Und Theben liegt in Oberfranken.. Laura-Maria Grafenauer
selbstreferierender Bezüge, wenn der Herausgeber der Geheimnisse unter dem augenzwinkernden Pseudonym ›Hff.‹ auftritt;28 andernorts wiederum gesteht er seine Inspirationsquelle offen ein, so in der Nachschrift eines Briefs an Friedrich Rochlitz vom 16. Januar 1814 bezüglich der beiliegenden Erzählung Die Automate: »Die Erscheinung am Kurischen Hafe so wie manches andere in dem Aufsatze ist Reminiszenz aus meine〈m〉 früher〈n〉 Leben in Ostpreuß〈en〉« (SP 12).
Walter Benjamin hat Hoffmann mit seinem berühmten Beitrag über Das dämonische Berlin ein bewunderndes Panegyrikon geschrieben und seine Gabe, das selbst Erlebte und Gesehene in der Fiktion zu verarbeiten, vor allem mit der Großstadterfahrung Berlins verknüpft.29 Darüber hinaus hat Benjamin sich nicht gescheut, die literaturtouristische Brille aufzusetzen und es für ganz selbstverständlich zu halten, dass Hoffmann seine Inspiration »nicht irgendwo frei im Raume schwebend, sondern an ganz bestimmten Menschen, Dingen, Häusern, Gegenständen, Straßen«30 festgemacht hat. Im Besonderen gilt ihm das für die Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822): »Der Vetter ist Hoffmann, das Fenster ist das Eck-Fenster seiner Wohnung, das auf den Gendarmenmarkt hinausging«31. Ob diese mit Überzeugung getätigten Aussagen Benjamins sich tatsächlich als wahr herausstellen werden, wollen wir im Folgenden untersuchen, denn diese von ihm hochgelobte Erzählung führt uns zurück zum Grundsatz des Serapionischen Prinzips. Sie nimmt unter Hoffmanns zahlreichen autobiographisch gefärbten Arbeiten deswegen einen Sonderstatus ein, weil sie zu seinen letzten vollendeten Werken zählt und sich die mutmaßlichen Selbstreferenzen in ihr tatsächlich häufen, von Gesundheitszustand und Bekleidung des Protagonisten über seine poetologischen Prinzipien bis hin zur Lage seiner Wohnung.32 Dieser Text wird allein am Anfang des Hauptteils der Arbeit stehen, um eine ausführliche Analyse der vermeintlich autobiographischen Bezüge zu ermöglichen. Danach gesellt sich jeweils ein Autorenkollege zu Hoffmann, und zwar im Sinne eines ausgewogenen Zeitstrahls zuerst ein Zeitgenosse, dann ein Vorgänger und schließlich ein Nachfolger: Während der Blick aus des Vetters Eckfenster Schlaglichter auf den Berliner Gendarmenmarkt wirft, führt die fünf Jahre zuvor entstandene Erzählung Das öde Haus (1817) den Leser weiter auf die nahe gelegene Allee Unter den Linden, die wiederum fünf Jahre später, genau im Entstehungszeitraum des Eckfensters, der junge Heinrich Heine im ersten seiner Briefe aus Berlin (1822) als Stadtführer durchwandelt. Vom Berlin des frühen 19. Jahrhunderts, dem Sinnbild einer modernen Metropole, geht die Reise – denn als solche muss der Fortgang dieser Arbeit schon aufgrund des Forschungsinteresses beschrieben werden – weiter in das Vorbild aller capita mundi: Die römischen Karnevalsfeierlichkeiten inspirierten nicht nur Goethe, der mit dem Römischen Carneval aus dem Jahr 1789 ein Standardwerk für das Rom-Bild der Daheimgebliebenen schuf, sondern auch Hoffmann, eben einen solchen nie in Arkadien Gewesenen, der sich mit der Prinzessin Brambilla (1821) an seinen liebsten Sehnsuchtsort versetzte. Obgleich er die (ausdrücklich wenigen) Urlaubstage seines Lebens nicht im sonnigen Süden, sondern in Schlesien verbrachte,33 lernte er auch im hohen Norden Orte der Sehnsucht kennen: Die Reise schließt ihren Kreis in einer Zusammenschau zweier Gebirgskulissen, dem Riesengebirge der Briefe aus den Bergen (1820) und den Dolomiten aus Arthur Schnitzlers Tragikomödie Das weite Land (1911).
