Ende offen. Peter Strauß
wollen, ohne es zu merken, ist, uns endlich richtig zu fühlen. Zum Teil ist dieses Streben ganz natürlich, und gerade das macht es so schwer, den unnatürlichen Teil unseres Strebens als solchen zu erkennen. Wenn in unserer Kindheit alles richtig lief, sollte man sich in seinen ersten Lebensjahren vollkommen geborgen und versorgt und als Mittelpunkt fühlen können, bis man genügend innere Stärke entwickelt hat, um in die Welt hinauszuziehen. Hat man dies nicht erlebt, so sucht man höchstwahrscheinlich in seinem späteren Leben instinktiv danach. Es ist dieses Gefühl, das viele im Star-Dasein suchen, und es ist der unnatürliche, weil zivilisations- bzw. „erziehungs“-bedingte Teil unseres ständigen Strebens.
Ebenso gut wie bei der Erfüllung solcher Wünsche fühlen wir uns, wenn es uns gelingt, das Fahrrad eines Freundes reparieren, oder wenn wir aus Erfahrung schon vorher wissen, welches Fettnäpfchen wir in einer bestimmten Situation besser meiden sollten, oder wenn bei der Arbeit, beim Kochen oder Musikmachen einfach jeder Handgriff sitzt und wir mit traumwandlerischer Sicherheit das Richtige tun – und uns richtig fühlen. Oft aber suchen wir dieses Gefühl in einem Streben nach mehr von irgendetwas.
Wie oft kommt es vor, dass wir etwas tun, nicht nur weil uns sonst langweilig wäre, sondern weil wir uns auch eine Verbesserung unseres Lebens davon erhoffen – und das obwohl wir genügend zu essen, ein Dach über dem Kopf, Kleidung und Gesundheit haben und uns äußerlich nichts fehlt. Aber innerlich spüren wir Leere und suchen Linderung. Das Streben nach Beseitigung der inneren Leere macht mit Sicherheit keinen Menschen langfristig glücklich. Jede derartige Befriedigung dieses Strebens ist immer nur vorläufig. Ich bin mir sicher, dass man einem Menschen, der in sich ruht, weniger Medikamente, Artikel zur Körperpflege, Versicherungen und Altersvorsorge-Verträge verkaufen kann. Wer genügend Geborgenheit erfahren hat, kennt nicht das Gefühl, unzureichend und dadurch gefährdet zu sein, und es treibt ihn keine innere Leere an.
Wer vom Falschen ausgeht, kommt zu falschen Schlüssen. So führt die Annahme, dass der Mensch ohne seine ganzen Hilfsmittel nicht überlebensfähig wäre, zu dem Schluss, dass wir unser Streben fortsetzen müssen. Wir stellen unseren Konsum und unser Streben nicht in Frage. Und dies behindert die Erkenntnis, dass uns beides nicht glücklich macht und dass wir nach etwas anderem suchen, nämlich nach dem natürlichen Zustand, in dem wir uns vollständig fühlen. Dass dies oft nicht bewusst wird, behindert wiederum die Erkenntnis, dass vielen von uns zu Anfang des Lebens ein großes Stück Geborgenheit gefehlt hat, die in uns die Gewissheit des Richtigseins verankert hätte.
Wir können uns an Erlebnisse vor dem dritten Lebensjahr nicht bildhaft erinnern, weil die Entwicklung des Gehirns zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist. Daher fehlt uns die konkrete Erinnerung an die Einsamkeit in unserer frühesten Kindheit. Dennoch haben die Erlebnisse in der Zeit davor deutliche Spuren in unserer seelischen Struktur hinterlassen. Man muss nicht um die seelische Verletzung wissen, um verletzt zu sein. Es ist so schwer, das Defizit im Getragenwerden und der Mutterliebe zu erkennen, weil nur unser Gefühl uns dahin leiten kann und keine bewusste Erinnerung.
Auffällig ist, dass viele Menschen beim Älterwerden Erfahrungen machen, die in die richtige Richtung zielen. Der eine schränkt sein berufliches Engagement ein, weil er spürt, dass Arbeit nicht alles ist. Der andere hat es zu Vermögen gebracht, spürt, dass ihn das Geld alleine nicht glücklich macht, und sucht sich neue Hobbys, statt weiter sein Geld zu vermehren. Viele legen ihre Süchte im Alter ab – weil sie nach Jahrzehnten spüren, dass die Befriedigung der Sucht sie nicht glücklicher, dafür aber schneller alt werden lässt.
So geht es immer weiter
Ein erwachsener Mensch, dem als Kind Geborgenheit fehlte und der noch als Erwachsener das Gefühl des Richtigseins kaum kennt, wird wesentlich leichter auf die Idee kommen, dass auch seine Kinder unzureichend seien und deshalb „erzogen“ werden müssten. Das bestätigt in der Folge dann auch sein Kind in seinem Gefühl des Falschseins. Zuerst fehlte ihm die Geborgenheit, die es von Natur aus erwartete, und danach signalisiert man ihm, es müsse angeleitet werden, woraus es schließen muss, dass es unvollständig sei: „Ganz ähnlich wird sie [die Mutter] ihm [dem Baby], wenn sie es unablässig behandelt, als sei es zerbrechlich, das Gefühl vermitteln, zerbrechlich zu sein. Handhabt sie es jedoch auf rauhe und lockere Weise, wird es sich stark und anpassungsfähig und in einer unendlichen Vielfalt von Umständen beheimatet fühlen. Sich als zerbrechlich zu betrachten ist nicht nur unerfreulich, sondern beeinträchtigt auch die Leistungsfähigkeit des heranwachsenden Kindes und später die des Erwachsenen.“147 Ähnliche Beobachtungen hat auch der Familientherapeut Jesper Juul beschrieben. Auf diese Art und Weise pflanzt sich das Defizit in unserem Gefühlsleben von Generation zu Generation fort.
