Ende offen. Peter Strauß

Ende offen - Peter Strauß


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ist bei uns noch wenig positiv betont. Dies wird aber stärker werden, wenn mit zunehmender Komplexität der Technik diese immer weniger durch Einzelleistung realisiert werden kann und ohne wohlwollende Zusammenarbeit viele Erfolge nicht mehr möglich sind.

      Zu 3.: Solche ausgleichenden Effekte fehlen in der realen Welt. Die Besteuerung der Einkommen ist weltweit so gestaltet, dass Reich und Arm auseinanderdriften – dazu mehr in Kapitel 3.8.

      Zu 4.: Erbschaften sind in der realen Welt ein Hauptgrund für Vermögensanhäufungen, und es fehlt eine ausreichend starke Gegenkraft, die ausgleichend wirkt. Auch dies erörtere ich in Kapitel 3.8.

      Zu 5.: Sogar in der Bildung driftet Deutschland auseinander, in Richtung einer Zweiklassengesellschaft, und weltweit betrachtet werden die Bildungschancen schlechter, je ärmer ein Land ist. Außerdem ist unser Bildungssystem sehr träge – es dauert Jahrzehnte, bis neue wissenschaftliche Erkenntnisse in seine Strukturen und Inhalte einfließen.

      Mein Fazit aus diesen Beobachtungen ist: Es geht! Es ist möglich, eine solche Welt zu schaffen. Bei World of Warcraft gibt es derzeit ca. fünf Millionen Spieler114, die mit den Umständen zufrieden sind. Unsere Welt ist nicht alternativlos, und die nötigen Randbedingungen einer Veränderung sind leicht zu formulieren.

      Für die Spieleentwickler ist es eine einfache Frage, die sie sich wahrscheinlich (belegt durch ihren Erfolg) regelmäßig stellen: Wie sorgen wir dafür, dass das Spiel interessant bleibt? Das führt zur nächsten Frage, wie man große Ungleichheit verhindert und damit zu den obigen Ergebnissen kommt. Dafür, dass unsere Regierenden diese Erkenntnisse nicht genauso direkt umsetzen, gibt es nur eine mögliche Erklärung: Es gibt kein Interesse daran, dafür zu sorgen, oder es gibt große Gegenkräfte, die das verhindern. Dazu gehört neben Lobbyismus, Korruption, Opportunismus und Populismus auch die fehlende Verbreitung der obigen Erkenntnisse.

      Nebenbei beobachtet: Es gibt innerhalb des Spieles so gut wie keine Hierarchien!

       2.4 Das Gefühl des Richtig-Seins

      In diesem Kapitel möchte ich beschreiben, wie sich unsere psychologische Historie auf unser heutiges Leben auswirkt: Die US-amerikanische Autorin und Psychotherapeutin Jean Liedloff hat in der Mitte des letzten Jahrhunderts mehrere Expeditionen zu einem Indianerstamm im brasilianischen Regenwald unternommen. Ihr 1975 erschienenes Buch Auf der Suche nach dem verlorenen Glück beschreibt, wie deren Ausgeglichenheit, Friedfertigkeit und Integrität mit dem Aufwachsen ihrer Kinder zusammenhängt: „Bei den Yequana werden Kindern praktisch das ganze erste Lebensjahr auf dem Arm oder am Körper getragen und nach Bedarf gestillt. Die Kinder schlafen gemeinsam mit den Eltern, bis sie selbst aus dem Familienbett ausziehen, meist zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr. Ermahnungen oder Tadel, wie sie Bestandteil der westlichen Erziehung sind, finden Liedloffs Beobachtungen zufolge nicht statt. Die Kinder wachsen zu ungewöhnlich freundlichen, friedlichen und selbstbewussten Menschen heran.“115 Die Geborgenheit der Kinder in den ersten Lebensjahren scheint also zu Eigenschaften im Erwachsenenleben zu führen, nach denen wir ebenso streben.

      Liedloff geht davon aus, dass wir eine Erwartung an das Leben, das Kontinuum haben, wie man als Säugling mit uns umgehen solle. Diese Erwartung entsteht durch die Prägung, die die vielen Generationen vor uns erfahren haben. Wir erwarten nach der Geburt, dass die Welt so ist, wie sie unsere Vorfahren erlebten, denn wir sind durch die Evolution genau daran und an nichts anderes angepasst. Liedloff stellt heraus, dass ein Kind ein Aufwachsen in Liebe, Freiheit und Geborgenheit erwartet und nicht ein Aufwachsen in Kontrolle, Zucht, Ordnung und Gefühlskälte, was lange Zeit Standard in der „Erziehung“ war und heute als „Schwarze Pädagogik“ bezeichnet wird. Ihr zufolge haben Eltern von der Natur alle nötigen Fähigkeiten mitbekommen, die sie für den Umgang mit ihren Kindern benötigen: „Es steht z. B. nicht dem Verstand zu, darüber zu entscheiden, wie man ein Baby behandeln muss. Lange ehe wir einen Entwicklungsstand erreichten, der dem des homo sapiens ähnelte, verfügten wir über hervorragende Instinkte, die über jede Einzelheit der Kinderaufzucht Bescheid wussten.“116 Die wenigen Generationen unserer Zivilisation und des bewussten Handelns hätten daran nichts Wesentliches verändert.117

