Die Leiden der jungen Lotte. Denise Rüller
um sie und verlor mich, je länger sie mich hielt, mehr und mehr zwischen ihren verschwenderischen Brüsten und geriet in einen pränatalen Zustand der Geborgenheit und Sicherheit. Der Schulgong riss mich aus der Schutzzone heraus und ich spürte eine heilsame Träne über meine Wange laufen. Ich strahlte Frau Recki überglücklich an und sagte erleichtert: »Ich bin nicht wie Mutter!«
Nach einem Glas Wasser und Schokolade hatten wir unsere Fassung und die alte Sitzposition wiedergefunden und Frau Recki fragte, ob ich noch genug Kraft hätte, um über den Vorfall während der letzten Biologiestunde zu sprechen. Ich hätte ihr zwar lieber von schwerwiegenderen Vorfällen zwischen Mutter und mir erzählt, die mir erneut Einlass in die Schutzzone zwischen ihren Brüsten gewährt hätten, aber tat ihr den Gefallen und schilderte ihr die Biologiestunde und was ich Frau Stövken danach erzählt hatte.
Frau Recki wollte genauer wissen, was sich alles in meinem Spielzeugkoffer befinde und wie sie sich das Spielen mit diesen Gegenständen vorzustellen habe. Ihre Gesichtsfarbe änderte sich im Verlauf meiner Erläuterungen und diente mir als Indiz dafür, wie stark meine Kindheit gefährdet war: Klangkugeln durch mein Zimmer zu rollen zeigten sich als ein ungefährliches Zartrosa; dass ich mir über jeden Finger Kondome in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen stülpte und daran als Lolliersatz, denn die habe Mutter mir verboten, herumnuckelte, wobei mein Lieblingsgeschmack Marshmallow sei, führten zu einem kirschroten Teint und schien also gefährlicher zu sein. Das Leichenblass bei der Schilderung meines Rittes durch die Wohnung mit Reitpeitsche und in schwarzer Latex-Kluft signalisierte mir, dass ich vielleicht doch ein Fall für den Kinderpsychiater war. Nach einer Stunde lagen die Nerven von Frau Recki blank und sie verabschiedete mich mit dem Hinweis, dass sie Mutter zu einem Gespräch in die Schule bitten werde und dass ihre Tür immer für mich aufstehe.
Mutter verfolgte, von der Unterredung mit Frau Recki scheinbar ungerührt, ihr Ziel mit noch mehr Härte, obwohl sie ihr mit dem Jugendamt gedroht habe, wie sie mir spöttisch berichtete. Das Jugendamt tauchte nicht auf und drei weitere Jahre durchlitt ich das von Mutter für mich vorbestimmte Leben. Ich musste mich regelmäßig auf Fotoshootings darbieten und fühlte mich dabei wie auf einer Schlachtbank: Mein Körper wurde zu Werbezwecken instrumentalisiert und inszeniert, sodass ich meine Gliedmaßen und mein durch ein gezwungenes Lachen verzerrtes, künstliches Gesicht wie tote, nicht zu mir gehörende Körperteile empfand und mich wie ein Arbeitsgerät der Mutter fühlte. Ich lief auf Kindermodenschauen in Hamburg, München und Berlin über die Laufstege und präsentierte Kreationen bekannter Modedesigner. Meine Fußballleidenschaft musste ich auf die Unterrichtspausen während der Schule einschränken.
* * *
Mein Aufstieg begann im Jahre 1981 mit einem Absturz vom Schwebebalken am Ende der achten Klasse. Im Sportunterricht stand Turnen auf dem Programm, nicht gerade meine Stärke, aber auf dem Schwebebalken hielt ich mich vergleichsweise gut, da ich durch das Stöckeln über Laufstege Übung im Gleichgewichthalten hatte. In der letzten Turnstunde sollten wir unsere einstudierte Kür vorturnen, die bei mir bis zu meinem finalen Salto wie am Schnürchen lief. Doch dann rutsche ich beim Schwungholen von der Kante ab und hörte bei der Landung auf der Matte ein Knacken, spürte einen stechenden Schmerz und blickte auf meinen abgeknickten Fuß. Dreißig Minuten später bekam ich im Krankenhaus einen glatten Mittelfußbruch und einen Bänderriss attestiert. Als Mutter eintraf, wurde mein Schmerz von einem mir bisher unbekannten Gefühl von Schadenfreude verdrängt, die mein Körper mir bereitete, indem er sich an Mutter für deren jahrelange Schändung rächte. Denn mit diesen Verletzungen durchkreuzte er ihre Pläne für die nächsten Modenschauen und verhinderte, dass sie mich weiter über Laufstege jagen konnte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass der gebrochene Fuß auch ein Bruch mit meinem bisherigen Leben bedeutete. Während ich eingegipst wurde, stürmte Mutter außer sich ins Krankenzimmer und befahl dem Arzthelfer, sofort den Gips wieder zu entfernen, da sie ansonsten eine Anklage auf Schadenersatz erhebe. Wutschnaubend schrie sie ihn an: »Wissen Sie eigentlich, wessen Bein Sie hier gerade eingipsen? Nein? Lesen Sie keine Zeitung, schauen Sie kein Fernsehen? Schon einmal etwas von der Auferstehung Biggys gehört? Biggy, also Lotte, läuft nächste Woche als erstes Kindermodel der Welt auf John Gallianos Show für Dior, und das auf der großen Treppe des Pariser Opernhauses. Können Sie mir sagen, wie das mit Gipsbein gehen soll? Seit zwei Monaten fahren wir dafür dreimal pro Woche nach Bochum, da die Operntreppe dort die gleichen Stufenmaße hat wie die in Paris, um das Gehen auf der Treppe in engem Kleid und mit hohen Schuhen zu trainieren. Das muss in Fleisch und Blut übergehen. Sie glauben wohl, das Modeln sei ein spaßbringender Zeitvertreib, da irren Sie sich gewaltig, das ist harte Knochenarbeit.