Kalter Plan. Elsa Spach
ich mir Sorgen.
Am Dienstag hatte ich ab Mittags Dienst im Krankenhaus – ich bin Krankengymnastin. Ich war gerade dabei, aus der Wohnung zu gehen, als zwei Polizisten auftauchten. Der Hund eines Spaziergängers hatte Julia gefunden.“
Sie fährt sich aufstöhnend durch die Haare, dann schüttelt sie verzweifelt den Kopf.
„In meinem Job habe ich schon so manche Tote gesehen“, sagt sie. „Aber Julia ist die erste, die mir nahesteht. Das geht mir verdammt an die Nieren. Ich hätte es besser wissen müssen …“.
„Sie haben Julia gestern identifiziert?“
Das klingt wie eine Zeile aus einem Krimi. Schon wieder ist mein Glas leer. Die Küche schwankt leise wie ein Ruderboot. Kein Wunder, der Flug war ein wenig turbulent. Langsamer trinken wäre sinnvoll.
Karen nickt nur und nimmt einen nächsten kräftigen Schluck. Wenn wir uns nicht bremsen, werden wir bald beide unter dem Tisch liegen. Ich schaue mich verstohlen um und entdecke eine weitere Weinflasche der gleichen Marke neben dem Kühlschrank. Vermutlich ist diese Situation nur in angetrunkenem Zustand zu bewältigen, tröste ich mich. Die Fähigkeit, klar zu denken, mag zwar beeinträchtigt werden, aber die Zunge löst sich.
Ich verzehre genießerisch ein weiteres mit Käse belegtes Stück Brot. Es ist saftig und frisch, mit einer Spur Fenchel und Anis, typisch Bioladen.
Unser Gespräch ist ins Stocken geraten. Was weiß Karen, und warum rückt sie es nicht heraus? Wenn Julias Tod nicht Selbstmord war, wie sie andeutet, könnte es für mich gefährlich werden? War es blauäugig von mir, mich von ihr überreden zu lassen, so überstürzt nach München zu kommen? Es reicht, das hier ist kein Ratespiel.
„Jetzt mal Klartext, Karen: Was wissen Sie? Verdächtigen Sie jemanden, an Julias Tod Schuld zu sein? Wozu haben Sie mich hergeholt? Nun reden Sie schon!“
Ich spüre, dass sie mir gleich etwas sagen wird. Aber als ich mich zu ihr über den Tisch beuge und ihre Hand ergreife, entzieht sie sie mir. Ich versuche, mich erneut in Geduld zu üben, und nippe an meinem Glas. Ihre Pupillen glänzen wie schwarze Murmeln. Verschwörerisch neigt sie sich zu mir.
„Ich habe meine Vermutungen, und Sie werden sie erfahren. Ganz bestimmt morgen. Aber bevor ich mit Ihnen darüber spreche, muss ich noch ein kleines bisschen mehr Gewissheit bekommen. Ich will ja niemanden fälschlich beschuldigen.“
Sie verzieht die Lippen zu einem Lächeln.
Plötzlich steht ein junger Mann in der Küche. Er muss sich herangeschlichen und gelauscht haben. Wir schrecken beide zusammen.
„Kommst du endlich ins Bett, Karen“, herrscht er sie an. „Du quatschst mal wieder zuviel.“
Sie springt schwankend auf, geht zu ihm und streicht ihm beruhigend durch das Haar. Er versucht, sie mit sich zu ziehen, doch sie löst sich aus seinem Griff. Sein Gesicht ist zerknautscht, als habe er auf dem Bauch geschlafen.
„Das ist Tobias, mein Freund“, stellt sie ihn vor.
Er nickt mir knapp und unfreundlich zu.
„Noch ein paar Minuten, Tobi. Muss Julias Tante nur noch ihr Zimmer zeigen.“
Grollend verschwindet er.
„Er ist in letzter Zeit ein wenig gestresst. Ignorieren Sie ihn einfach“, murmelt sie.
Ich lehne mich zurück und schaue sie erwartungsvoll an.
Karen brütet und schweigt. Sie sitzt zusammengesunken auf ihrem Stuhl, ein Bein unter den Körper geschoben, und knetet mit ihren langen Fingern an dem weichen Wachsrand der Kerze.
„Ich habe Julia vor über drei Jahren als Patientin kennengelernt. Als ihre Krankengymnastin. Zu dem Zeitpunkt lag sie nach einem Autounfall bei uns im Krankenhaus, im Klinikum rechts der Isar. Sie hatte die Kontrolle über ihr Auto verloren und war frontal in einen Bus hineingefahren. Zum Glück nur mit dreißig Stundenkilometern, aber trotzdem – Gehirnerschütterung und ein gebrochenes Becken sind kein Zuckerschlecken.“
Vor meinem inneren Auge spielen sich blutige Unfallszenen ab. Ich schüttele den Kopf. Arme Julia, das muss schrecklich für sie gewesen sein.
