Ende offen. Peter Strauß

Ende offen - Peter Strauß


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dass die Art durch dieses Wirkprinzip ausstirbt oder dass sie nur deshalb weiter existiert, weil die Beeinträchtigung gerade noch tragbar ist. Da jedoch die Männchen nicht miteinander kämpfen, sondern die Weibchen die Partnerwahl treffen, kann sich diese Eigenart kaum mehr vollständig zurückbilden.

      Bei uns Menschen trat vor der neolithischen Revolution ein dramatischer Bevölkerungsrückgang auf. Über Jahrhunderttausende lebten nur einige Zehntausend Menschen.191 Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass uns damals unser evolutionsbedingtes Aggressivitätsniveau in Kombination mit der Erfindung von Waffen beinahe die Existenz gekostet hätten.192 Denn mit dem menschlichen Aggressionstrieb verhält es sich wie mit den Merkmalen des Argusfasans: „Vor allem aber ist es mehr als wahrscheinlich, daß das verderbliche Maß an Aggressionstrieb, das uns Menschen heute noch als böses Erbe in den Knochen sitzt, durch einen Vorgang der intraspezifischen Selektion verursacht wurde, der durch mehrere Jahrzehntausende, nämlich durch die ganze Frühsteinzeit, auf unsere Ahnen eingewirkt hat. […] Der nunmehr Auslese treibende Faktor war der Krieg, den die feindlichen benachbarten Menschenhorden gegeneinander führten. Er muß eine extreme Herauszüchtung aller sogenannten kriegerischen Tugenden bewirkt haben, die leider noch heute vielen Menschen als erstrebenswerte Ideale erscheinen“.193

      Charles Darwin zitiert die Beobachtung des Südseeforschers John Byron unter Eingeborenen der Inselgruppe Feuerland. Weil ein kleiner Junge einen Korb mit Möweneiern fallengelassen hatte, wurde er von seinem Vater gegen einen Felsen geschlagen und getötet. Bei einer solch geringen Aggressionshemmung ist ein Bevölkerungswachstum kaum möglich.194

      Was Konrad Lorenz nicht erwähnt hat: Die mit Aggressivität einhergehende Rastlosigkeit sorgt dafür, dass die Aggressiven häufiger sterben – früher durch Stammeskriege, bei denen sie sicher weiter vorne standen als die Ängstlichen, heute durch Auto- und Motorradunfälle, Schießereien, Kriege, Raubbau am eigenen Körper und anderes. Dies regelt das Aggressivitätsniveau der Gesellschaft auf natürliche Art. Völker, die übertrieben starke Aggressionsneigungen haben, werden sich durch Kriege dezimieren. Allerdings funktioniert diese Selbstregulierung nur, wenn Ebenbürtige aufeinandertreffen. Unter Ungleichen setzt sich nicht nur der höher Entwickelte gegen den geringer Entwickelten und der Stärkere gegen den Schwächeren, sondern auch der Aggressivere gegen den Friedlicheren durch. So erging es vielen friedliebenden Urvölkern.

      Ich denke, die innerartliche Auslese wirkt nicht ganz so dramatisch, wie Lorenz befürchtete, denn Paradiesvogel und Argusfasan gibt es nach wie vor. Was er herausgearbeitet hat, ist, dass dieser Mechanismus dem Ziel der Arterhaltung teilweise entgegengerichtet ist, obwohl er denselben evolutionären Mechanismen gehorcht. Die natürliche Auslese greift in solchen Fällen möglicherweise zu spät, wenn die Arterhaltung bereits akut gefährdet ist. Die innerartliche Auslese ist ein Nachteil in der Arterhaltung, den bewusst denkende und handelnde Menschen zu vermeiden suchen sollten.

       Waffen

      Die Erfindung von Waffen ist artgefährdend, da der Mensch kein besonders gefährliches Raubtier ist: „In Wirklichkeit ist es tief beklagenswert, dass der Mensch eben gerade keine ‚Raubtiernatur’ hat. Ein Großteil der Gefahren, die ihn bedrohen, kommen daher, dass er von Natur aus ein relativ harmloser Allesfresser ist, dem natürliche, am Körper gewachsene Waffen fehlen, mit denen er große Tiere töten könnte, denn eben deshalb fehlen ihm ja auch jene stammesgeschichtlich entstandenen Sicherheitsmechanismen, die alle ‚berufsmäßigen’ Raubtiere daran hindern, ihre Fähigkeiten zum Töten großer Tiere gegen Artgenossen zu missbrauchen.“195 Aufgrund unserer Intelligenz konnten wir unsere Waffen schneller weiterentwickeln, als die Mechanismen zur Aggressionshemmung mitwachsen konnten. Die Anpassungsfähigkeit unserer Instinkte ist an der schnellen Entwicklung gescheitert.196 Offenbar können wir unsere Aggressivität im Affekt nicht besonders gut kontrollieren. Einen Beleg dafür, dass mit der Verfügbarkeit von Waffen nicht automatisch ein verantwortungsvoller Umgang mit ihnen einhergeht, liefert ein Vergleich: In den USA sterben jährlich circa dreißigtausend Menschen durch Schusswaffengebrauch, in Deutschland ungefähr siebzig.