„Wird es [das Baby oder Kleinkind] hingegen ständig beobachtet und dahin gesteuert, wo es nach Auffassung seiner Mutter hingehen sollte, hält sie es an und rennt hinter ihm her, wenn es aus eigenem Antrieb handelt, so lernt es bald, nicht mehr für sich verantwortlich zu sein, da sie ihm ja zeigt, was sie von ihm erwartet.“148 Das ist das Problem aller Kinder, die von wohlmeinenden, überforderten Eltern in der Absicht intellektueller Förderung groß-gezogen wurden, anstatt mit Gleichaltrigen in Freiheit zu spielen und ihren eigenen Weg zu entwickeln. Sie sind an Unselbständigkeit und Anweisungen einer „Obrigkeit“ gewöhnt und haben Schwierigkeiten, eigenverantwortlich zu handeln.
Kinder nehmen von sich aus an der jeweiligen Kultur teil. „Ein Kind, das noch nicht sprechen kann, ist sehr gut in der Lage, seine Bedürfnisse klarzumachen, und es ist sinnlos, ihm etwas anzubieten, was es nicht braucht; schließlich ist das Ziel der kindlichen Aktivitäten die Entwicklung von Selbstvertrauen. Bietet man ihm entweder mehr oder weniger Unterstützung, als es wirklich braucht, so wird dieses Ziel leicht vereitelt. […] Weder gibt es den Begriff des ‚unartigen Kindes’ [bei den Yequana], noch wird umgekehrt irgendeine Unterscheidung hinsichtlich ‚braver Kinder’ getroffen.“149 Es gibt bei den Yequana ebenso wie bei uns unerwünschte Handlungen, aber ein Kind ist immer geliebt.150
Erziehung und Eigenverantwortlichkeit
Entgegen der landläufigen Vorstellung sind Lob und Tadel nicht das Kernstück einer sinnvollen „Erziehung“, denn sie zerstören das Zugehörigkeitsgefühl und das Gefühl des Richtigseins des Kindes.151 Es fühlt sich unzureichend, weil verbesserungswürdig. Wer korrigiert werden muss, kann nicht „richtig“ sein. Ebenso verhält es sich, wenn Eltern sich den ganzen Tag um ihr Kind sorgen. Jesper Juul schreibt: „Besorgnis ist mit das Schlimmste fürs Selbstgefühl, denn Besorgnis sagt die ganze Zeit: ‚Ich rechne nicht damit, dass du zurechtkommst.’“152 Übertreiben Eltern damit, erklären ihrem Kind beständig die Welt und fordern entsprechendes Verhalten ein, so wird das im Kind zwei Reaktionen auslösen: Es fühlt sich gegängelt, und es fühlt sich unzureichend. Das kann zu aggressiven Gegenreaktionen führen. Diese Reaktionen sind geeignet, die Eltern in ihrer Annahme zu bestätigen, dass man dem Kind alles erklären müsse. Lange Zeit war das, was in Wahrheit eine sich selbst erfüllende Prophezeiung darstellt, Konsens in unserer Gesellschaft und hat vielen Menschen viel Leid eingebracht und viel Lebensfreude genommen. Juul: „Jedesmal, wenn wir Tommy belehren, wie seine Lokomotive funktioniert, nehmen wir ihm die Freude am Leben, die Freude des Entdeckens, die Freude, ein Hindernis zu überwinden. Schlimmer. Wir geben ihm ein Minderwertigkeitsgefühl und lassen ihn glauben, auf Hilfe angewiesen zu sein!“153
Besonders tragisch ist, dass sich in der Geschichte der Kinder-„Erziehung“ unausweichlich diese Annahme entwickeln musste, man müsse Kindern Moral „beibringen“. Im vorletzten Jahrhundert begann man, sich über „Erziehung“ Gedanken zu machen. Ein maßgeblicher Teil der Bevölkerung besaß eine wesentlich geringere geistige Reife als heutzutage. Die Menschen hatten überwiegend die Vorstellung, dass Rechtsgrundsätze nicht verhandelbar sind und dogmatisch befolgt werden müssen. Diesen Erwachsenen müssen die Einstellungen ihrer Kinder als gesellschaftszersetzend erschienen sein, beispielsweise, dass Kinder beständig „Warum…?“ fragen, Grenzen austesten und Regeln brechen wollen. Das mag in ihnen in Ermangelung des wirklichen Verständnisses der Zusammenhänge die Vorstellung ausgelöst haben, man müsse Kinder durch „Erziehung“ formen, weil sie sonst zu Barbaren würden. Im Angesicht des heutigen psychologischen und soziologischen Wissensstandes