Der Abgerichtete. Maxi Magga
schaffte es nicht aus eigener Kraft, sich aus der Gefahrenzone zu rollen. Gleichzeitig mit dem Strom war ein aufdringlicher Heulton ausgelöst worden, der über dem ganzen Anwesen zu hören war. Erst nach vier langen Sekunden wurde Nummer Fünf erlöst, der Stromfluss stoppte, der Lärm verstummte. Er hätte jetzt viel darum gegeben, einfach nur liegenbleiben zu dürfen, aber Kovit riss ihn rücksichtslos wieder auf die Beine. Er verstand nicht, warum er so ans Haus gefesselt werden sollte. Schließlich war er ja von sich aus hier und würde auch freiwillig bleiben. Wenn er jetzt floh, hatte er für seine Familie doch rein gar nichts erreicht. Warum sollte er also versuchen zu fliehen? Konnte sein Herr das denn nicht sehen?
Die Herrin klatschte immer noch lachend Beifall, auch der Herr schien zufrieden mit der Vorführung:
„Gib dich keinen Träumereien hin, du stirbst nicht daran. Aber du wirst dich auch keiner Stelle nähern, von der ich es nicht will. Dafür ist gesorgt. Wenn du dich nicht innerhalb von sechs Sekunden nach dem Ende eines Stromstoßes zurückgezogen hast, schaltet er sich sofort ein weiteres Mal ein. Immer wieder von Neuem. Der Alarm dient eigentlich nur deiner Sicherheit. Damit jemand dich im Falle der Fälle wegziehen kann und damit den Krach beendet.“
Er lachte laut, wie nach einem guten Witz.
„Nach dieser kleinen Demonstration werde ich natürlich deinen endgültigen Bewegungsradius dauerhaft einstellen. Es sei denn, ich wollte ein wenig damit spielen. Dann kann der Radius 30 Zentimeter betragen oder 30 Meter, wie es mir gerade beliebt. Im Allgemeinen wird sich der Bereich, zu dem dir Zugang gewährt wird, auf die Fläche zwischen den Gebäuden im Süden und Osten und der westlichen und nördlichen Umgebungsmauer beschränken und zwar bis zirka zwei Meter vor den Außenmauern. Du kannst es gerne austesten. Du weißt ja nun wie. Aber bedienen kann ausschließlich ich das Gerät. Und die Wege und Mittel dazu liegen natürlich außerhalb deines Zugangs und vor allem außerhalb deines Verstandes. Spar dir also alle Versuche, das Halsband manipulieren zu wollen. Und jetzt kannst du deiner Herrin die Füße massieren. Sie wartet schon eine Weile darauf.“
„Ja, Herr.“
Noch am selben Abend begann die Abrichtung von Nummer Fünf zum Tischsklaven. Er musste sich die Namen von unendlich vielen Lebensmitteln, Getränken und Gegenständen einprägen, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Als Landkind war er sehr empfänglich für den dadurch zur Schau gestellten Reichtum. All diese Farben und Gerüche! Obst, Gemüse, wann hatte er jemals eine solche Fülle gesehen? Dazu Blumen über Blumen, ob kunterbunte Sträuße, Ton in Ton oder mit starken Farbkontrasten, überall heiterten sie die Räume auf. Und alles Naturalien, nicht ein einziges Teil davon stammte aus dem Drucker. Früher, in seinem ersten Leben, hatte er versucht, Kartoffeln und Getreide anzubauen, aber die Ernten waren gering und die Früchte oft mitleiderregend klein. Die Erde war schlecht, schon lange ausgelaugt. Eine gnadenlose Sonne verbrannte regelmäßig große Teile der jungen Gewächse, die wegen der immer ausgedehnteren Trockenzeiten nicht mehr ausreichend bewässert werden konnten. Nummer Fünf hatte deswegen geglaubt, dass inzwischen so gut wie jede Nahrung künstlich hergestellt wurde, aber hier erlebte er, ehrfürchtig staunend, nie gekannte Wunderwerke.
Nummer Fünf musste besonders aufpassen, dass er die unzähligen Regeln für nahezu jede einzelne Bewegung im Speiseraum nicht durcheinander warf. Von links oder von rechts an den Tisch treten, die richtige Gabel, das passende Glas auswählen, die Servierplatte in der korrekten Position halten und so weiter. Wieso nur legten sie einen solchen Wert darauf, dass sie sich am Glück dieses so überaus verschwenderischen Reichtums an Lebensmitteln, an frischen, echten Lebensmitteln, überhaupt nicht erfreuen konnten?
Von Nummer Fünf wurde nun erwartet, dass er all das schnellstens beherrschte, was nötig war, um seine Herrschaft und deren Gäste bei Tisch angemessen und stilvoll zu bedienen. Davon abgesehen musste er lernen, stundenlang absolut unbeweglich zu stehen und in Demutshaltung zu warten, bis seine Dienste erneut gebraucht würden, denn das Dinner in diesem Haus dauerte in der Regel sehr lang.