      Die Erfindung von Waffen hat also in vielerlei Hinsicht unser Zerstörungspotential erhöht: erstens direkt durch die höhere Schlagkraft und zweitens durch die Herauszüchtung der Aggressivität. Der dritte Grund: Das Besitzen von Macht begünstigt die Ausübung von Gewalt und erhöht damit die möglichen Folgen von Aggression. Macht im heutigen Ausmaß gab es in der Steinzeit nicht. Dass wir bisher nicht durch die Folgen unserer eigenen Erfindungen ausgestorben sind, beruht auf unserer Fähigkeit zur Reflexion und zur Korrektur als falsch erkannter Handlungsweisen.197

       Aggressivität lässt sich nicht einfach unterdrücken

      Konrad Lorenz ging davon aus, dass die aggressivsten Menschen sich durch natürliche Auslese bei der Vermehrung durchsetzten. Wenn das stimmt, hat die menschliche Aggressivität kontinuierlich zugenommen. Und er kommt zu dem Schluss, dass Kriege nicht der Auslöser, sondern das Ergebnis der Aggressivität sind. Er schreibt unter dem Eindruck der Weltkriege und des Kalten Krieges: „Wir sind dazu erzogen, uns der sogenannten politischen Klugheit der für die Staatsführung Verantwortlichen zu unterwerfen, und wir sind an alle hier in Rede stehenden Phänomene so gewöhnt, dass die meisten von uns sich daraus nicht klar darüber werden, wie ungemein dumm und menschheitsschädlich das historische Verhalten der Völker ist.“198 Man darf nicht Ursache und Wirkung durcheinander bringen. Die Menschheit ist „nicht kampfbereit und aggressiv, weil sie in Parteien zerfällt, die sich feindlich gegenüberstehen, sondern sie ist eben in dieser Weise strukturiert, weil dies die Reizsituation darstellt, die für das Abreagieren sozialer Aggression erforderlich ist.“199

      Man kann der Aggressivität auch nicht mit äußerlichen Maßnahmen Herr werden: „Zwei naheliegende Versuche, die Aggression zu steuern, sind nach allem, was wir über Instinkte im allgemeinen und die Aggression im besonderen wissen, völlig hoffnungslos. Man kann sie erstens ganz sicher nicht dadurch ausschalten, dass man auslösende Reizsituationen vom Menschen fernhält, und man kann sie zweitens nicht dadurch meistern, dass man ein moralisch motiviertes Verbot über sie verhängt. Beides wäre ebenso gute Strategie, als wollte man dem Ansteigen des Dampfdruckes in einem dauernd geheizten Kessel dadurch begegnen, daß man am Sicherheitsventil die Verschlußfeder fester schraubt.“200

      Wir müssen uns also mit einer gewissen Grundaggressivität abfinden und uns damit so einrichten, dass sie unser Leben nicht beeinträchtigt. Ich denke, dass die beschriebene Herauszüchtung nur eine von mehreren Ursachen unserer Aggressivität ist. Dennoch sollten wir die beschriebenen Zusammenhänge bei der Gestaltung unserer Gesellschaft berücksichtigen, wenn wir eine bessere Welt anstreben.

       Konsequenzen für die Zukunft

      Nach den obigen Ausführungen ist es also nicht so, dass Liebe gut und richtig und Aggressivität böse und falsch sei. In Religionen, Märchen und auch in vielen älteren und modernen Geschichten und Filmen kämpfen die Protagonisten gegen „das Böse“. Das kann jedoch in der Realität nicht funktionieren: Es gibt die Aggressivität, die für das Überleben der Art notwendig ist, und es gibt die Liebe, die für das Überleben genauso notwendig ist. Wer also nach der Abschaffung des „Bösen“ strebt, will etwas ausrotten, das es so gar nicht gibt und dessen wahre Natur einen Zweck hat.

      Womöglich werden Sie mir jetzt entgegenhalten, was es denn anderes als das Böse sei, wenn Menschen „aus heiterem Himmel“ zu Terroristen werden, andere vergewaltigen oder wenn ein Junge in einer Schule seine Mitschüler erschießt. Ein solches Verhalten hat nichts mit dem beschriebenen Revierverhalten und den Ersatzhandlungen zu tun. Es ist Wut, die sich lange angestaut hat und sich in einer Überreaktion Bahn bricht. Keine menschliche Handlung kommt aus heiterem Himmel, wie uns die Medien gerne erklären wollen. In diesen Fällen ist häufig durch den Täter selbst erlebte Gewalt oder Entwurzelung die Ursache, die auf dem Nährboden unseres hohen Aggressionsniveaus gedeiht. Viel scheinbar unmotivierte Aggressivität geht auf Verletzungen der Integrität in der frühen Kindheit zurück. Ergibt sich eine Situation der Überlegenheit gegenüber anderen, so schafft dies die Möglichkeit zum Abreagieren der Aggression.

      Aufgrund unserer geringen


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