« Mutter hatte während ihrer Tirade nicht ein Mal Luft geholt und ihr Kopf sah bedrohlich krebsrot aus. Sie hielt ihren anklagenden Erregungszustand aufrecht und brachte mir statt mütterlicher Anteilnahme ihre Erbarmungslosigkeit entgegen: »Lotte Schröder, wie konntest du nur so unvernünftig sein und nicht aufpassen! Täglich bete ich dir vor, dass du nichts anderes im Kopf haben darfst als deine Karriere. Wieso ist das in deinem Schädel nicht angekommen?« Während ich beschämt nach unten schaute, fuhr der Arzthelfer unbeeindruckt mit dem Eingipsen fort und sagte: »Wie Sie sehen, hat der Knochen seine Arbeit eingestellt. Wenn ihnen etwas an ihrer Tochter liegt, sollten auch Sie das tun, wozu Lotte nun leider, zumindest einseitig, für die nächsten acht Wochen gezwungen ist: die Füße still halten.«
»Ich möchte sofort den Arzt sprechen!«, verlangte Mutter. Dazu müsse sie zur Anmeldung gehen und nach Frau Dr. Böhnisch fragen. Mutter jagte über den Flur zur Anmeldung.
Der Arzthelfer sah mich mitleidig an und drückte sein Bedauern über den unpässlichen Unfall aus: »Da hast du dir ja nicht gerade den günstigsten Zeitpunkt für ein Gipsbein ausgesucht, aber Kopf hoch, du scheinst ja bereits weltweit in aller Munde, da werden die Designer sicher auf deine Genesung warten und bald schon wieder Schlange stehen.«
»Ich wünschte, die würden mich vergessen. Ich hasse das Modeln. Können Sie den Gips nicht so anlegen, dass alles etwas schief zusammenwächst? Dann müsste ich nie wieder über Laufstege stelzen. Und eine leichte O-Beinstellung wäre sogar förderlich für einen ordentlichen Spin beim Schießen.«
Verdutzt schaute mich der Arzthelfer an und pochte darauf, dass ich mit Mutter über meine Wünsche spreche.
Ich erwiderte resigniert: »Mit ihr kann man nicht reden. Als sie erfuhr, dass ich Fußball spiele, hat sie mich in mein Zimmer eingesperrt, mir das Fußballspielen verboten und so lange nicht mehr mit mit gesprochen, bis ich fünf Wochen später den nächsten Modelwettbewerb gewonnen hatte.«
»Gibt es denn niemanden, dem du dich anvertrauen kannst und der dir hilft?«, fragte der Arzthelfer alarmiert, »ich kann dir die Telefonnummer des sozialpsychologischen Dienstes für Kinder und Jugendliche in deiner Nähe geben. Dort kannst du jederzeit anrufen.« Er gab mir ein Faltblatt aller Einrichtungen für Kinder in Not mit dem Hinweis, dass meine Mutter davon nichts zu wissen brauche.
Wie auf‹s Stichwort hörte ich Mutter Frau Dr. Böhnisch anblöken: »Ihre Vorwürfe sind absolut haltlos und eine Frechheit. Ich werde mir einen Anwalt nehmen und Sie verklagen und meine Tochter können Sie nicht gegen meinen Willen hier behalten, ich nehme sie jetzt mit!« Vom Flur aus rief sie nach mir: »Lotte, komm, wir gehen!«
Ich zuckte zusammen und wollte von der Liege steigen, als mich ein stechender Schmerz zurückwarf. Dr. Böhnisch stürzte kurz nach Mutter herein und forderte sie auf, das Zimmer zu verlassen: »Frau Schröder, wenn Sie Ihre Tochter gegen meine ärztliche Anweisung mitnehmen, werde ich das Jugendamt einschalten, denn dann ist das Wohl Lottes in Gefahr. Ich bitte Sie daher, zur Vernunft zu kommen und Ihre Tochter bis morgen für weitere Untersuchungen hier zu lassen.« Ich wusste nicht, über welche weiteren Untersuchungen Frau Dr. Böhnisch mit Mutter gesprochen hatte, konnte mir aber vorstellen, dass es etwas mit den Bemerkungen Herrn Mühlenas, des Arzthelfers, zu tun hatte, der während des Eingipsens sagte, dass eine solche Schwere meiner Verletzung in meinem Alter sehr ungewöhnlich sei, was ihn aber nicht wundere, wenn man nur aus Haut und Knochen bestehe. Mutter gab sich geschlagen: »Dann lassen Sie mich wenigstens mit meiner Tochter unter vier Augen sprechen.«
Als wir allein im Zimmer waren, beschwor Mutter mich, keine Dummheiten zu erzählen, an meine Karriere zu denken und mich nicht so anzustellen. Ich solle sie anrufen, wenn die Untersuchungen erledigt