Der lange Weg in die Freiheit! Deckname "Walpurgis". Dr. Helmut Bode
von Programmen für die Erlangung des Titels „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ usw., unsere kostbare Arbeitszeit vergeuden bzw. sie uns stehlen lassen. Wir hatten es längst aufgegeben zu glauben, dass sich die Verhältnisse in der DDR jemals im Sinne unserer Vorstellungen von einem Leben in Recht und Freiheit entwickeln würden.
Eine Klicke von Menschen, die sich Partei- und Staatsführung nannte und die sich als Machtinstrument eine Partei geschaffen hatte, welche von sich behauptete, dass sie immer Recht hat, konnte für uns kein Vorbild sein. In solch einem Staat wollten wir nicht leben, auch wollten wir nicht, dass unsere Kinder von solchen Leuten indoktriniert werden, wie man es immer wieder mit uns versucht hat.
Wir wussten, dass es ein Deutschland gibt, in dem viele unserer Vorstellungen vom Leben eine Selbstverständlichkeit sind, da wollten wir mit unseren Kindern leben.
Wir hörten immer nur von den Zahlen, die in Gießen als Übersiedler angekommen waren! „Wer sind diese Menschen, wie macht man das?“ war immer wieder unsere Frage. Bald lernten wir sie kennen, diese „Ausreisewilligen“. Erst waren es Bekannte die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, dann deren Bekannte und wiederum deren Bekannte, immer so weiter, es war eine Kette ohne Ende. Plötzlich waren wir Teil dieser Kette, denn am 6. Juni 1984 stellten wir den Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR beim Rat der Stadt Magdeburg, Abteilung Inneres!
Es begann das Warten und die Ungewissheit, wie wird die so um uns besorgte Staatsmacht zuschlagen. Sie schlug zu, zunächst schickte sie erst einmal ihre linientreuen Genossinnen und Genossen in unseren Arbeitsstellen vor. Die uns aus tiefster Überzeugung einreden wollten, dass wir zu solch einem Schritt, d.h. von Deutschland nach Deutschland zu fahren, was sie selbst nun seit dem Fall der Mauer ohne Bedenken und innere Skrupel ganz sicher gemacht haben, kein Recht hätten.
Die in der kommenden Zeit uns gegenüber immer wieder geäußerten Redewendungen waren: „Sie haben kein Recht dazu!“; „Sie verraten die Sache des Sozialismus!“; „Ihr Verhalten unserem sozialistischen Staat und seinen Bürgern gegenüber ist unwürdig!“; „Ihre Gründe sind absurd!“ usw.
Wir werden sehen, wozu Menschen fähig sind, die heute noch immer die Meinung vertreten, sie hätten nur ihre Pflicht getan, obwohl das Experiment „Sozialismus“, zu dessen Versuchstieren wir gehörten, jämmerlich gescheitert ist!
Hier nun das, was wir in den nächsten eintausendsiebenhuntertundfünfzig Tagen und einer Nacht erlebt haben. Vieles lässt sich nicht mit Worten ausdrücken, nur das Fassbare habe ich versucht wiederzugeben.
2. Der Antrag und die 2. Hälfte des Jahres 1984
Es war das erste Wochenende des Monats Juni. Rosemarie hatte Sonnabend von 9 bis 13 Uhr in der zentral in Magdeburg gelegenen Rats-Apotheke Dienst. Vorwiegend im Handverkauf, wo die Schlangen in der Offizin nicht abrissen! Anschließend begann, in der gleichen Apotheke, bis Sonntag 13 Uhr, ihr Bereitschaftsdienst.
Nachmittags war ich noch einmal kurz bei ihr in der Apotheke, ehe der gewöhnlich am frühen Abend einsetzende Patientenstrom, mit Rezepten von den ärztlichen Bereitschaftsdiensten, ihre volle Zeit und Konzentration in Anspruch nehmen würde. Bis zum Mittag des Sonntags hatte sie dann ca. einhundertachtzig Rezepte abgegeben bzw. Rezepturen angefertigt, sodass an Schlaf nicht zu denken war.
In diesen etwa 30 Minuten haben wir uns endgültig entschlossen, für uns und unsere Kinder einen Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR zu stellen. Unsere 15-jährige Tochter war in dieses Vorhaben bereits einbezogen und wir hatten ihre volle Zustimmung. „Wenn Ihr es jetzt nicht macht, dann mache ich es, wenn ich 18 bin!“ war ihr Kommentar. Dabei haben wir uns noch gedacht, na so lange werden wir ja wohl nicht mehr hier sein! Wir sollten uns noch wundern.
Uns war klar, der Weg, der nun vor uns lag, war nicht einfach, aber, wir wollten ihn gehen! Der Entschluss war nun gefasst, sodass wir am Mittwoch, dem 6. Juni 1984, nun endlich unser Gesuch an den Rat der Stadt Magdeburg, Abt. Inneres, aufsetzten:
»Gesuch auf Übersiedlung in die BRD
Hiermit stelle ich für meine Familie und mich den Antrag auf Ausreise aus der DDR zwecks Übersiedlung in die BRD. Wir beziehen uns hierbei auf die Schlußdokumente des Madrider Treffens über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
In der BRD leben der Bruder meiner Frau und ihre Tante, die meine Frau in der Kriegs- und Nachkriegszeit, an Kindes Statt, großgezogen hat und zu der meine Frau eine tiefe innere Bindung hat.
