten sich irgendwann daran gewöhnt und auch mit dieser Ungewissheit einzuschlafen gelernt. Besser funktionierte das, wenn sie Geräusche von Tür oder Wasserspülung vernommen oder sich wenigstens eingebildet hatten. „Mal abends zusammen ferngesehen oder zu dritt Karten gespielt, mein Gott, wie lange ist das her. An meinem letzten Geburtstag im September ist sie zum Abendessen geblieben, wir haben zusammen gekocht. Mir hat Irene einen Strauß Blumen mitgebracht. Auch dem Vater hatte sie zum Geburtstag im Juli etwas geschenkt. Eine Lederhülle für sein Handy. Schwarzgelb. Wegen Dortmund. Borussia.“ Der junge Kollege mit den guten Noten hatte teilweise wörtlich zitiert. Stojan war sich sicher, dass die letzten Worte damals in einem Tränenausbruch verloren gegangen waren.

      Ralf, nein, Ralf war ihnen nicht vorgestellt worden, sie wussten, dass er manchmal in ihrem Haus und Irenes Zimmer übernachtete, wann zuletzt, wusste sie nicht. Eigentlich wusste sie nur, dass er Ralf hieß und ihr Freund sei, das hätte sie so beiläufig wie möglich mal erzählt, im April oder Mai mochte das gewesen sein. Anfangs hätte sie den beiden sogar noch ein kleines Abendessen und etwas zu trinken hingestellt, das sei aber demonstrativ nicht angerührt worden.

      „Wir kennen diese Freiheiten nicht, wir waren bei den Eltern und den Großeltern, und die haben wir gefragt und die haben uns gesagt, und wir brauchten kein Geld. Wir haben es abgegeben und zusammen alles gemacht und ausgegeben für Familie. Und das war gut. Aber hier ist alles anders, mit achtzehn und eigenem Geld ist Familie zu Ende, wird nicht mehr gefragt.“ So schwer sei es ihnen gefallen, Irene ihr eigenes Leben, das ihnen so fremd war und das so völlig ohne sie stattfand, zuzugestehen.

      Sie waren ja auch immer noch fremd in diesem Land, aber sie wollten nicht ewig fremd bleiben, nicht ewig anders. Noch wichtiger war ihnen: Ihre Tochter sollte nicht fremd bleiben, sollte dürfen, was die Nachbarstöchter auch durften, auch wenn sie es manchmal nicht ertragen konnten. Sie nahmen sich dann stumm in den Arm, bissen die Zähne aufeinander und schluckten ihre Wut hinunter, um sich nicht wieder Spott und Lächerlichkeit auszusetzen. Das wollten sie nämlich auch nicht ertragen. Das war ihnen sogar das Wichtigste.

      „Kam Ihnen das nicht spanisch vor? Dass sie so viel Geld hatte, nach Madeira reisen konnte?“, hatte Stojan laut Protokoll nachgefragt.

      „Das hat diese Modeagentur bezahlt, hat Irene gesagt. Sie müsste für die nur an einer Modenschau teilnehmen.“

      „Oder ist Ihnen sonst etwas aufgefallen, was ungewöhnlich war?“

      Sie hätte schon lange nicht mehr nachgefragt, wenn ihr etwas komisch vorgekommen sei, sie hätte gewusst, dass sie damit auch das letzte bisschen Vertrauen verspielt hätte. „Das geht euch nichts an!“ Zu oft hätte sie Irenes Wut gesehen, zu oft diesen Satz aus ihrem Mund gehört. Ja, und einiges sei ihr mittlerweile auch egal gewesen, die Nachbarn hätten auch nicht mehr von ihren Kindern gesehen und gewusst, wenn diese in dem Alter waren. Auch ihren eigenen Geburtstag im November habe die Tochter nicht zuhause gefeiert. Sie hätte nur gehofft, dass sie ihre Ausbildung schafft, eine Anstellung findet und sich dann eine eigene Wohnung nehmen kann.

      Am besten in einem der Nachbarorte.

