Die Leiden der jungen Lotte. Denise Rüller

Die Leiden der jungen Lotte - Denise Rüller


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passen.« Das stand für mich außer Frage, denn mir waren gequetschte Zehen oder schlechter Halt tausendmal lieber, als auf das Spielen zu verzichten, weshalb ich, noch bevor ich die Schuhe richtig anhatte, euphorisch ausrief: »Wie angegossen. Vielen Dank!« Als ich aufschaute, war er schon wieder zwischen den anderen verschwunden, ich rannte hinterher und reihte mich in die Mannschaft ein. Während des Trainings schweißten uns Jubel, Abklatschen, Huckepacknehmen und gemeinsames Auf-dem-Boden-Wälzen derart zusammen, dass sowohl mein unpassendes Outfit als auch meine Ausnahmeerscheinung als eines von zwei Mädchen in der Jungenmannschaft keine verächtlichen Blicke oder Gekicher mehr provozierten. Das andere Mädchen, Martina, kannte ich aus der Parallelklasse, es hatte einen Igelschnitt, war halb so groß, aber dreimal so breit wie ich, spielte ausschließlich in der Abwehr und mähte jeden nieder, der versuchte, an ihr vorbeizukommen. Daher nannten die anderen sie Walze. Ich hielt den Namen Walze für gemein, weshalb ich sie Martina nannte. Nach meinem zweiten Zuruf: »Martina, hier!« und »Martina, pass auf, links!«, kam sie bedrohlich auf mich zugestampft, drückte ihre Stirn gegen meine wie ein Stier und schnaubte: Wenn du mich noch ein Mal Martina nennst, walz ich dich um, Böhnchen.« »Ich wollte nur nett sein«, beruhigte ich sie. »Seit wann geht es beim Fußball um nett sein? Wenn du nettes Kuscheln suchst, dann geh zu den Baghwan-Spinnern da hinten.« Walze deutete auf das Waldgebiet in der Nähe des Fußballvereins, wo vor drei Jahren Anhänger irgendeines indischen Gurus einen Ashram gegründet haben, um den die meisten Duisburger einen großen Bogen machten, da sie gegen deren spirituelle Lebensweise, wozu auch gehörte, dass sie nackt herumliefen, Bedenken hatten.

      Ich verstand, dass der Name Walze ein Kompliment für sie war und ich durfte einige Male erfahren, wie es sich anfühlt, von ihr umgewalzt zu werden.

      Als Mutter die blauen Flecken und Schürfwunden an meinen Beinen sah, stellte sie mich zur Rede und es gelang mir, sie mit Legenden von Fahrradstürzen, Unachtsamkeiten oder Vorfällen im Sportunterricht ruhigzustellen, bis Herr Angenvort auf die Idee kam, Mutter zu einem Gespräch in die Schule zu bitten. Voller Begeisterung erzählte er ihr von meinen Stürmerqualitäten auf dem Fußballplatz und dass ich in den letzten Wochen eine wichtige Stütze der Mannschaft geworden sei, weshalb er Mutter bat, mich im FC Millingen anzumelden, um an den Mannschaftsspielen teilnehmen zu können. Außerdem bräuchte ich eigene Fußballschuhe, da die geliehenen so langsam aus dem Leim gingen, Schienbeinschoner und ein Vereinstrikot.

      Ich spürte, wie sich kalter Schweiß in meinen Händen sammelte und meine Ohren kurz davor waren, in Flammen aufzugehen, fixierte reglos den Kaktus, der hinter meinem Sportlehrer auf der Fensterbank stand und traute mich nicht Mutter anzuschauen, die wortlos ihren Kopf um fünfundvierzig Grad nach rechts drehte und mich von der Seite anstarrte. Ich fühlte, wie ihr Blick sich in meinen Kopf bohrte, hörte, wie ihr Atem begann vor Wut zu schnauben und wusste, dass sie drohte zu hyperventilieren. Ich bewegte die Augen einen Millimeter von dem Kaktus weg hin zu Herrn Angenvort und schloss aus seinen aufgerissen Augen und seiner heruntergelassenen Kinnlade, dass er Mutter so wahrnahm, wie ich sie neben mir spürte. Als er verunsichert und besorgt fragte, ob alles in Ordnung sei, stand Mutter auf, ging zur Tür, brüllte meinen Namen, was für fünf Wochen das letzte an mich gerichtete Wort war, und eilte mich am Ärmel hinter sich herziehend aus der Schule. Herr Angenvort fand seine Sprache erst wieder, als Mutter mich ins Auto stieß. Ich hörte noch, wie er aus dem Fenster hinunter zum Parkplatz rief, dass sie mich nicht einfach mitnehmen dürfe, da ich noch vier Stunden Unterricht hätte. Sie würdigte ihn keines Blickes und schon gar keines Wortes, raste los und sperrte mich bis zum nächsten Morgen ohne Mittag- und Abendessen in mein Zimmer. Als ich hungrig und ängstlich die Küche betrat, lag ein Zettel mit folgender Nachricht auf dem Tisch: »Wage dich nicht noch einmal in die Nähe eines Fußballplatzes! Gehe mir aus den Augen und sprich mich nicht an. Die einzige Möglichkeit, dein Vergehen wieder gutzumachen, ist ein Platz auf dem Treppchen in Köln.«