Wir sehen mit der Uebersiedlung in die BRD, auf Grundlage o.a. Schlußdokumente, eine Möglichkeit der familiären Zusammenführung, zumal die Tante im Alter auf unsere Unterstützung rechnet.«
Am darauffolgenden Tag brachte ich das Schreiben, ich muss schon sagen, mit recht gemischten Gefühlen, zur Post. Damit war aus dem Entschluss Realität geworden!
Am Freitagabend dieser Woche fand unser Sektionsball im Herrenkrug statt, an dem wir, wie jedes Jahr zuvor, teilnahmen. Es kam bei uns beiden, wie sonst zu diesem Anlass üblich, keine rechte Stimmung auf. Der Ausreiseantrag und die daraus resultierenden Folgen bedrückten uns, ob wir es uns nun eingestehen wollten oder nicht, sehr!
Am Dienstag, dem 19. Juni, wurde Rosemarie als Erste von uns, nach fast 14 Tagen bangen Wartens, zu einer Aussprache im Betrieb aufgefordert. Eigentlich war es keine Aussprache, wie es unter vernünftigen Menschen üblich ist, sondern ein Kreuzverhör, welches etwa wie folgt ablief.
Rosemarie gegenüber saßen die Genossin Stellvertreter in Vertretung für den Direktor des Versorgungszentrums Pharmazie und Medizintechnik Magdeburg, die Genossin Kader sowie der Leiter der Abteilung Arzneimittelherstellung (AMH) und eine Mitarbeiterin des von Rosemarie geleiteten Fachbereiches Galenik II in der AMH.
Die Genossin Kader eröffnete das Kreuzverhör: „Wie stellen Sie sich das mit Ihrer Ausbildung zum Fachapotheker vor?“ „Ich muss abwarten, ob meinem Antrag stattgegeben wird. Da ich die Hoffnung habe, dass ihm stattgegeben wird, wäre es zwecklos weiter zu machen!“ erwiderte Rosemarie. Nun ließ sich die Genossin Stellvertreter verlauten: „Das sind absurde Gründe!“
„Für mich nicht!“ erwiderte Rosemarie und äußerte weiter: „Ich trage mich schon länger mit dem Gedanken, dass es einen Weg geben wird, wo ich offiziell übersiedeln kann. Ich wollte es nicht klammheimlich machen. Die Möglichkeit dazu hatte ich, z.B. in Lissabon während des Zwischenstopps der Maschine der Airline von Moçambique auf dem Flug von Berlin nach Maputo zu einem Einsatz meines Mannes an der dortigen Universität, im September 1979. Zu meiner Tante besteht eine starke Bindung und ich möchte noch ein paar Jahre mit ihr zusammenleben. Ich habe deshalb den Antrag gestellt, zu ihrem 70. Geburtstag zu fahren. Ich dachte, dass ich so die Möglichkeit hätte sie zu besuchen, da sie krank und hinfällig wird und ihr die Reise schwerfällt. Mein Antrag wurde aber abgelehnt!“
„Schon vom Betrieb, da ihre Tante nicht Verwandtschaft ersten Grades ist!“ war die Erwiderung der Genossin Kader. Nun schaltete sich die Genossin Stellvertreter wieder ein: „Haben Sie dem Kollektiv etwas gesagt?“ „Nein“, antwortete Rosemarie, „es weiß keiner.“ „Ihr Chef ist ebenso überrascht!“ empörte sich die Genossin Stellvertreter und fragte: „Ist es von der ganzen Familie überlegt und keine Kurzschlusshandlung?“ „Ja!“ war die kurze Antwort von Rosemarie.
Dann überschlugen sich die Stimmen der beiden Genossinnen: „Sie sind nicht mehr in der Lage, das Kollektiv nach Prinzipien des Sozialismus zu leiten, fachlich ja. Die Befähigung ein Kollektiv leiten zu können hört auf, wenn Sie den Antrag stellen und nicht erst, wenn Sie die DDR verlassen!“
Darauf erwiderte Rosemarie: „Ich habe keine politischen Gründe, nur familiäre. Ich wäre hier bereit bis zum Schluss meine Pflicht als Leiter zu erfüllen!“
Nun versuchte es die Genossin Stellvertreter auf die versöhnliche Tour: „Überdenken Sie sich das, Sie können den Antrag zurückziehen, er wird wahrscheinlich abgelehnt!“ „Ich“, sagte Rosemarie, „will erstmal abwarten und habe die Hoffnung, dass meinem Antrag stattgegeben wird. Ich würde ihn wahrscheinlich immer wieder stellen. Das muss ich abwarten.“
Die