Harras - der feindliche Freund. Winfried Thamm

Harras - der feindliche Freund - Winfried Thamm


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      Winfried Thamm

      Harras

      der feindliche Freund

OCM Verlag

      © 2019 OCM Verlag, Dortmund

      Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM Verlag, Dortmund

      Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

      ISBN 978-3-942672-37-5

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

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      Für meinen guten und alten Freund Henner H.

      „Merk: es gibt nur eines, das die Freundschaft noch mehr fördert:

      Den Freund nie auf die Probe zu stellen, die Freundin nicht, niemand. Denn einer, der sein Leben lang einen Lederbeutel voller bunter Steine hütet, die er für Edelsteine hält, der ist reich. Auch, wenn es bunte Glasstückchen sind. Er darf nur den Beutel nicht aufmachen.

      Gott erhalte uns die Freundschaft. Man möchte beinah glauben, man sei nicht allein.“

      Kaspar Hauser (Kurt Tucholsky)

      Kapitel 1

      8. Juli 2001

      Liebe Leserin und lieber Leser, Sie sind genau so imaginär wie meine Geschichte real ist. Nur, weil es angenehmer für mich ist, Sie mir in Gedanken vorzustellen und so einen Ansprechpartner zu haben, gibt es Sie. Denn in Wahrheit schreibe ich die Geschichte für mich, für meinen Seelenfrieden, den ich wiederzufinden hoffe, indem ich den Abstand zu allem im Aufschreiben suche, Abstand von den Geschehnissen und besonders Abstand von Harras, dem Teufel.

      Entschuldigen Sie, ich sollte mich erst einmal vorstellen: Mein Name ist Henning Wennemann, am 10.10.1958 geboren, also jetzt zweiundvierzig Jahre alt. Weitere Daten zu meiner Person später.

      Ich befinde mich in einer sehr prekären Lage, einer Zwickmühle sozusagen. Ich kann weder vor noch zurück, ich bin bewegungslos, gefesselt, eingesperrt, nein, eher im Moment des Startschusses eingefroren, erstarrt, aber voll kinetischer Energie. Etwa so, wie die berühmte Darstellung des griechischen Diskuswerfers: Dieser hat in der extremen Drehung seines Körpers all seine physische Kraft, all seine mentale Energie und all seine mystische Verbundenheit mit dem Olymp konzentriert, um mit Körper, Geist und Seele im nächsten Augenblick in der Drehbewegung zu explodieren, um den Diskus herauszuschleudern, mit aller Macht. Und genau in diesem, so kurzen, aber so entscheidenden Moment hat der Künstler diese Pose in seiner Skulptur eingefroren, versteinert, ohne den Sportler zu fragen, wie er das aushält. So ähnlich geht es mir jetzt, wobei ich alles andere als ein Sportler bin und es mir noch weniger um den Diskuswurf geht. Was mich hat versteinern lassen, liebe Leserin, lieber Leser, wird im Fortgang meiner Geschichte erst Stück für Stück offenbart werden. Und meine Energie, die in mir gefangen ist, taugt nicht gerade zu einem Diskuswurf, sondern eher zu einem Mord. Jetzt in diesem Augenblick möchte ich ihn töten. Ihn, meinen alten Freund und meinen neuen Feind: Harras.

      Immer habe ich mir das gewünscht, erträumt sogar. Nicht das Töten, um Himmels Willen, sondern Zeit zu haben, eine Auszeit für mich. Jetzt habe ich den Salat. Und nie war ich weiter weg von diesem Gefühl, was man gemeinhin Glück nennt. Es ist, kurz gesagt, ein Dilemma, ein Desaster, eine Katastrophe.

      Dass ich jetzt erst einmal all meiner beruflichen, familiären und andersgearteten Alltagspflichten entledigt bin, liegt daran, dass ich in einem Krankenzimmer in der Uniklinik Essen liege. Einzelzimmer mit Telefon, TV-Video-Kombination, Stereoanlage und Laptop mit Internetanschluss. Dieser Laptop ist mein Rettungsboot, das mich davon abhält, in abgrundtiefe Depressionen zu versinken oder in den unheilbaren Wahnsinn abzudriften. So hacke ich meine Geschichte in die Tastatur wie der Bergsteiger seinen Eispickel ins ewige Eis, um nicht abzurutschen auf dem glatten Gletscher meiner haltlosen Gegenwart.

