Ende offen. Peter Strauß
Systeme zunehmend bis an ihre Grenzen ausreizen und die Globalisierung und das Internet alles und jeden miteinander verbinden, wird eine Lösung innerhalb der jeweiligen Systeme nicht mehr gelingen.
Ich habe hier übergreifende Gedanken zusammengetragen und ausgearbeitet, weil ich davon ausgehe, dass wir nur auf diese Weise den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Menschheit sicherstellen können. Ich will beschreiben, was ich langfristig gesehen und von außen betrachtet für das Ideale für die Menschheit halte. Verbreitete Ziele wie das Streben nach Vermögen, Macht oder Geltung, nützen zwar dem Einzelnen, haben aber auch einen Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte. Sie haben für mich nur geringe oder gar keine Bedeutung bei der Suche nach unserem Weg in die Zukunft. Mich beschäftigt, wie wir unsere ferne Zukunft gestalten können und was heute nötig ist, um gemeinsam dorthin zu gelangen.
Viele Meinungsträger der Gesellschaft versuchen uns zu vermitteln, dass bestimmte Zustände alternativlos seien; es gehe nicht anders, dies seien eben die Kompromisse, mit denen man leben müsse. Andernfalls würden beispielsweise Unternehmen abwandern und damit Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze gefährden. Ich wollte der Frage nachgehen, welche solcher Aussagen in den nächsten Jahrhunderten noch Bestand haben werden und welche Aussagen lediglich durch kurzfristige politische oder wirtschaftliche Interessen motiviert sind und damit einem fragwürdigen Zeitgeist folgen.
Aussagen, die den Weg in die Zukunft beschreiben sollen, müssen allgemeingültig sein. Das heißt, ihre Richtigkeit darf nicht von der Perspektive des Betrachters abhängen. Wenn ich einem mir materiell gleichgestellten Mitmenschen Geld stehle, macht mich das reicher, was mir gefällt. Begebe ich mich in seine Position, so stelle ich fest, dass es ihm missfallen muss, da er nun ärmer ist. Versetze ich mich also in mein Gegenüber hinein, kann ich die Tat nicht mehr gutheißen. Es gibt keinen Grund, der diese Verschiebung von Besitz rechtfertigen würde – außer meinem persönlichen Vorteil gegenüber dem anderen. Anders verhält es sich, wenn ich mit einem Bündel Geldscheine in der Hand durch ein Armenviertel in der Dritten Welt laufe und dort ausgeraubt werde. Versetze ich mich in die Lage des mittellosen Ghettobewohners, der mithilfe des von mir erbeuteten Geldes sein Überleben für einige weitere Tage sichern will, so kann ich seine Tat möglicherweise nachvollziehen – auch wenn sie mir nicht gefällt und nicht rechtens sein mag. Ich muss mir konsequenterweise eingestehen, dass das Geschehene kein Wunder ist, weil ich in der Position des anderen vielleicht genauso handeln würde. Mein Bewertungsmaßstab ist hierbei der Gesamtnutzen für die Menschheit oder sogar für alles Leben auf der Erde, nicht etwa Einzelinteressen. Ich trete hier für Verhaltensweisen ein, die man auch dann verstehen und nachvollziehen kann – wenn auch nicht gutheißen oder mögen muss –, sobald man sich in die Rolle des Gegenübers versetzt. Das entspricht in etwa dem Kategorischen Imperativ von Kant oder der Redewendung „Was Du nicht willst, das man dir tu, das füge keinem andern zu!“
Seit Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat sich das Lebensgefühl vieler Menschen verändert. Gefühlt haben viele Deutsche weniger Geld in der Tasche als noch vor Jahren. Die Löhne scheinen in vielen Branchen zu stagnieren, während viele Firmen immer höhere Gewinne einfahren und sich um Steuerersparnis bemühen. Es gibt Krisen in allen Bereichen: Finanzkrise, Eurokrise, Syrienkrise, Flüchtlingskrise. Es gibt heute weltweit so viele Flüchtlinge wie zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges. Es gibt immer noch zu wenige Arbeitsplätze, das Gesundheitssystem ist reformbedürftig, das Steuersystem wird immer komplexer, Armut und speziell Altersarmut nehmen zu, das Volk ist wahlfaul, es gibt zu viele Steuerflüchtlinge, es gibt kein Atommüll-Endlager. Wir haben zwar nur selten Kriege in Europa, aber dafür ein CO2-Problem. Die Erderwärmung wird immer öfter in Form von Wetterextremen spürbar. Seuchen wie Ebola können über den weltweiten Tourismus auf unsere Zivilisation überspringen. Unser Schnitzel kommt nicht mehr vom Bauern über den Metzger, sondern aus der Fleischfabrik auf unseren Tisch. In den Industrieländern haben wir zwar Wohlstand und Besitz gemehrt, wir erzeugen aber Unmengen von Müll, und die Ressourcen der Welt nehmen stetig ab. Wir riskieren durch die hemmungslose Entwicklung neuer Technologien unsere Existenz und die des gesamten Planeten: Wir funken ins All, um Außerirdische zu kontaktieren, ohne zu wissen, ob diese nicht ähnlich gierig und rücksichtslos sind wie wir. Wir entwickeln künstliche Intelligenz, die in eine neue Art von Diktatur durch die Maschinen münden könnte, und wir entwickeln die Gentechnik weiter, ohne vorher zu klären, wie Unfälle, Missbrauch und eine Gefährdung des ökologischen Gleichgewichts verhindert werden können.