      Sie schließt aus ihrer Beobachtung der Ureinwohner, für ein Baby sei es natürlich, den ganzen Tag von der Mutter getragen zu werden, und dies ist direkt nachvollziehbar, wenn man sich vorzivilisatorische Menschen vorstellt. Eine steinzeitliche Mutter hatte keine andere Wahl, als ihr Kind den ganzen Tag mit sich zu tragen. Dies war also unser aller „Urzustand“, der nicht ohne Wirkung bleibt: Ein Baby, das sein erstes Lebensjahr im Körperkontakt mit der Mutter verbringt, bekomme dadurch ein Gefühl des Richtig-Seins in der Welt, der Sicherheit und Geborgenheit, das den meisten heutigen Menschen fehle: „Richtigkeit ist das den Einzelwesen unserer Gattung angemessene grundlegende Gefühl von sich selbst. Verhalten, das nicht durch das Gefühl eigener Richtigkeit bedingt wurde, ist nie das Verhalten, zu dem die Evolution uns führen wollte; es vergeudet daher nicht nur Jahrmillionen der Vervollkommnung, sondern kann auch keiner unserer Beziehungen dienen, weder in uns selbst noch nach außen. Ohne dieses Gefühl des Richtigseins hat man kein Gespür dafür, wie viel an Wohlgefühl, Sicherheit, Hilfe, Gesellschaft, Liebe, Freundschaft, Gegenständen, Lust oder Freude man beanspruchen kann. Einem Menschen, dem dieses Gefühl mangelt, kommt es oft so vor, als sei ein leerer Fleck, wo er selbst sein sollte.“118

       Den meisten von uns fehlt das Selbstverständlichste

      Die meisten älteren Menschen und ein erheblicher Teil der Jüngeren wurden als Babys den längsten Teil des Tages alleine in ein Bettchen gelegt und hatten nur für kurze Zeit Körperkontakt mit ihrer Mutter. Mit etwas Glück wurden sie gestillt; hatten sie Pech, wurden sie mit der Flasche großgezogen. Dies ist das genaue Gegenteil der „Kontinuumserwartung“ des Babys an die Welt. Ein Baby fühlt sich im Vergleich zu einem Erwachsenen ungleich stärker einsam und verlassen, wenn es alleine ist. Es ist hilflos, kennt diesen Zustand nicht, erwartet ihn nicht und kann damit nicht umgehen: „Nicht vorbereitet ist es hingegen auf irgendeinen noch größeren Sprung – geschweige denn auf einen Sprung ins Nichts, in Nicht-Leben, in einen Korb mit Stoff ausgeschlagen oder in ein Plastikkästchen, das sich nicht bewegt, keinen Ton von sich gibt, das weder den Geruch noch das Gefühl von Leben aufweist.“119

      Längeres Alleinlassen eines Babys vermittelt diesem unendliche ununterbrochene Todesangst, Einsamkeit, Verlorensein, Verlassensein, Ausgeliefertsein – ganz einfach deshalb, weil kein vorzivilisatorisches Baby, das auf diese Art allein gelassen wurde, überlebt hat. Instinktiv hätte damals eine Mutter ihr Kind nie länger außer Sicht oder alleine gelassen, weil die Gefahr zu groß gewesen wäre, dass es von einem Raubtier gefressen wird. Das ist auch der Grund, warum ein Baby auf diesen Zustand nicht vorbereitet sein kann: „Wenn er [der Säugling] verlassen ist, aus seinem Kontinuum der richtigen Erfahrung geworfen, ist nichts annehmbar, und nichts wird akzeptiert. Es gibt nur noch ungestilltes Verlangen, es gibt nichts, was sich nutzen ließe, woran man wachsen könnte, nichts, was sein Bedürfnis nach Erfahrung erfüllte; denn die Erfahrungen müssen die erwarteten sein, und nichts in der Erfahrung seiner entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren hat ihn darauf vorbereitet, allein gelassen zu werden, ob im Schlaf oder im Wachen, geschweige denn weinend ohne die Antwort eines seiner Artgenossen.“120Jan Philipp Reemtsma bestätigt diese Beobachtung: „Jedes Kind […] ist sich instinktiv seiner Verletzlichkeit gewiss, es weiß vorbewusst von seiner Abhängigkeit, präziser seinem Ausgeliefertsein an die Umwelt und jene Menschen, in deren Verfügungsgewalt es sich weiß. Vernachlässigung, gleichgültiges, gar Abneigung signalisierendes Abwenden bedeuten Todesgefahr, auch das bestbehütete Kind, dem doch solches dennoch immer wieder widerfährt, kann darauf panisch reagieren. Zurückweisung, Verachtung im Alltagsleben des Erwachsenen kann an solche Ängste rühren – muss sie nicht aktualisieren, es hängt von der Lebensgeschichte, der Situation, von vielem ab, was geschieht, aber die besondere Verstörung, die solche Zurückweisung bei manchen Erwachsenen hinterlässt, verweist auf frühes Erleben.“121

      Ein Baby kann solche Einsamkeit nicht wie ein Erwachsener aushalten, weil es nicht abschätzen kann, wann diese endet: „Der Mangel an Gespür für das Vergehen der Zeit ist für ein Kind im Mutterleib oder während der Phase des Getragenwerdens


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