Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers
dachte er. Schließlich hatte er genug Zeit, um sie zu verschwenden, brauchte niemandem Rechenschaft ablegen, und Angst, sich lächerlich zu machen, kannte er bisher nicht. Dringlichere oder eher Fortschritte oder gar Erfolg versprechende Ansatzpunkte sah er im Moment keine. Also, was soll's? Im Anhang der Akte waren die Namen sämtlicher befragten oder zitierten Zeugen aufgelistet, so wie er es immer in seinem Team gewünscht hatte, mit Adresse und, soweit vorhanden, Telefonnummern. Die von Ralf Lichtmann stimmte nicht mehr, der hatte damals eine Festnetznummer angegeben, die zurzeit nicht mehr vergeben war, wie die nette Automatenstimme ihm dreimal erklärte. Das hätte sie auch sicher noch ein paarmal öfter getan, hätte er nicht plötzlich, aus seinem Gedankenchaos aufschreckend, aufgelegt, um noch einmal zu den Leichenfotos zurückzukehren. Wieder nahm er die Lupe zur Hand. Nach ein paar Minuten mit und ein paar Minuten ohne Lesebrille war er sicher, dass sich zu diesem Tattoo eine intensive Recherche lohnen würde. Warum wusste er allerdings nicht. Das war Gespür, siebter Sinn, da war er sich mit seiner Kriminalernase seinem Hund ganz nahe. Und das Tattoo erinnerte ihn auf einmal an stilisierte Springer, wie er sie mal in einer Ausstellung von Schachfiguren gesehen hatte. Oder? Immerhin war er mal auf einer solchen Ausstellung gewesen, aber ganz sicher nicht auf einer Ausstellung von Steinböcken. Das hätte er gewusst. So etwas vergisst man nicht. Man konnte nicht behaupten, die Soko hätte schlampig gearbeitet. Nein, im Gegenteil. Viele Fakten waren zusammengetragen worden, Befragungen von Mitreisenden im Zug, von Passanten auf den Bahnsteigen, Überprüfungen von Fahrplänen, das sah alles nach Fleißarbeit aus, nach Routine, Nachweis abgeleisteter Zeit, abgelaufener Kilometer. Trotz der Menge an beschriebenem Papier, eingescannten Fotos und Artikeln, irgendwie war der ganze Ordner für Stojans Geschmack zwar dick, aber nicht fett, zu luftig, zu wässerig, zu sehr angereiht; es fehlte Esprit, Mut zu einem Kommentar, zu einer Idee, auch Spekulationen waren tunlichst vermieden worden.
Er musste unbedingt mal wieder raus, sich etwas Wind und Wetter um die Nase blasen lassen. Fido war derselben Meinung, heute hatten sie noch gar nicht zusammen getobt, da sollte ja wohl wenigstens ein ordentlicher Spaziergang auf dem Programm stehen. Außerdem hatte er das schon vor Stunden versprochen, dann aber den Hund nur mal kurz durch den kalten Garten gejagt.
Wenn er ermittelte, dann war das früher im Team gewesen, das heißt, er konnte delegieren, es geschah etwas im Hintergrund, es kamen plötzlich Ergebnisse, ohne dass er etwas Konkretes dazu beigetragen hatte. Einmal vor vielen Jahren hatte er für seinen Schachverein an einem Mannschaftskampf teilgenommen, war den ganzen Tag wegen absoluten Handyverbots nicht erreichbar gewesen und bekam abends den Mann in Handschellen präsentiert, den sie wegen schwerer bewaffneter Raubüberfälle seit einem Jahr gesucht hatten. Jetzt konnte er mit solch freudigen Überraschungen natürlich nicht rechnen.
Alles musste er allein machen und entscheiden. Er wusste, dass zumindest Sonja nicht maulte, wenn sie für ihn mal etwas nachsehen, telefonieren oder mitdenken sollte, dafür war sie zu sehr leidenschaftliche Kriminalerin. Es fehlte nicht nur der ganze Apparat, es fehlte auch der Druck, das Muss, aber auch die andere Perspektive, die Ebene der Kontrolle und Rechtfertigung, in der auch nicht laut gestellte Fragen nach dem Wieso und Warum behandelt werden mussten. Er hatte zwar Zeit für seine Überlegungen, Nachforschungen, Analysen, aber Fehler um Fehler könnte er machen, ohne daran gehindert zu werden, die ihn dann auf ganz falsche Wege hätten führen können. Deswegen musste er genauer sein, noch kritischer, selbstkritisch. Stojan griff zum Handy. "Hallo Tasso, kochst du heute? Ich habe schon seit Tagen nichts Gescheites mehr gegessen." Tasso bot normalerweise am Wochenende für ein ausgesuchtes Publikum, sprich Stammgäste, denen er irgendwie freundschaftlich nahe war, ein hervorragendes Menu an, das er frei je nach Angebot der umliegenden Märkte zusammenstellte. Hier tobte er seine mediterrane Herkunft und seine Leidenschaft aus, für ganz selten mehr als zehn Gäste. Manchmal schrieb er die Speisenfolge auf eine alte Schiefertafel, je nach Lust und Laune mit viel Fantasie im Stil der französischen oder italienischen Sternelokale, oft hieß es eher knapp und einfach Dorade, Makkaroniauflauf, Wildschweinkeule. Bezahlt wurden ziemlich willkürlich genannte runde Summen, die nur wenig über dem Einkaufspreis der Zutaten liegen konnten. Manchmal, wenn genug Lust vorhanden und nicht zu viel Betrieb im Schankraum herrschte, kochte er für ein paar Gäste auch unter der Woche, gerne mittwochs, wenn Champions League Spiele im Fernseher von einem Bezahlsender gezeigt wurden, den er nicht abonniert hatte. Dann leerte sich sein Lokal erfahrungsgemäß kurz nach acht.