„Sie konnten sie erst nach Stunden aus dem Wrack herausschneiden. Obwohl sie davon wohl nicht viel mitbekommen hat, muss sie doch unbewusst Todesängste ausgestanden haben. Jedenfalls hat sie sich zwar körperlich nach und nach berappelt, aber dann, als sie entlassen wurde, haben die Panikanfälle angefangen. Und die haben ihr Leben so richtig zur Hölle gemacht.“
„War denn ihre Mutter zur Stelle, als der Unfall geschah?“
Karen schnaubt und sieht mich verächtlich an.
„Julias Mutter ist der egoistischste Mensch, dem ich je begegnet bin. Denkt nur an sich und den Weg zur Erleuchtung. Als Julia den Unfall hatte, lebte ihre Mutter schon seit Monaten in Indien, bei irgendeinem Guru. Unmöglich zu erreichen. Julia wohnte allein hier. Deshalb hat sie mich dann gefragt, ob ich nicht Lust hätte, bei ihr einzuziehen. Wir hatten uns im Krankenhaus angefreundet, Julia ist … war so lebenslustig, eine richtige Stimmungsbombe, wenn es ihr gutging.“
Erneute Tränen. Sie steht auf, holt sich eine Rolle Küchenpapier von der Anrichte und schnaubt sich die Nase.
„Diese Angstzustände nach dem Unfall waren ein Horror. PTSD, also Post traumatic stress disorder heißt das heute so schön. Im Lauf der Monate verschlimmerten sie sich. Zeitweise traute sie sich nicht mehr auf die Straße, aus Angst, ohnmächtig zu werden und zu sterben. Oft wollte sie mich nicht fortlassen, konnte nicht in der Wohnung allein sein. Sie hätten sie sehen sollen - ein zitterndes Bündel, das nach Luft schnappte und zu ersticken drohte.“
Ich schüttele den Kopf. Julia, gefangen in ihren Alpträumen. Und niemand außer Karen, der ihr zur Seite stand. Auch ich war unerreichbar, obwohl wir uns früher so nahegestanden hatten. Ein Klumpen sitzt in meinem Hals, den ich vergeblich herunterzuschlucken versuche.
Karen zuckt mit den Achseln. „Ja, zu der Zeit sprach sie manchmal davon, sich umzubringen, weil sie die Ängste nicht mehr aushielt. Damals ließ sie sich Beruhigungstabletten verschreiben, die sie, wie sie sagte, regelrecht zum Zombie machten. Oder sie trank sich Mut zu … Manchmal hatte sie eine richtige Fahne; sie schleppte für den Notfall immer einen Flachmann mit Schnaps mit sich herum. Ihr Leben nach dem Unfall war eine Katastrophe.“
In der Wohnung über uns hat Musik eingesetzt, deren wummernder Rhythmus die Decke zum Schwingen bringt. Karen presst die Lippen zusammen und betrachtet ihre Hände. Ihre Finger sind von Tinte verfärbt, als hätte sie mit einem undichten Stift geschrieben.
„Klingt so, als hätte Julia dringend therapeutische Hilfe gebraucht“, sage ich nach einer Weile.
„Genau die hat sie dann auch bekommen. Ihr Hausarzt hat sie nach ein paar Monaten, als es für sie nicht mehr zum Aushalten war, an eine Psychotherapeutin überwiesen. Eine Frau Ambusch.“
Sie schaut mich bedeutungsvoll an, als müsste mir der Name geläufig sein.
„Hat das geholfen?“
„Schon. Ich habe Julia ein paarmal zur Therapie gefahren, wenn ihr die U-Bahn zuviel Angst machte. Hab dann im Wartezimmer gessen, bis die Ambusch sie wieder entließ. Sie hat es schließlich geschafft, Julia so einigermaßen wieder auf die Beine zu bringen. Eine Zeitlang ging es ihr wieder gut. Sie konnte wieder ausgehen, jobben, ihre Kunstseminare besuchen. Und natürlich Cello spielen.“
Karen deutet hinüber ins Wohnzimmer, wo ich das Instrument habe stehen sehen.
Fast hatte ich Julias Begeisterung für Cello vergessen. Dabei galt sie schon im Alter von acht Jahren als eine Art Wunderkind. Ich erinnere mich an einen Konzertabend mit jungen Musikern im Gasteig, an dem meine zehnjährige Nichte auftrat.
Sie saß in einem himmelblauen bodenlangen Samtkleid auf der Bühne und erinnerte mit ihren zu Locken gestylten langen Haaren an einen Rauschgoldengel. Die Prelude von Bachs Cello Suite Nummer eins zählt seitdem zu meinen Lieblingsstücken. Ihr Körper verschmolz