      Am Montag zuvor war Rosenmontag, da hatte der Doktor nie Sprechstunde abgehalten, das wusste sie, das sei im Ort so üblich. Die Abschlussprüfung wäre dann im April gewesen, den genauen Tag wüsste sie nicht.

      „Hatte sie denn keine Freundin, mit der sie ständig zusammen war? In dem Alter haben die doch meistens jemanden, dem man alles erzählt“, hatte sich Stojan vorgestellt.

      „Zuletzt eigentlich nicht, dass ich wüsste, aber was wusste ich schon. Früher, ja, Nicki hieß die, mit der war sie seit der Grundschule zusammen und mit der ist sie später zur Realschule gewechselt. Die beiden Mädchen haben auch ein paar Mal ihren Geburtstag zusammen gefeiert, die waren nur einen Tag auseinander, ein Jahr und einen Tag, glaube ich.“

      „Nicki?“

      „So nannte sie sich, sie hieß, Moment, ich komme gleich drauf, aber als kleines Mädchen war sie nur Nicki, so habe ich sie in Erinnerung. Später sprach Irene auch mit einem anderen Namen von ihr, warten Sie…, nein, ich komme jetzt doch nicht drauf.“

      Offenbar hatten sie es dabei belassen. Vermerkt war noch, dass Rucksack und Handy fehlten. Die gelbe Jacke hatte sie noch getragen, als sie schon nicht mehr lebte. Sie war über die rechte Schulter gezerrt worden, im Kampf oder bei dem Versuch, wieder Leben in ihren Körper zu drücken oder zu hauchen.

      8

      Mittwoch, 10.2.16

      Er blätterte zurück zum Obduktionsbericht: metrische Angaben, äußere Leichenschau, innere Leichenschau, serologische und toxikologische Analysen.

      Todesursache: eindeutig Strangulation, Erwürgen, Genickbruch. Zahnstatus. Alles mit vielen Zahlen. Zahlen, die plötzlich angehalten worden waren. Übriggeblieben waren von einem Menschen.

      Das Tattoo, es war als 3 mal 3 Zentimeter große Tierfigur beschrieben worden, „einem Hirsch oder Steinbock ähnlich". Stojan fuhr mit seiner Lupe über die Fotos des Leichnams. Er war mit Sicherheit hier nicht in seinem Metier, aber er fand sowohl die Stelle an der Innenseite des rechten Unterarms ungewöhnlich als auch die grell leuchtenden Farben, die der Fotograf dankenswerter Weise noch einmal in einem vergrößerten Ausschnitt herausgearbeitet hatte. Zumal sonst kein anderer Körperschmuck gefunden worden war. Auch vergrößert erinnerte es ihn aber weniger an Hirsche oder Steinböcke, eher an ein Fabelwesen, trotzdem glaubte er, so etwas Ähnliches schonmal irgendwo gesehen zu haben.

      Auf Modelseiten im Internet sei sie unterwegs gewesen, hatte die Mutter gesagt, möglicherweise hatte auch die Madeirareise etwas damit zu tun. Hatte sie ihrer Mutter gegenüber behauptet, vielleicht ja auch nur, um nichts anderes erklären zu müssen. War sie ein Modeltyp? 174 cm, stand oben in der dritten Zeile, 54 Kilogramm schwer, offenbar durchaus branchenübliches Untergewicht knapp oberhalb von bereits manifestem Gesundheitsrisiko. Kühl, distanziert, etwas unfreundlich, hatte sich nicht dieser Eindruck ergeben aus den Aussagen der Zeugen ihrer letzten Lebensmonate? Und passte dieser Eindruck nicht auch bestens zu seinen Vorstellungen von diesem Metier? Halbseiden, fiel ihm dazu ein und musste grinsen, "genau, halbseiden im wörtlichen und übertragenen Sinn", sagte er jetzt halblaut vor sich hin. Fido guckte von seinem Beobachtungsposten kurz auf, registrierte, dass er nicht gemeint war, und drehte sich wieder zum Fenster. Hatte das


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