Ende offen. Peter Strauß
dass heute jedermann eine Kutsche erwerben könnte, die ihn überall hinbringt – und das mit Geschwindigkeiten, die zu dieser Zeit keine technische Errungenschaft, sondern höchstens ein Raubvogel im Sturzflug erreichen konnte. Es hätte niemand geglaubt, dass wir uns fliegend mit annähernd der Geschwindigkeit von Pistolenkugeln bewegen könnten und dies eine beliebte Art des Reisens werden könnte. Vor etwas mehr als hundert Jahren, hätte niemand geglaubt, dass es für bürgerliche Menschen nicht unanständig sein könnte, wenn man sich auf der Straße küsst oder wenn ein Mann etwas anderes als einen Anzug mit Hut und eine Frau etwas anderes als ein Kopftuch und ein bodenlanges Kleid trägt. Vor fünfzig Jahren hätte sich niemand in Europa oder Nordamerika vorstellen können, dass es schwule oder schwarze Politiker in höchsten Ämtern geben könnte. Vor dreißig Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass jeder von uns seine Plattensammlung, seine Fotoalben, sein Bücherregal und all seine Karten und Stadtpläne mit sich herumtragen könnte – in einem Gerät, das so groß ist wie ein damaliger Taschenrechner – und dass man sich damit an jedem Ort der Welt mit jedem anderen verbinden könnte und dass es dazu noch als Fotoapparat, Filmkamera und Atlas dienen könnte und noch vieles mehr. Und zu derselben Zeit hätten viele Leute Schwierigkeiten gehabt, sich ein Russland ohne Kommunismus vorzustellen.
Damit ist klar, dass sich irgendwann auch die Rahmenbedingungen verändern werden, die in den westlichen Industrieländern seit Ende des Zweiten Weltkriegs unverändert geblieben sind und uns eine scheinbar ewig währende Sicherheit vorgaukeln. Unklar ist, wann und auf welche Art dies geschehen wird. Leichter ist es, Schwächen, Denkfehler und Verbesserungspotentiale im heutigen System zu entdecken. Daraus lässt sich zumindest ableiten, was verändert werden muss.
Damit kommen wir von den Chancen zu den Risiken. Man könnte behaupten, wir hätten in der Vergangenheit noch jede Krise lösen können. Dies trifft nur zum Teil zu. Wir haben den FCKW-Ausstoß reduziert, Asbest und das Insektizid DDT verboten, wir recyceln mehr Stoffe als früher und verhindern, dass viele Gifte als Müll in die Umwelt gelangen. Andererseits haben wir den Ressourcenabbau nicht reduziert, sondern immer neue Rohstoffe entdeckt und erschlossen. Analoges gilt für die Entsorgung des Atommülls. Wir produzieren Energie noch lange nicht nachhaltig, die Menschheit vermehrt sich nahezu ungebremst, und die meisten Ressourcen könnten lange verbraucht sein, bevor fünfhundert Jahre vorbei sind.
Wirtschaftlicher Erfolg ist alles für uns
Aktuell ist unser Streben nach Fortschritt fast ausschließlich auf das Materielle ausgerichtet, auf die Weiterentwicklung von Technologie und finanziellem Wohlstand, nicht auf ideelle Dinge wie unsere künstlerische, soziologische oder psychologische Entwicklung. Wir glauben, es sei ausreichend, sich auf „das Wesentliche“ zu konzentrieren. Das Wesentliche ist für uns die wirtschaftliche Entwicklung von Unternehmen mit Unterstützung durch die Politik. Geistige Entwicklung geschieht überwiegend an Universitäten und in den Köpfen von Idealisten.
An psychologischer Grundlagenforschung haben Unternehmen ein vitales Interesse, wenn sie ihnen hilft, Bedienoberflächen oder Werbung zu optimieren. Lockt hingegen kein wirtschaftlicher Nutzen, so gibt es magere Forschungsgelder aus Steuermitteln, und das Thema bleibt ohne große Rückwirkung auf die Menschen. Die Verbreitung von Ergebnissen obliegt dem persönlichen Einsatz engagierter Forscher. In Psychologie, Soziologie, Philosophie und Ethik beruht unsere Weiterentwicklung fast ausschließlich auf dem uneigennützigen Einsatz von Menschen, die ihren Idealen gefolgt sind.
Unsere moralische Entwicklung wird derzeit neben dem Schulunterricht einiger motivierter Lehrer nur von unserem evolutionären Erbe angetrieben. Als Rudeltiere bemühen wir uns um Kommunikation und Rücksichtnahme, damit wir besser mit unserem unmittelbaren Umfeld zurechtkommen. Im Bereich moralischer und sozialer Entwicklung fehlen Strukturen, die Professoren, Lehrer und Eltern motivieren, auch hier die neuesten Erkenntnisse umzusetzen. Wir können dankbar sein, dass die entsprechenden Triebe in uns so stark sind, sonst hätte der Egoismus uns längst dazu gebracht, uns gegenseitig zu vernichten.
