Die Stadt der Sehenden. Жозе Сарамаго
jedoch beobachten, dass die Parteien bei der Darlegung ihrer Standpunkte lieber nicht zu viel riskieren, sich zweideutig verhalten, ja sagen und gleichzeitig aber. Die führenden Köpfe der Partei der Rechten, welche die Regierung bildet und auch im Rathaus sitzt, sind davon überzeugt, dass dieser unbestrittene Trumpf, wie sie sagen, ihnen den Sieg auf dem Silbertablett servieren wird, und so haben sie sich für eine Taktik der Gelassenheit, gepaart mit diplomatischem Feingefühl, entschieden, haben sich ganz auf das gesunde Urteilsvermögen der Regierung verlassen, der es obliegt, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, Was ja in einer so gefestigten Demokratie wie der unseren nur folgerichtig und selbstverständlich ist, schlossen sie. Die Mitglieder der Partei der Mitte wollen ebenfalls, dass das Gesetz eingehalten wird, doch fordern sie von der Regierung etwas, das, wie sie von vornherein wissen, unmöglich zu erreichen ist, nämlich die Ergreifung strikter Maßnahmen, die eine absolute Normalität des Wahlvorgangs und insbesondere, man denke nur, der Ergebnisse garantieren sollen, Damit sich nicht das schändliche Schauspiel wiederholt, das diese Stadt der Heimat und der Welt soeben dargeboten hat. Die Partei der Linken hingegen hat nach einer Zusammenkunft ihrer obersten Führungsgremien und langer Debatte ein Kommuniqué erarbeitet und veröffentlicht, in dem die feste Hoffnung zum Ausdruck kommt, dass die bevorstehende Wahl endlich die erforderliche politische Grundlage für den Beginn einer neuen Ära der Entwicklung und des sozialen Fortschritts schaffe. Zwar schwören sie nicht, dass sie die Wahlen gewinnen und ins Rathaus einziehen werden, doch lässt sich dies zwischen den Zeilen herauslesen. Am Abend sprach der Premierminister im Fernsehen, um dem Volk zu verkünden, die Kommunalwahlen würden wie gesetzlich vorgeschrieben am kommenden Sonntag wiederholt, und daher werde um null Uhr des folgenden Tages eine neuerliche viertägige Wahlkampagne eingeleitet, die am Freitag um vierundzwanzig Uhr ende. Die Regierung vertraue darauf, fuhr er mit ernster Miene fort, wobei er bewusst die starken Silben betonte, dass die erneut zur Wahl aufgerufene Hauptstadtbevölkerung ihre Bürgerpflicht mit der Würde und dem Anstand auszuüben wisse, die sie früher stets an den Tag gelegt habe, um so jenes bedauerliche Ereignis vergessen zu machen, das aus nicht vollständig geklärten, jedoch weitgehend untersuchten Gründen plötzlich die gewohnte Klarsicht der Wähler dieser Stadt getrübt hat. Die Botschaft des Staatschefs soll erst am Ende der Wahlkampagne, am Freitagabend, ausgestrahlt werden, doch steht der Satz, mit dem sie enden wird, bereits fest, Der Sonntag, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, wird ein schöner Tag.
Es war wirklich ein schöner Tag. Gleich am frühen Morgen, als der schützende Himmel über uns in vollem Glanz erstrahlte, mit einer goldenen Sonne auf kristallblauem Grund, wie ein inspirierter Fernsehreporter es nannte, begannen die Wähler aus ihren Häusern zu den Wahllokalen zu strömen, nicht in blinden Massen, wie angeblich vor einer Woche, doch zahlreich genug, um, obwohl jeder für sich loszog, zielstrebig und voller Eifer, lange Schlangen wartender Bürger vor den Türen der Wahllokale entstehen zu lassen, bevor diese überhaupt öffneten. Leider ging jedoch nicht alles ehrlich und sauber zu bei diesen friedlichen Menschenansammlungen. Es gab keine Schlange, nicht eine einzige unter den mehr als vierzig über die Stadt verteilten, in der sich nicht wenigstens ein Spion befunden hätte, mit dem Auftrag, die Kommentare der Umstehenden abzuhören und aufzunehmen, denn die Polizei war der Überzeugung, längeres Warten löse früher oder später die Zunge, wie im Wartezimmer des Arztes, und die verborgenen Absichten, die den Geist der Wähler bewegten, träten dann, und sei es in einem simplen Nebensatz, zutage. In der überwiegenden Mehrzahl sind diese Spione Profis, Mitglieder des Geheimdienstes, doch gibt es auch ein paar Freiwillige darunter, patriotische Amateurspione, die sich aus Dienstberufung gemeldet haben und nicht entlohnt werden, wie es in der von ihnen unterzeichneten eidesstattlichen Erklärung heißt, oder, und diese Fälle sind auch nicht selten, aus krankhafter Lust am Denunzieren. Der genetische Code dessen, was wir ohne große Überlegung eher unzureichend als menschliche Natur bezeichnen, erschöpft sich nicht in der organischen Spirale der Desoxyribonucleinsäure, oder DNA, er beinhaltet viel mehr, sagt viel mehr aus, dennoch ist die DNA für uns, bildlich gesprochen, jene komplementäre Spirale, deren Erforschung noch in den Kinderschuhen steckt, obwohl sich eine Menge Psychologen und Analytiker verschiedenster Schulen und unterschiedlichsten Kalibers bei dem Versuch, den Code zu knacken, bereits