Kalter Plan. Elsa Spach
begleitet. Ein einziger Zentimeter Schnee, und die Autokolonnen schleichen in Zeitlupe über die Landstraßen. Zwei Zentimeter, und aller Verkehr kommt zum Erliegen. Natürlich besitzt kein Mensch Winterreifen, denn die gelten als kontinentale Notmaßnahme, die hierzulande unnötig ist. Ein paar Minusgrade werden in England bereits als arktische Kälte eingestuft, so verwöhnt sind die Leute. Das erklärt auch, warum viele alte Häuser wie unseres nur einfach verglaste Fenster besitzen, was andererseits, zusammen mit den verformten Holzrahmen, für einen gesunden Luftaustausch sorgt.
In München herrscht klirrender Frost von Minus fünfzehn Grad, erfahre ich im Internet. Nicht schwierig, bei diesen Temperaturen draußen zu erfrieren. Was für ein Tod mag das sein? Auf alle Fälle weniger radikal, als sich vor einen Zug zu werfen. Was wird Julia gespürt haben, als sie starb? Was hat sie dazu getrieben, Tabletten zu schlucken, um sich dann erfrieren zu lassen? Fröstelnd sehe ich sie vor mir, am Ufer der Isar liegend, eine bleiche, erstarrte Eisprinzessin.
In Gedanken versunken räume ich die Gästezimmer auf. Besonders Tochter und Sohn haben ein Chaos hinterlassen, auf den Betten ein Wust von Kleidungsstücken, nassen Handtüchern und Unterwäsche. Aus den Steckdosen hängen iPad-Kabel, unter einem Bett liegen Kopfhörer und eine Musikzeitschrift, unter dem anderen eine halbe Tafel Schokolade und eine fettige Papiertüte mit zwei angebissenen Doughnuts. Die Eltern im Zimmer nebenan haben zumindest symbolisch ihr Bett gemacht, das heißt die Überdecke unordentlich darüber ausgebreitet. Ich seufze und häufe das gesamte Bettzeug auf einen Sessel, um das Bett wieder herrichten zu können.
Diese Seite meines Broterwerbs gefällt mir nicht besonders. Am wenigsten, Bad und Toiletten zu reinigen. Aber alles ist besser, als eine Klasse von Dreizehnjährigen unter Kontrolle zu halten. Wann immer mir Zweifel an meiner jetzigen Einkunftsquelle oder an meinem Lebensstil kommen, hilft es, mir die Jahre als Lehrerin in Erinnerung zu rufen. Das Bed & Breakfast deckt die laufenden Unkosten des Hauses. Und nicht zuletzt entfällt das endlose und sinnlose Korrigieren von Oberstufenaufsätzen, mit dem ich mir zahllose Ferien gründlich vermiest habe.
Es hat aufgehört zu schneien. Am Horizont zeichnet sich hinter der schweren Wolkendecke ein Silberstreifen ab. Der Lieblingsspruch meines Vaters „Blut ist dicker als Wasser“ kommt mir in den Sinn, als ich mit den beiden Hunden durch den Schneematsch in Richtung Dünen stapfe. Wenn meine Familie mich braucht, habe ich zur Stelle zu sein. Eine Aufbruchsstimmung, die den grauen Tag erhellt, gekoppelt mit dunklen Vorahnungen, erfüllt mich und beschwingt meine Schritte.
5
Eine Rekordhöhe von etwa drei Zentimetern Schnee ist gefallen, was die Labradore völlig durchdrehen lässt. Für ein paar Minuten vergessen sie ihr fortgeschrittenes Alter, wegen dem sie sonst würdevoll dahertrotten. Sie jagen einander, überschlagen sich auf den Feldern, wirbeln Schnee auf und hetzen davon in Richtung Strand. Ich pfeife auf beiden Mittelfingern, woraufhin sie wie im Flug stoppen und wieder auf mich zu rasen. Ihre Gesichter sind weiß bestäubt, die Mäuler wie zu einem glücklichen Lachen weit aufgerissen. Sie schnappen nach ihren wohlverdienten Hundekeksen, dann halte ich sie bei mir. Die beiden wissen, dass sie sich den Robben nur vorsichtig nähern dürfen und Abstand wahren müssen. Ohnehin zeigen sie kein großes Interesse mehr an diesen übergewichtigen Wesen, deren torfiger Geruch mir schon in die Nase dringt, bevor ich sie sehe.
Die Jungen sind zutraulicher und neugieriger als die Alten. Aber als Poppy versehentlich auf einen verschlafenen Heuler in einer Dünenmulde trifft, wird sie angefaucht und weicht erschrocken zurück. Das Meer liegt im Kälteschlaf, wie eine unendliche glitzernde Silberfolie, die am Horizont mit dem Himmel verschwimmt.
Der Winter hat dieser Welt alle Farben ausgesogen und scharfe Kontraste geschaffen. Massive Wellenbrecher aus dunklem Hartholz schieben sich von dem Strand her weit ins Meer hinein. Sie teilen Sand und Wasser in unzählige Abschnitte, um die Wucht der Wellen zu mildern und das dem Ozean abgerungene Land zu schützen.