      Gott sei Dank bin ich privat versichert. Ich leide an Frakturen beider Oberschenkel, linksseitig spiralbruchartig verkompliziert, nebst diverser Rippenbrüche, Prellungen, Abschürfungen und Schnittwunden. Die ersten vier Wochen waren von Operationen und Schmerzen bestimmt. Jetzt geht es so leidlich, abgesehen von der Tatsache, dass ich für die nächsten sechs bis acht Wochen völlig bewegungsunfähig bin. Nicht einmal aufstehen kann ich, um aufs Klo zu gehen oder mich zu waschen oder zu duschen. Meine Beine liegen in Plastilinschienenstreckverbänden an Seilzügen mit Stahlgewichten, die an ein Fitnessstudio für Frankensteins Kreaturen erinnern. Das mit dieser Bettpfanne ist mir hochnotpeinlich, jedes Mal.

      Wie kam es dazu? Bevor ich mich in weiterer Jammerei ergehe, will ich jetzt mit der Geschichte beginnen, mit meiner Geschichte, die mein bisheriges Leben völlig auf den Kopf gestellt hat und vielleicht – das ist mir jetzt noch nicht klar – mein weiteres Leben bestimmen wird.

      Kapitel 2

      Mitte August 2000

      Vor etwa einem Jahr flog mir eine Einladung zu einer Geburtstagsparty ins Haus. Zwei gute alte Freunde wollten ihren 44. Geburtstag gemeinsam feiern – wegen der Schnapszahl oder weil sie keine Lust hatten, noch sechs Jahre zu warten – und dazu viele Leute einladen: die üblichen Verwandten, derzeitige Freunde und Leute, die sie sehr lange nicht mehr getroffen hatten.

      Ich ging allein hin, weil wir keinen Babysitter für unseren Sohn gefunden hatten. Und überhaupt hatte Helen, meine Frau, gemeint, sie würde sich bestimmt eher langweilen, wenn ich mit meinen alten Freunden über alte Zeiten plaudere.

      Die Feier fand in der alten Rektoratsschule in Essen- Steele statt, die schon seit Jahren als das Steeler Kulturzentrum „Grend“ bekannt ist. Es war ein schöner Partysaal mit einer großen Theke, langen Tischen und einfachen Bänken, wunderbarem bunten Licht, einer kleinen Bühne, auf der eine Rock-Revival-Band ihre Anlage aufgebaut hatte und viel Platz vor der Bühne zum Tanzen. Ich traf gegen halb neun ein, gratulierte den beiden Freunden, überreichte Geschenke, nahm das obligatorische Sektglas zum Anstoßen auf weitere glückliche Lebensjahre entgegen und schaute mich um. Ich fühlte mich wohl, weil ich eine ganze Reihe von Leuten kannte und selbst meine Freunde nennen konnte, aber auch einige Menschen traf, die ich sehr lange nicht gesehen hatte. Ich kam mit ihnen ins Gespräch, erst oberflächlich, eher begrüßend, später auch näher, intensiver.

      „Schön dich wiederzusehen.“

      „Hey, du auch hier?“

      „Ja, echt gut, viele lange Jahre nicht gesehen. Schau’n wir uns mal um.“

      „Was machst du denn so?“

      „Habe mich selbstständig gemacht, mit ’nem kleinen Fortbildungsinstitut.“

      „Klasse.“

      „Und du?“

      „Bin letztes Jahr Schulleiter geworden, muss bildungsmäßig mal was bewegen.“

      „Prima, klingt nach Karriere.“

      „Ja, geht ganz gut. Hast du Familie, Kinder?“

      „Ja, Helen, ist aber nicht mitgekommen, keine Betreuung für Karl, ist erst sieben.“

      „Was, du hast ein Kind? Hätte ich dir gar nicht zugetraut, entschuldige.“

      „Lass man, schon in Ordnung. Ja, Karl ist gut drauf.“

      „Toll, interessant, echt super.“ ... und so fort.

      Die Gattinnen meiner Freunde sprachen einleitende Worte und eröffneten das Büffet. Ich aß eine Kleinigkeit und hielt mich ansonsten eher ans Bier. Das ist für mich ein Getränk, das mich zwar stimuliert und mir Berührungsängste


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