Die Liste lässt sich beinahe endlos fortsetzen.3 Viele dieser Probleme sind allerdings räumlich oder zeitlich so weit von uns weg, dass wir sie kaum wahrnehmen. Wir Europäer leben auf einer der letzten schönen Inseln. Wir entwickeln uns dauernd weiter und lassen dabei den Rest der Welt hinter uns. Glücklicher als früher sind wir nicht. Eines scheint immer deutlicher zu werden: Es kann nicht in jeder Hinsicht weitergehen wie bisher. Es gibt einige Sachverhalte, die mich zu einem eher negativen Zukunftsbild geführt haben:
− Durch die voranschreitende Technologie wird unsere Macht beständig größer – auch die Macht zur Zerstörung.
− Seit Mitte des letzten Jahrhunderts leben wir mit permanenten Bedrohungen: der Gefahr eines Atomkrieges, der Erschöpfung natürlicher Ressourcen und der zunehmenden Verschmutzung unserer Umwelt. Neu hinzugekommen sind die Risiken durch Gentechnik, tödliche Krankheiten und künstliche Intelligenz.
− Die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Bildung sowie der Rückgang bewaffneter Konflikte, extremer Armut, Hunger und Kindersterblichkeit4 in den letzten siebzig Jahren betrifft überwiegend die industrialisierten und aufstrebenden Länder.
− In Bezug auf Tiere, Natur, Ressourcen und Erhaltung der Erde geht es ungebremst weiter bergab.
All das geht auf den Menschen zurück und zeugt davon, wie unfertig unser Vorwärtsschreiten ist. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Lebensweise radikal verändern. Darum habe ich dieses Buch geschrieben.
Dass die vielen inneren Widersprüche unserer Gesellschaft und unseres Wirtschaftssystems nur auf falschen Vorstellungen der Realität beruhen sollen, wie manche behaupten, erscheint mir zu schwach. Eine Vorstellung ist etwas Willkürliches, das sich jederzeit verändern lässt, aber unser Festhalten an offensichtlich schädlichen Verhaltensweisen und Idealen erscheint mir wenig freiwillig. Meines Erachtens müssen dahinter Sehnsüchte, Ängste und starke Wünsche stehen, damit wir so hartnäckig den Wegen folgen, von denen viele schon ahnen, dass sie in die Irre führen. Eine Gesellschaft nüchtern denkender Wesen hätte aus der Erkenntnis ihrer Fehler längst Konsequenzen gezogen und ihr Handeln korrigiert. Seit fast fünfzig Jahren ist uns bekannt, dass wir unsere Umwelt systematisch zerstören. Noch immer stemmen sich starke Kräfte dagegen, dass diese Erkenntnis zu einem Kurswechsel führt.
1.2 Zweite Motivation: Vergangenheit
Als junger Erwachsener kam ich auf die Idee, unser heutiges Sein ließe sich besser verstehen und bewerten, wenn man es aus unserer Geschichte heraus betrachtet. Unsere menschlichen Eigenschaften erscheinen in unserer Zivilisation manchmal falsch oder unangebracht, aber sie müssen in früheren Zeiten optimal gewesen sein – sonst hätten wir sie nicht entwickelt. Wir Menschen sind zu allem in der Lage, wofür uns die Evolution geschaffen hat. Ich denke, dass wir nahezu bestmöglich an das Leben angepasst sind, das wir führten, bevor wir „zivilisiert“ wurden und die Sprache entwickelten, also in der Zeit vor der neolithischen Revolution und dem, was die Bibel als „Sündenfall“ bezeichnet. Andernfalls wären wir längst ausgestorben. Die Erklärung, warum wir Menschen so sind, wie wir sind, ist unsere Lebensweise vor der Gründung von Dörfern und Städten, als wir noch überwiegend Nomaden waren und in Clans lebten. Unsere damalige genetische Ausstattung hat sich bis heute kaum verändert.5
Über diese Vorstellung findet man leicht einen Zugang dazu, was tief in uns steckt. Die letzten zehntausend zivilisierten Jahre haben uns im Vergleich zu den vorherigen Jahrmillionen relativ wenig geprägt. Das meiste, was in uns steckt, ist sehr alt. Es geht mir jedoch nicht darum, unsere Errungenschaften zu verteufeln oder den heutigen Menschen in den Zustand der Steinzeit6 zurückzubringen. Es geht auch nicht darum, weniger entwickelten Gesellschaften zu sagen, was sie tun müssten, um unser Niveau zu erreichen. Der Urzustand unserer Spezies interessiert mich deshalb,