Einige hundert Meter entfernt erkenne ich eine weitere Robbenkolonie, die ich zunächst für Felsbrocken gehalten habe. Schemenhaft zeichnen sich dort zwei Spaziergänger ab, ein Mann und eine Frau mit langem Haar. Sie bewegen sich langsam zwischen den dunklen Massen umher, als suchten sie etwas. Mit zusammengekniffenen Augen blinzele ich gegen das Licht. Der Mann kommt mir plötzlich bekannt vor. Jetzt rücken sie eng zusammen, als sprächen sie miteinander. Sie lehnt ihren Kopf zu ihm, legt ihm einen Arm um die Schultern und deutet auf etwas vor ihnen.
Ich wühle in der Manteltasche, bis ich mein Fernglas gefunden habe. Mein Herz stolpert, als ich die karierte Fellmütze mit den Ohrenklappen erkenne, seinen hochgewachsenen schlaksigen, leicht nach vorn gebeugten Körper, die Art, wie er den Kopf neigt, um der Frau zuzuhören. Dann sagt er etwas, und sie lacht. Das kann Joe gut, Frauen zum Lachen bringen.
Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie muss die Studentin sein, die seit zwei Wochen ein Praktikum im Tierrettungszentrum macht. Er hat sie die Tage kurz erwähnt. Aber er hat nicht hinzugefügt, wie hübsch sie zu sein scheint. Dass sie langes rötliches Haar hat und dass er mit ihr die Robben inspiziert. Warum auch. Die Betreuung der Robben gehört schließlich zu den wichtigsten Aufgaben der Arche. Und sie haben immer wieder neue Studenten, die dort ein Praktikum absolvieren. Längst weiß ich, dass ich mein Misstrauen, meine Eifersucht niemals werde besiegen können. Zuviel ist geschehen, damit muss ich leben.
Poppy ist bei mir stehengeblieben. Sie schaut mich auffordernd an. Ruby beobachtet mich vom Meer her, wo sie gerade einen kleinen Schwimmausflug unternommen hat. Mag das Wasser noch so eisig sein, die Brandung noch so stürmisch – Ruby stürzt sich unweigerlich hinein, als müsse sie sich etwas beweisen. Zum Glück haben die beiden Joe nicht entdeckt, sonst würden sie zu ihm stürmen. Ich will vermeiden, dass er uns sieht.
„Keine Lust mehr, Poppy? Also gut, gehen wir zurück.“ Als hätte sie mich gehört, galoppiert Ruby zu uns herauf. Sie ist pitschnass und zittert am ganzen Körper, aber leider habe ich kein Tuch mitgenommen, um sie trockenzureiben. Macht nichts; Labradore sind hart im Nehmen. Trotzdem sorge ich mich um Ruby. Ihr Körper erscheint so ausgemergelt unter dem struppigen Fell, obwohl sie eine gute Fettschicht besitzt.
Die beiden machen kehrt und traben auf dem Pfad durch die Dünen zurück in Richtung Elmhill. Fast unheimlich, wie mühelos sie jedes Wort verstehen.
Unsere Gäste kehren in der Dämmerung müde von ihren Ausflügen zurück. Morgen werden sie abfahren, dann gibt es zwei Wochen lang erst einmal keine Buchungen.
6
Später höre ich Joe zur Haustür hereinkommen. „Wie war dein Tag?“ rufe ich ihm vom Sofa im Wohnzimmer aus zu.
„Ganz gut, nichts Dramatisches.“
Ich höre, wie er in der Küche herumhantiert und Wasser in den Kocher gießt, um sich einen Tee zu machen. Aus dem Radio ertönt die Stimme von Michelle Houssein, die auf BBC Kanal vier Nachrichten verliest.
Soeben habe ich, einer plötzlichen Sehnsucht nach Wärme folgend, ein Feuer im Kamin angezündet, dessen Flammen jetzt über das Eschenholz züngeln. Obwohl es nicht einmal fünf Uhr nachmittags ist, herrscht draußen bereits Dunkelheit, die von keinen Straßenlampen durchbrochen wird.
Diese Jahreszeit ist für mich in Elmhill am schwersten zu ertragen. In einer Stadt wird der Winterhimmel nachts wenigstens künstlich erhellt. Hier herrschen in bedeckten Winternächten absolute Stille und bodenlose Schwärze. Viele Einheimische lieben diese Dunkelheit und verwehren sich gegen die Installation von Straßenlampen.
„Egal, wie dunkel es ist, man sieht immer genug“, schwören sie.
Gäste aus der Stadt aber beklagen sich hin und wieder über die ihnen unheimliche Finsternis und vor allem die Ruhe, wegen der sie nicht schlafen können. Vielleicht, weil sie in dieser Stille nichts von ihren eigenen Geräuschen und Gedanken ablenkt.
Joe sitzt nun nebenan in seinem Büro vor dem Computer und tippt; vermutlich schreibt er Patientenberichte. Als er etwas Unverständliches murmelt, gehe ich zu ihm hinüber. Ich trete hinter ihn, massiere mit Druck seine angespannte Kopfhaut und streiche ihm über die Stirnfalten, bis sie sich glätten. Das wirkt immer. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, den Kopf gegen meinen Bauch gestützt, schließt die Augen, seufzt