      * * *

      Dem Casting in Köln wäre ich auch ohne den Fußballskandal nicht entkommen, allerdings hätte ich alles dafür getan, nicht zu den Auserwählten zu gehören. Da mir ansonsten die Fashion Week in Paris drohte, auf der ich die Mini-Versionen der Luxuskleider bekannter Modedesigner auf dem Laufsteg präsentieren müsste. Das sollte der erste Preis sein, für mich wäre das die Höchststrafe und durfte auf gar keinen Fall passieren. Denn womöglich käme ich dann auch noch ins Fernsehen und würde von meinen Lehrern oder Mitschülern erkannt, was mir so peinlich wäre, dass ich die Schule nicht mehr betreten könnte. Mein Vorbild war der gerade zum Fußballer des Jahres gewählte Jürgen Klinsmann und nicht eine stöckelnde Bohnenstange im Prinzessinenkostüm. Ich wollte brüllen, jubeln, mich auf dem Platz wälzen, auf den Rasen spucken und nach dem Spiel mit den anderen unsere Kampfschrammen bewundern, deren Anzahl offenbarte, wer den größten Einsatz auf dem Platz gezeigt hatte: Je mehr Blessuren, desto stolzer ging man aus der Kabine.

      Aber nun musste ich mich entscheiden, ob ich die nächsten Jahre in mein Zimmer eingesperrt werden, keinen Fußballplatz betreten und die schweigende Verachtung der Mutter ertragen wollte. Oder ob ich zumindest vorübergehend vortäuschen sollte, eine Modelkarriere anzustreben, bis sich die Wogen geglättet hätten und ich einen neuen heimlichen Vorstoß aufs Spielfeld wagen könnte.

      Ich entschied mich für die Täuschung und besiegelte damit mein Schicksal. Das Casting wurde ein voller Erfolg für Mutter und ein großes Dilemma für mich: Mein Plan, nach dem Casting unmerklich aus dem Traum der Mutter zu verschwinden und eine Hintertür zum Fußball zu finden, wurde einen Tag nach meinem Sieg in Köln von den Medien vereitelt. In sämtlichen Zeitungen prangte ein Bild von mir im Cocktailkleid mit meinem Namen darunter. Leider auch auf der Titelseite jenes bunten Blattes, das den Duisburgern wie eine Erkennungsmarke unter den Achseln klemmte, wenn sie morgens vom Bäcker kamen und in der einen Hand die Brötchentüte, in der anderen die Zigarette hielten. Über dem Foto titelte die Schlagzeile: Die Auferstehung Biggys. Von der Bulettenmeile auf den Laufsteg.

      Der Ehrgeiz und die Euphorie der Mutter nahmen pathologische Ausmaße an, gegen die ich nicht ankam. Sie zwang mich nach einer kalten Dusche vor dem Frühstück zu Beckenbodengymnastik und Gesichtsmuskeltraining und vor dem Zubettgehen knetete sie in meine Oberschenkel, meinen Po und die Rückseite meiner Oberarme, die von ihr gefürchteten und gehassten Schwachstellen der Frau - die ich noch lange nicht war -, eine durchblutungsfördernde Penis-Steifungscreme ein und bearbeitete sie anschließend mit einer Cellulite-Massage-Rolle, um der Kraterlandschaft auf der Haut so früh wie möglich jeglichen Nährboden zu entziehen. Als mich meine Sitznachbarin in der Schule darauf aufmerksam machte, dass sie in meiner Gegenwart ständig Lust auf Plätzchen habe, weil ich irgendwie nach Weihnachten rieche und fragte, woher der Duft komme, verschluckte ich im letzten Moment die zweite Silbe des Pe…-Wortes, weil mir schlagartig bewusst wurde, wie abartig Mutter war. Ich stotterte noch einige Male die Silbe »Pe«, als suchte ich nach dem Namen der Creme und konnte noch halbwegs glaubhaft mit rotem Kopf antworten, dass es irgendeine Körperlotion mit Zimtduft sei. Gabi meinte, dass ich einmal nachschauen solle, wie die Creme heiße, denn sie würde sie gerne ihrer Mutter zu Weihnachten schenken. Auf dem Weg nach Hause ging ich in einen Drogeriemarkt, durchsuchte die Regale vergeblich nach einer Creme mit Zimtduft, schlenderte auffällig unauffällig einige Male an dem Regal mit den Intimartikeln entlang und schielte zu den Produkten: Neben einer ganzen Palette an Kondomen in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen gab es ein Gleitgel von Flutschi. Ich war mir nicht ganz sicher, wofür man das brauchte, aber die Tube sah genauso aus wie eine Haargeltube. Allerdings stand auf der Rückseite, dass es einen erregenden Ambra-Duft enthalte. Roch Ambra nach Zimt? Ich überlegte, ob man mit Flutschi nicht zwei Fliegen mit einer Klappen schlagen und es auch für die Haare nutzen konnte. Plötzlich stand eine Verkäuferin neben mir und riss mich aus meinen Gedanken: »Junge Dame, kann ich dir helfen? Ich glaube nicht, dass du damit etwas anfangen kannst. Was suchst du denn?« Ich stellte Flutschi verlegen zurück ins Regal und sagte: »Haargel.« Sie führte mich in den entsprechenden Gang und setze sich wieder hinter die Kasse. Es war mir peinlich, mit leeren Händen aus dem Laden zu gehen, als ob bei den unzähligen Gelsorten keine für mich dabei gewesen wäre. Aber mein wertvolles Taschengeld für eine Tube Gel auszugeben, die ich in den nächsten Jahren nicht brauchen werde, da ich meinen Pferdeschwanz nicht gelen musste und nicht vorhatte ihn abzuschneiden, nein, dafür war die Scham nicht groß genug. Also ging ich zügig mit gesenktem Blick an der Kassiererin vorbei und


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