Intertextuelle Beziehungen spielen in Hoffmanns Werk allgemein eine wichtige Rolle: Hartmut Steinecke hat in seinem Hoffmanns Goethe-Rezeption gewidmeten Artikel überzeugend ausgeführt, wie in der Literatur Bezüge zu musikalischen oder im Bereich der bildenden Künste angesiedelten ffiuvres stets gerühmt wurden, während der Verweis eines Schriftstellers auf das Werk eines anderen Schriftstellers, ob direkt oder kunstvoll versteckt, seit jeher und noch immer durch den derogativen Terminus ›Plagiat‹ diskreditiert wird.34 Mit dieser Verleumdung kann nur aufgeräumt werden, wenn die Zusammenschau von Texten, die biographisch wie inhaltlich in unmittelbar lokaler Nachbarschaft entstanden sind, den Beweis dafür liefert, dass ähnliche Kulissen auch ähnliche Literatur hervorrufen. Hoffmann ist als Leitfaden für dieses Vorhaben prädestiniert, weil seine Verdienste um den intertextuellen Austausch mittlerweile gewürdigt und mit der Erkenntnis geehrt werden, dass er die Arbeiten seiner Schriftstellerkollegen nicht nur konsumierte, sondern auch weiterverarbeitete und damit selbst zu einem Referenzpunkt für seine Nachfolger wurde.35 Seine Werke können nicht nur Wege zum Intertextuellen, sondern auch zum Interszenischen auftun und die Frage beantworten, was Autoren im Allgemeinen mit den Schauplätzen ihrer Werke machen – oder ob es doch die Schauplätze sind, die etwas mit den Autoren machen. Wie wird ein in der Realität existierender Ort zu einem fiktionalen Schauplatz umgeschaffen, welche Rolle spielt der Ort selbst bei diesem Arrangement, wie beeinflussen sich Schriftsteller und Schreibende gegenseitig und im Laufe der Literaturgeschichte bei diesem Vorgang? Die Antworten auf diese Fragen sollen uns dem Ziel nahebringen, zur Kenntnis einer exemplarischen Entwicklung der literarischen Kulisse zu gelangen, die nicht nur auf Hoffmanns Werk anzuwenden ist. Bestenfalls bejahen sie überdies die immerwährende Frage der Literaturwissenschaft nach dem »Sinn, literarische Texte mit ihren Schauplätzen und Handlungsorten zu konfrontieren«36: Wo ein Muster zu erkennen ist, da kann der Sinn nicht weit sein.
1.4. Ein Schlusswort zum Titel: Serapion, ein fränkischer Thebaner
Der Einsiedler Serapion – so heißt die einleitende Erzählung des ersten Bands der Serapions-Brüder, deren Titelheld als Eremit in einem fränkischen Wald lebt, jedoch von der fixen Idee beherrscht wird, als ein vom Märtyrertum erlöster Heiliger in der thebanischen Wüste Zuflucht gefunden zu haben. Er ist davon überzeugt, dass er in seiner einsamen Klause regelmäßig literarische Größen wie Ariost, Dante und Petrarca zum gemütlichen Plausch empfängt, und dass man bei günstiger Wetterlage von einer benachbarten Bergspitze aus nicht nur die Türme von Alexandria ausmachen, sondern auch allerlei im wahren Wortsinn fabelhafte Begebenheiten erschauen kann.37 Im Kontext der Erzählung fordern die Serapions-Brüder als Grundsatz ihres Zirkels, es »prüfe [jeder] wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unternommen«, und es »strebe jeder recht ernstlich darnach, das Bild, das ihm im Innern aufgegangen recht zu erfassen mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten« (SB 69). Auf den ersten Blick erfüllt Serapion zur Gänze diese Anforderungen, denn er lebt in seiner eigenen, von der Realität ganz und gar abgelösten Wirklichkeit, die nur in seinem kranken Inneren Bestand hat.38 Würde man das Serapionische Prinzip ausschließlich auf diese Weise definieren, so hätten auch die Kulissen aller in Aussicht gestellten Werke keinerlei tiefere Bedeutung, weil nur jenes Bild der Wirklichkeit für die Dichtung als wesentlich erachtet würde, das der Dichter in seinem Inneren wahrnimmt. Wulf Segebrecht hat jedoch sorgfältig nachgezeichnet, wie in den Serapions-Brüdern durch die Erzählung Rat Krespel die zweite Bedeutungsebene des Serapionischen Prinzips offenkundig gemacht und bewiesen wird, dass Hoffmanns Argumentation sich nicht selbst widerspricht, sondern durchaus fundiert ist.39 Dem Einsiedler fehlt lediglich »die Erkenntnis der Duplizität […], von der eigentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist« (SB 68), und gerade aus seinen Irrungen können die Serapions-Brüder ihr Prinzip des wahren Sehens ableiten, das sich nicht allein aus der Phantasie speist und auch wieder in die Realität zurückgespiegelt werden muss: Serapion »dient in dem Buch lediglich zum Exempel des Prinzips, er vertritt es nicht selbst« (SB 1249). Was aber ist die vielzitierte ›Außenwelt‹ anderes als die in der Lebenswirklichkeit des Schreibenden existierende Kulisse, die er in seinem Werk verarbeitet, und zwar nicht nur als reine Lokalität, als architektonischer Unterbau seiner Fiktion, sondern als bühnentechnischer Hintergrund, der mit allerlei Orten, Menschen und Begebenheiten angefüllt ist. Der Schriftsteller muss die Realität konstatieren, dann aber mit ihr spielen können; er muss, wie Hoffmann, vor allem ein aufmerksamer Zuschauer sein. Was Walter Benjamin ihm viel später bescheinigen sollte,40 diagnostizierte er sich selbst in einem als offenes Schreiben konzipierten Brief an den Verleger Johann Daniel Symanski:
Sie fordern, verehrtester Herr! mich auf, an der Zeitschrift, die Sie unter dem Titel ›der Zuschauer‹ herauszugeben gedenken, mitzuarbeiten. Mit Vergnügen werde ich Ihren Wunsch erfüllen, um so mehr, als der wohlgewählte Titel mich an meine Lieblingsneigung erinnert. Sie wissen es nämlich wohl schon wie gar zu gern ich zuschaue und anschaue, und dann schwarz auf weiß von mir gebe, was ich eben recht lebendig erschaut. (Murr 569)