die Fingernägel ruiniert haben. Diese wissenschaftlichen Betrachtungen, so gehaltvoll und viel versprechend sie auch sein mögen, dürfen uns aber nicht den Blick auf die Besorgnis erregenden Tatsachen von heute verstellen, wie zum Beispiel die soeben genannte, dass es dort draußen nicht nur gelangweilt dreinblickende, heimlich lauschende und das Gesprochene aufnehmende Spione gibt, sondern auch langsam an der Schlange entlangfahrende, angeblich einen Parkplatz suchende Autos, bestückt mit verborgenen, superscharfen Videokameras und modernsten Mikrophonen, die in der Lage sind, all jene Gefühle, die sich offensichtlich hinter dem Flüstern jener Menschen verbergen, die allesamt glauben, an etwas anderes zu denken, auf eine graphische Ebene zu bringen. Das Wort wird aufgenommen und ebenso das Gefühl. Niemand ist mehr sicher. Bis die Türen der Wahllokale geöffnet wurden und die Schlangen sich in Bewegung setzten, hatten die Aufnahmegeräte nichts als unbedeutende Sätze, banale Kommentare über die Schönheit des Morgens und die milde Temperatur oder das hastig hinuntergeschlungene Frühstück aufzeichnen können, kurze Dialoge über die wichtige Frage, wer auf die Kinder aufpasse, während die Mütter wählen gingen, Der Papa ist bei ihnen, es blieb uns nichts anderes übrig, als uns abzuwechseln, jetzt bin ich dran, nachher er, natürlich hätten wir lieber gemeinsam gewählt, aber das ging nicht, und was nicht geht, geht bekanntlich nicht, Auf unseren Jüngsten passt die älteste Schwester auf, die noch nicht alt genug ist zum Wählen, ja, das ist mein Mann, Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mich ebenfalls, Was für ein schöner Morgen, Es sieht fast so aus, als sei er mit Absicht so gemacht, Eines Tages musste es so kommen. Trotz der Empfindlichkeit der immer wieder vorbeifahrenden Mikrophone, in einem weißen Auto, einem blauen, einem grünen, einem roten, einem schwarzen, mit im Morgenwind flatternden Antennen, fand sich nichts wirklich Verdächtiges unter diesen zumindest äußerlich so unschuldigen und alltäglichen Aussagen. Dennoch musste man keinen Doktor in Verdachtsfragen, kein Diplom in Misstrauensangelegenheiten haben, um aus den letzten beiden Sätzen etwas Ungewöhnliches herauszuhören, aus dem nämlich über den Morgen, der anscheinend mit Absicht so gemacht sei, und insbesondere dem zweiten, dass es eines Tages so habe kommen müssen, Zweideutigkeiten, die vielleicht unfreiwillig, vielleicht auch unbewusst, doch gerade deswegen potenziell gefährlich waren und denen man besser eine genaue Tonanalyse gegenüberstellte, vor allem aber eine Analyse des erzeugten Resonanzspektrums, gemeint sind hier die Untertöne, ohne deren Berücksichtigung das Verständnis einer jeden mündlichen Rede, wollen wir den neuesten Theorien Glauben schenken, stets unzureichend, unvollständig und beschränkt bleibt. Der sich zufällig dort aufhaltende Spion hatte, genau wie seine Kollegen, vorab genaueste Instruktionen darüber erhalten, wie er sich in einem solchen Fall zu verhalten habe. Er sollte sich nicht von dem Verdächtigen trennen lassen, sich drei oder vier Plätze hinter ihm in die Wählerschlange einreihen, sich zur doppelten Absicherung, trotz der Empfindlichkeit des heimlich mitgeführten Aufnahmegeräts, Name und Wählernummer merken, wenn der Wahlleiter diese laut aufsagte, dann so tun, als habe er etwas vergessen, diskret aus der Schlange ausscheren, hinausgehen, den Vorfall telefonisch der Informationszentrale melden und schließlich in sein Jagdrevier zurückkehren, um erneut den Platz in der Schlange einzunehmen. Diese Aktion kann im strengen Sinne des Wortes nicht als Versuch gelten, ins Schwarze zu treffen, eher hofft man, dass der Zufall, das Schicksal, das Glück oder wie immer man es nennen will, einem das Schwarze direkt in die Schusslinie bringt.
Nach und nach gingen in der Zentrale zahlreiche Informationen ein, doch in keinem einzigen Fall enthüllten sie eindeutig und somit unwiderlegbar die Absichten des observierten Wählers, am brauchbarsten waren noch Sätze wie die obigen, und selbst jener besonders verdächtig wirkende, Eines Tages musste es so kommen, verlöre viel von seiner offensichtlichen Gefährlichkeit, versetzte man ihn in seinen ursprünglichen Kontext zurück, nämlich eine schlichte Unterhaltung zwischen zwei Männern über die eben zurückliegende Scheidung des einen, bestehend aus lauter Andeutungen, um nicht die Neugier der Umstehenden zu wecken, die mit diesem Satz geendet hatte, ein wenig grollend, ein wenig resigniert, und des zitternden Seufzers wegen, der sich der Brust des Mannes entrang, eindeutig in Richtung Resignation hätte interpretiert werden müssen, wäre Feinfühligkeit ein hervorstechendes Merkmal der Spione gewesen. Dass der Spion den Seufzer nicht einmal für erwähnenswert erachtete, dass das Aufnahmegerät ihn nicht aufzeichnete, gehört