Wir könnten unsere Zukunft aktiver gestalten
Eine einseitige wirtschaftliche Entwicklung und unser kurzfristiges Denken führen uns nicht weiter:
− Unser wirtschaftlicher Gewinn macht uns nur glücklich, wenn er Nutzen stiftet. Finanzieller und technologischer Fortschritt, die keinen echten Wohlstand und anhaltendes Wohlbefinden schaffen, werden uns langfristig enttäuschen und mit einem Gefühl der Leere zurücklassen.
− Der wirtschaftliche Fortschritt hat seine Errungenschaften zu großen Teilen auf Basis von Ausbeutung von Menschen und Umwelt erbracht. Es ist fraglich, ob ein derartiger Fortschritt auch dauerhaft nachhaltig möglich ist.
− Geistiger Fortschritt hätte größeres Glückspotential und würde uns nachhaltiger nützen.
− Eine reine technologische Entwicklung lässt das Potential der geistigen Entwicklung auf der Metaebene ungenutzt.
Ebenso wie man jeden Euro nur einmal ausgeben kann, können wir unsere Arbeitskraft nur einmal einsetzen. Wir können uns entscheiden, für welche Entwicklung wir sie nutzen wollen. Ich finde es schade, sie fast ausschließlich für technologischen Fortschritt und Wachstum, also für kurzfristige Erfolge und Scheinerfolge zu verschleudern, statt sie für geistiges Wachstum und geistigen Fortschritt zu nutzen – vor allem, weil wir materiell genug besitzen und es uns leisten könnten, hier auf weiteres Wachstum zu verzichten. Dass wir nach immer mehr Geschwindigkeit, Leistung und Reichtum streben und dabei kurzfristig denken, ist eine der Schattenseiten unserer Evolution. Die Alternative dazu wäre die Suche nach einer besseren Welt.
Wir benötigen eine aktive Gestaltung unserer Zukunft, die sich nicht nur mit organisatorischen, finanziellen, biologischen, technischen und wirtschaftlichen Fragen beschäftigt, sondern die auch unsere psychologische und soziologische Entwicklung bedenkt und strukturiert. Warum fangen wir nicht heute mit der Veränderung an?
Wir brauchen eine koordinierte Veränderungskultur, die uns als Gemeinschaft versteht. Wir haben jahrzehntelang darauf gesetzt, dass der Egoismus der Einzelnen im Zusammenspiel auf den Märkten alles regulieren werde. Heute zeigt sich, dass dies nicht funktioniert. (Das erläutere ich in Teil 3 des Buches.) Die Menschen sind gut beraten, den Rückstand auf den anderen „Wissensgebieten“ aufzuholen.
Unsere Staatssysteme zielen auf die Schaffung von Rahmenbedingungen für den technologisch-wirtschaftlichen Fortschritt. Es könnte eine neue Aufgabe für Regierungen sein, mit mindestens derselben Intensität die geistig-soziologische Weiterentwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft zu fördern. Jetzt wird der eine oder andere Leser einwenden, dass eine höhere Gewichtung geistigen Wachstums Geld kostet, das wir nicht für andere Dinge ausgeben können, und wir daher die Veränderung nicht angehen sollten, weil sie unser Wirtschaftswachstum gefährde. Ja, eine solche Entwicklung kostet Geld und damit einen Teil unseres jetzigen und teilweise vermeintlichen Wohlstandswachstums. Und es verhält sich wie mit jeder anderen Investition: Zuerst kostet sie Geld, und in der Zukunft wird sie sich auszahlen. Zu kurz gedacht klingt der Einwand: „Ich habe keine Zeit, die Axt zu schärfen, weil ich Holz hacken muss.“10
Wir denken kurzfristig
Wir sind in unserem Empfinden sehr im Jetzt verhaftet und vergessen dabei, in wie vielen Belangen eine Zukunft anders aussehen könnte als die Gegenwart. Täten wir das, so würde sich die scheinbare „Alternativlosigkeit“ der heutigen Zeit stark relativieren.
In früheren Zeiten kam es häufiger vor, dass Menschen über ihre Lebensspanne hinaus dachten und planten: Michelangelo arbeitete bis zu seinem Tod maßgeblich am Petersdom und plante den halbfertigen Bau noch einmal komplett um – fertiggestellt wurde er erst eine Lebensspanne nach seinem Tod. Die Zusammenhänge des damaligen Lebens hatten gegenüber den heutigen nicht nur Nachteile. Die größere Beständigkeit hat auch Großes hervorgebracht. Derartig langfristig angelegte Projekte sind in unserer Gesellschaft zurzeit nicht denkbar.
Chancen
Wenn es uns in fünfhundert Jahren noch gibt, haben wir eine große Chance, dass wir als Menschheit in Frieden zusammenleben, ohne Hunger, Armut, Ausbeutung, Zerstörung und Kriege. Dies ist