Kalter Plan. Elsa Spach
„Ist das Klären nicht Aufgabe der Polizei?“ Meine Stimme bebt. „Wenn doch alles auf Selbstmord hindeutet …“.
Joe steht an der Tür. Er wird mich in diesem Moment hoffentlich nicht im Stich lassen. Aber ich spüre, wie er dagegen kämpft hinauszustürmen. Konflikten auszuweichen war schon immer seine Stärke. In mir baut sich eine altbekannte Panik auf gegen die Vorstellung, nach München zu fahren. Aber gleichzeitig meldet sich unvermutet der Wunsch, mich der Situation zu stellen. Vielleicht kann ich etwas wieder gutmachen und einen kleinen Teil meiner Schuld abtragen.
„Es steht weitaus mehr auf dem Spiel als nur die Aufklärung von Julias Tod, glauben Sie mir. Ich kann Ihnen jetzt am Telefon nicht mehr sagen, es ist alles fürchterlich kompliziert und verfahren. Wenn Sie herkommen und wir uns unterhalten, werden Sie mich besser verstehen.“
Sie hat Angst, das spüre ich plötzlich. Sie weiß etwas weiß, das sie der Polizei nicht sagen kann. Mein Herz hämmert. Vielleicht hat sie Recht. Vielleicht bin ich es meiner Nichte schuldig. Zumindest sollte ich versuchen, ein Begräbnis zu organisieren und Formalitäten zu erledigen.
„Ich überlege es mir“, sage ich. „Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, auch die von Ihrem Handy. Ich rufe Sie bald zurück.“
Nachdem ich die Nummern notiert habe, lege ich auf. Joe steht neben mir und starrt mich an. In wenigen Worten erkläre ich ihm, was geschehen ist. Er legt seine Arme um mich, und ein paar Augenblicke lang klammere ich mich an ihn, den Kopf an ihn gepresst. Seine Jacke duftet nach frischem Holz und Harz - Spuren von gestern, als er Berge von Scheiten für den Brennofen gesägt hat.
„Ich fürchte, ich muss nach München fahren“, murmele ich mit geschlossenen Augen. „Was meinst du?“
Er löst sich aus der Umarmung. Sein Gesicht verhärtet sich, als er mich anstarrt. „Du fährst nicht!“ sagt er zwischen zusammengepressten Zähnen. „Lass die Vergangenheit ruhen. Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts mehr angehen.“
Ich zucke vor seinem Ton zurück. Das wahre Ausmaß der Neuigkeit hat mich noch nicht erreicht. Vor langer Zeit habe ich Julia aus den Augen verloren; das Kind von damals existiert nicht mehr, und die Erwachsene kenne ich nicht. Meine Nichte gehört zu den Altlasten, die ich vor über zehn Jahren entsorgt habe.
„Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich los.“ Er schiebt mich von sich fort. „Unternimm nichts, wir sprechen später darüber!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmt er hinaus und knallt die Tür hinter sich zu. Kurzentschlossen öffne ich meinen Laptop.
3
Münchner Tageblatt 28. Januar 2012
Leiche einer jungen Frau an Isar bei Geretsried gefunden
Wie die Polizei meldet, hat ein Spaziergänger gestern früh gegen 8.30h die Leiche einer jungen Frau am Isarufer im Wolfratshauser Forst nahe Geretsried gefunden.
Bei der Toten handelt es sich offiziellen Angaben zufolge um die 22jährige Kunststudentin Julia Winterfels, die seit dem 25. Januar vermisst wurde. Die Leiche weist offenbar keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung auf. Erste Untersuchungen weisen darauf hin, dass sie an Unterkühlung und vermutlich einer Überdosis an Beruhigungsmitteln gestorben ist. Der Polizei zufolge handelt es sich vermutlich um Selbstmord.
Es ist noch nicht ganz geklärt, wie es zum Tod der Studentin kommen konnte. Julia Winterfels hat sich zeitweise in psychotherapeutischer Behandlung befunden. Nach einem Selbstmordversuch vor 2 Jahren wurde sie in einer psychiatrischen Klinik zu einer mehrmonatigen stationären Behandlung aufgenommen. Auf Grund dieser Vorgeschichte und der Indizien schließt die Polizei ein Gewaltverbrechen weitgehend aus.