Kovit sah sich mehrmals an diesem Abend genötigt Nummer Fünf mit Schlägen zu bestrafen. Seine Arbeitgeber schienen dagegen trotz der nicht zu leugnenden Unzulänglichkeiten in der Leistung ihres Abzurichtenden entspannt, ja sogar gut gelaunt.
„Wie ein Bär im Designerladen! Aber das kriegen wir schon hin. Stimmt doch Kovit, oder? In einer halben Stunde bringst du uns eine von unseren Lieblingsflaschen ins Schlafzimmer, Nummer Fünf. Master Kovit wird dir zeigen, was ich meine. Und versuche bitte die Gläser in einem Stück abzuliefern.“
„Ja, Herr.“
Nummer Fünf verbeugte sich so weit, wie er es mit dem vollgestellten Tablett vom Abendessen in Händen wagte. Danach kämpfte er mit der Türklinke, die er einfach nicht zu fassen bekam. Kovit stand mit verschränkten Armen daneben und beobachtete eine Weile, teils unwillig, teils belustigt, die ungelenken Versuche, während Nummer Fünf die Röte ins Gesicht schoss.
„Beim nächsten Mal stellst du das Tablett ab und öffnest zuerst die Tür. Darauf wäre sogar ein Affe gekommen.“
Nummer Fünf ärgerte sich über sich selbst. Wie konnte er so dumm sein? Damit spielte er seinen Peinigern doch nur in die Hände. Trotzdem, das war mittlerweile klar, er hatte äußerlich völlig beherrscht und scheinbar ruhig zu antworten.
„Ja, Master.“
Er war zum ersten Mal im Keller des Gebäudes. Die Räume und Flure waren so verwinkelt und zugestellt, dass Nummer Fünf schnell die Orientierung verlor. Mit jedem weiteren Schritt fürchtete er an den Grenzen seines noch erlaubten Bereichs angekommen zu sein und den Elektroschocker in seinem Halsband auszulösen. Aber er hatte Glück. Unter Kovits Führung erreichten sie ereignislos den Weinkeller und hatten bald eine geeignete Flasche für die Herrschaft ausgewählt.
„Beeil dich, Mann. Bring den Wein hoch. Sie werden dich oben schon erwarten.“
Kovits breites Grinsen zog sich von einem Ohr bis zum anderen. Nummer Fünf konnte sich dafür keine Erklärung denken, aber das war gerade auch nicht sein drängendstes Problem. Nie in seinem Leben hatte er eine Glasflasche in Händen gehalten, aber etwas tief im Inneren sagte ihm, dass es wohl besser für ihn sei, wenn er sie der Herrschaft geöffnet übergeben würde. Hilflos irrte sein Blick jetzt in der Küche umher.
Plötzlich stand Nexor wie aus dem Nichts neben ihm und erschreckte ihn fast zu Tode.
„Was stehst du so schlapp in meiner Küche rum? Hast du nichts zu tun?“
„Ach so“, kicherte er beim Anblick der Flasche, während der Sklave nach Worten suchte, „du weißt nicht, was du damit machen sollst, wie? Möchte nur wissen, in welcher Steinzeithöhle sie dich aufgegriffen haben.“
Nummer Fünf fühlte, dass er wieder bis über die Ohren rot wurde. Zweimal an einem Tag so verhöhnt zu werden, war mehr als genug. Er versuchte krampfhaft nicht weiter darüber nachzudenken und sich nur auf das Öffnen der Flasche zu konzentrieren, das der Koch ihm beibringen wollte. Der füllte den Wein anschließend in eine Karaffe ab und goss den Rest aus der Flasche, den man, nach seiner Meinung, so Hochgeborenen keinesfalls zumuten konnte, in ein Glas für sich. Dann stellte er die Karaffe, zwei hauchzarte Weingläser und eine winzige Schale, die er blitzschnell mit Wasser und ein paar abgeschnittenen Rosenblüten aus einem Strauß gefüllt hatte, auf ein Tablett, das er dem Sklaven in die Hände drückte.
„Mach schon. Sie warten nicht gern. Und verschütte unterwegs nichts!“
„Nein, Master.“
Nummer Fünf wünschte sich sehnlichst, Nexor hätte das nicht gesagt. Wie auf Befehl fingen seine Hände nämlich an zu zittern und der Wein in der Karaffe schwappte bei jedem Schritt bedenklich hin und her. Bis zur Treppe hörte er das Lachen des Kochs, das ein unangenehmes Kribbeln in seinem Rücken hervorrief. Dann fassten seine Hände fester um die Griffe des Tabletts und Stufe für Stufe tastete er sich in die erste Etage.
Nummer Fünf klopfte. Er war sich nicht völlig sicher, ob er eine Antwort erhalten hatte, aber zumindest glaubte er „Herein!“ gehört zu haben. Vorsichtig öffnete er die Tür - und erstarrte augenblicklich zur Salzsäule. Nur wenige Schritte vor ihm standen die Herrin und der Herr in einer