Heute war Mittwoch. Und wenn Stojan richtig informiert war, auch Champions League. Er hörte richtig, wie Tasso am anderen Ende der Leitung um eine Antwort rang, fast eine halbe Minute kam nur Schnaufen und Geräusper durch den Äther. „Okay, Peter, nicht vor neun und bring noch drei Esser mit, nette, du weißt." Kleine Pause, noch ein Räuspern. „Dann gibt's Lammkeule, mit weißen Bohnen."
Stojan schmunzelte. „Ganz hervorragend, mein Lieber. Die Idee hätte von mir sein können, freue mich schon.“ Wo hatte er bloß so schnell eine Lammkeule her? Wahrscheinlich war sie längst im Ofen, so wie er Tasso kannte. Und der hatte nur darauf gewartet, dass einer anruft und fragt. Weil er sonst selbst seine Gäste hätte zusammentrommeln müssen. Stojan glaubte, das Spielchen zu durchschauen. „Und bitte keinen griechischen Wein dazu, geht das?"
„Klar, weil du 's bist. Ich habe noch einen sizilianischen Nero, ist der okay?"
„Va bene, Greco, du bist mal wieder eine große Freude" sagte Stojan und lachte.
„Du mich auch", konterte Tasso und fiel in das Lachen ein.
„Neun Uhr! Und einen Streifen Lamm roh, ohne Salz, ohne Knoblauch, ohne Alkohol? Wie immer, okay? Und gib uns das hintere Zimmer, wenn ´s geht!" Schließlich wollte er, wenn er schon für dreieinhalb essen sollte, das wenigstens ohne fremdes Publikum tun. Denn außer Fido kam ihm jetzt kein netter Mitesser in den Sinn, den er auf die Schnelle motivieren konnte. Aber er hatte auch noch nicht überlegt.
„Jetzt geht´s los, ja, endlich Fido, der Abend ist gerettet." Er stöberte noch ein bisschen in seinem Bücherregal. Bücherregal war schon ein bisschen Understatement. Eigentlich war es sein ganzer Stolz. Andere, deren Meinung ihm nicht egal war, konnten ihm eine Freude machen, wenn sie von seiner „Bibliothek“ sprachen. Mittlerweile dürften sich an den drei fensterlosen seiner sechs Wände an die zweitausend Bände angesammelt haben, zählte man die Schachbücher, Kochbücher und Reiseführer nicht mit. Tasso las in der Regel gerne von ihm ausgeliehene und empfohlene Bücher, jetzt wollte er etwas sorgfältiger aussuchen als das letzte Mal. Da hatte er aus der Ecke, in der er besondere Schätze hortete, eben Lieblingsbücher, Tasso als Leihgabe anlässlich einer ähnlich spontanen Selbsteinladung wie heute wahllos drei Bücher gegriffen, von denen er lediglich annahm, sie Tasso nicht früher schonmal geliehen zu haben.
Drei Wochen später hatte Tasso ihn mit sorgenvoller Miene empfangen: „He, Peter, was ist los mit dir? Brauchst du eine Frau oder mal ein paar Blumen, oder bunte Pillen? Merkst du nicht, dass du nur Geschichten von melancholischen alten Männern liest? Oder bist du etwa selbst einer?" Trotz seines wie fast immer fröhlichen Gesichts schien er ernsthaft besorgt und Stojan war ein bisschen erschrocken.
So hatte er das noch nie gesehen, aber tatsächlich: Wer wollte, konnte das so sehen. Die ersten beiden Bücher hatte er schon vor vielen Jahren und dann mehrmals gelesen, der Kirchhoff war noch nicht so alt. „Zufall, aber wahrscheinlich können die besseren Sachen und die, die etwas Nachhaltiges an sich haben, nicht auch noch dauernd komisch sein.“ War sein erster Verteidigungsversuch. „Ich denk' mal drüber nach, und dann stöbere ich in meiner Bibliothek nach Alternativen. Okay?“ Sein zweiter. „Außerdem, ich glaube, ich stand immer schon auf ein bisschen dunkleren Tönen, und Melancholie ist ja nicht Depression, bei mir jedenfalls nicht, aus so einer Stimmung kann ich für mich eher positive Energie und Kraft ziehen als aus dem Ganzen möglichst heiter und lustig und laut und Schenkelklopfen, koste es, was es wolle. Ich kann mir die Ungemütlichkeit gemütlich machen, Gedichte und leise Klaviermusik am offenen Kamin im November, und draußen Nebel und an die Scheiben klatschender Regen, das zieht mich hoch, Schützenfeste und Schlagerparaden ziehen mich aber richtig runter. Das war schon immer so, und apropos Schlager: gute Songs oder Chansons habe ich immer geschätzt, Franzosen, Italiener, ich mag auch eure Farandouri. Ich habe zwar nie etwas verstanden, aber hab sie immer als etwas schwermütig empfunden und gerne gehört. Bei uns gab es mal eine Frau mit einer großartigen Stimme, irgendein russischer