Julia Winterfels spielte Cello und war Mitglied in dem bekannten Münchner Szene-Ensemble „Alpentango“ Dessen Gründer, der Kontrabassist Michael Constantinescu, war eng mit der Musikerin befreundet und sagte: “Ich kann einfach nicht glauben, dass sie sich umgebracht haben soll. Gerade in letzter Zeit ging es ihr wirklich gut.“
Der Leiter der psychiatrischen Klinik, Prof. Dr. H. Roth, der Frau Winterfels vor zwei Jahren behandelt hatte, zeigte sich sehr betroffen von ihrem Tod. Er erklärte gegenüber dem ‘Tageblatt‘: „Julias Tod kommt für die Mitarbeiter unserer Klinik, die sie kannten, sehr überraschend. Man muss allerdings sagen, dass an Depression Erkrankte paradoxerweise oft gerade, wenn es ihnen wieder besser geht, leider den Mut und die Kraft finden, sich umzubringen.“
Die Krankengymnastin Karen G., Mitbewohnerin von Julia Winterfels, identifizierte die Tote. Weder Winterfels’ Mutter noch Vater konnten bisher erreicht werden. Die Eltern sind seit Jahren geschieden.
Sollten Sie sachdienliche Hinweise zur endgültigen Abklärung des Todes der jungen Frau geben können, werden Sie gebeten, sich mit einer Polizeidienststelle in München in Verbindung zu setzen.
4
Ich drucke den Zeitungsbericht aus und betrachte eingehend das dort eingefügte Foto von Julia. Ihr Gesicht ist noch so kindlich und weich, aber die schwermütigen Augen und das gezwungene Lächeln erzählen eine andere Geschichte. Wie einen Schutzschild umklammert sie ihr Cello.
Mona ist also unerreichbar. Das ist mal wieder typisch meine Schwester. Sie hat sich schon immer erfolgreich vor Verantwortung gedrückt. Unsere Mutter hat es ihr leicht gemacht. Die Ärmste, wie musste sie unter der garstigen Jüngeren leiden. Wenn unsere Eltern gewusst hätten … Aber ich stand auf verlorenem Posten. Mir traute man alles Üble zu, und Mona war die Unschuld in Person.
Joe hat keine Ahnung, dass ich vorgestern eine Email von Julia erhalten hatte. Ich überfliege den Text, obwohl ich ganze Passagen auswendig weiß.
Tante Regine, du bist meine letzte Hoffnung. Ich habe eine fürchterliche Schweinerei entdeckt, die mein Leben komplett auf den Kopf stellt. Bin total verzweifelt, und kein Mensch aus meiner Familie ist da, um mir zu helfen. Nur du.
Trotz allem – wir waren doch immer ein Team, weißt du noch? Darum flehe ich dich an: Ruf mich an, damit ich dir erklären kann, was passiert ist: 089 575390. Du musst zu mir nach München kommen (ich finde, das bist du mir schuldig). Ich brauche dich!
Julia
Obwohl ich in Julias Email ihre Verzweiflung gespürt hatte – allein schon auf Grund der Tatsache, dass sie die verhasste Tante nach elf Jahren Schweigen plötzlich anschrieb – hatte ich gezögert zu antworten. Oder vielmehr versuchte ich, die Nachricht zu vergessen. Ich bin Julia nichts schuldig, oder? Ein bisschen unverschämt, mich so unter Druck zu setzen, nachdem sie allen Kontakt abgebrochen hatte. Aber ihr Flehen berührte mich wider Willen und nagte an meinem Gewissen.
Früher einmal war Julia mir nahe wie eine kleine Schwester gewesen, die mir ihre Geheimnisse anvertraute. Bis ich mir dieses Vertrauen von einem Moment zum anderen verscherzte. Aber meine Güte, wir alle machen Mist, und sie hätte lernen müssen zu verzeihen. So wie ich.
Auf der anderen Seite, wisperte mein Gewissen, könnte dies eine Chance sein, den Mist, den ich gebaut hatte, wieder gutzumachen. Ich war nicht umsonst katholisch aufgewachsen, um an so etwas wie Buße zu denken.
Zwei Tage lang kämpfte ich mit mir, ob ich Julia anrufen sollte. Und jetzt ist es zu spät.
Joe wird außer sich sein, doch je länger ich zögere, desto größere Bedenken werde ich haben. Das Flugticket online zu buchen ist schnell erledigt. Von Norwich fliege ich mit KLM über Amsterdam nach München, dann muss ich nicht erst zum Flughafen nach London fahren. Ich staune über mich, nachdem ich doch in den letzten Jahren jeden Gedanken an meine Heimatstadt ausgeschaltet habe. Ich rufe Karen Glashauser auf ihrem Handy an.
„Morgen Abend gegen acht Uhr werde ich in München sein.“
„Gott sei Dank!“ Sie klingt atemlos. „Haben Sie etwas zu schreiben? Ich muss Ihnen ja noch die Adresse geben.“
Julias Wohnung befindet sich in Schwabing. Ich male sie mir aus, gestalte sie aus mit Erinnerungen an mein damaliges Apartment.
Aus