Ein Tropfen vom Glück. Antoine Laurain

Ein Tropfen vom Glück - Antoine Laurain


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beides? Bobs Blick fiel auf eine Postkarte, die mit Klebstreifen an der Säule der Bar hing und ein Foto des Eiffelturms vor einem schönen blauen Himmel zeigte. Bob hatte sich gedacht, »Le tour Eiffel Paris!« auszurufen und die junge Frau anzulächeln, könnte nicht schlecht sein. Es war schlicht und wirkte nicht hinterwäldlerisch. Es war sogar beinahe schick. Er trank einen Schluck von seinem Bier und wagte es: »Le tour Eiffel … Paris!« Goldie drehte sich sofort zu ihm um – sie fragte sich ebenfalls seit einer Viertelstunde, wie sie Clint Eastwood ansprechen könnte, ohne wie eine Saloon-Animierdame zu wirken.

      »Ja!«, antwortete sie ganz aufgeregt. »Die Karte hat ein Gast, der dort im Urlaub war, dem Chef geschickt.« »Muss toll sein, und sehr hoch«, meinte Bob, der sich wieder auf das Bild konzentrierte. »Oh, ja, sehr hoch … wie das John Hancock Center in Chicago«, sagte Goldie und rückte näher an Bob heran, um das Foto eingehend zu betrachten, auch wenn sie es in- und auswendig kannte. Bob nickte. »Aber ist da denn niemand drin?«

      »Nein«, erwiderte Goldie, »nur die Besucher, die ihn besichtigen.«

      »Also ist er zu nichts nutze«, meinte Bob.

      »Nein, zu gar nichts, sie haben ihn einfach so gebaut … weil es schön ist.«

      »Was für eine große Nation«, sagte Bob und nickte bewundernd, »sie haben Tausende von tonnenschweren Metallbalken zusammengesetzt, um einen spitzen Turm zu bauen, der zu nichts nutze ist.«

      »Ja«, sagte Goldie, »ich glaube, solche Sachen zu machen ist sehr französisch«, und ihre Gesichter waren noch etwas näher zusammengerückt, um das Monument besser betrachten zu können, als erwarteten sie, Touristen darin zu erkennen, die ihnen zuwinkten.

      Der Mann, mit dem Bob verabredet war, tauchte nie auf. Nach einer halben Stunde Unterhaltung über Leute, die unnütze Sachen bauen, und einer weiteren halben Stunde über Paris, das sie beide nicht kannten, war Bob mit der Telefonnummer von Goldies Eltern wieder gegangen. Sie war dort an den Abenden zu erreichen, an denen sie nicht in der Bar arbeitete. Und er hatte ihr die Nummer der Autowerkstatt von Joe Feldman gegeben, Mensch’s Motors.

      Paris würde ein Luftschloss bleiben. Zwei Monate nach ihrer ersten Begegnung – sie hatten sich verlobt, suchten schon ihre Eheringe aus und träumten davon, in ihren Flitterwochen durch die Straßen von Montmartre zu flanieren – wurde Bob von Harley-Davidson angesprochen. Der begabte junge Mechaniker war den Kopfjägern der mächtigen Firma nicht entgangen. Man bot ihm an, für das Dreifache seines Gehalts bei Mensch’s Motors an der Konzeption neuer Motoren mitzuarbeiten. Bobs Karriere begann, und der Traum vom Flug in die französische Hauptstadt rückte in unabsehbare Ferne.

      Dreißig Jahre später hatten Bob und Goldie zwei Kinder bekommen, Jenny und Bobby Jr., und lebten in einem hübschen Haus in Milwaukee, in dessen Garten das Sternenbanner an seinem Mast wehte. Goldie hatte das WHY Not gekauft und später verpachtet, und Bob bereitete nach drei Jahrzehnten treuer Dienste an der Verbesserung des berühmtesten Motorrads der Welt seinen Rückzug aus der Abteilung »Motoren und Forschung« vor. Die Jahre waren vergangen wie im Fluge, und sie waren letztlich nie über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinausgekommen: Miami, New York, L.A. und Las Vegas waren ihre entferntesten Reiseziele geblieben. Ansonsten hatten sie sich mit Ausflügen auf der Harley begnügt, die sie mit etwa dreißig anderen Motorrädern unternahmen. Als Road Captain des Geschwaders trug Bob, wie alle anderen Mitglieder, die mit Abzeichen bedeckte schwarze Lederweste der Harley Owner Group, H.O. G. Im Gegensatz zu den rauflustigen Hell’s Angels bestand das Chapter Eagles of Milwaukee aus vollkommen friedlichen Menschen, die ihre Familie, ihre Freunde, Grillpartys und das Chrom schöner Motorräder liebten.

      »Goldie. Es ist Zeit, nach Paris zu reisen.« Das hatte Bob acht Monate zuvor verkündet. Paris lag endlich in Reichweite. Sie hatten im Institut Français der Stadt Abendkurse besucht. Ihre Lehrerin, Abigail Doherty, hatte ihnen geraten, sich alte Filme anzuschauen, weil die Schauspieler damals eine gute Diktion hatten. Bob und Goldie entdeckten Jean Gabin, Maurice Chevalier, Fernandel. Sie waren perfekt vorbereitet, hatten ihre Flugtickets bezahlt und waren gerade dabei, eine Unterkunft zu buchen, als Goldie krank wurde. Aus heiterem Himmel. Die Behandlung schlug nicht an. Die diagnostizierte schwere Leukämie war unheilbar. »Auch wenn unsere Kinder erwachsen sind, wirst du eine neue Frau finden müssen«, hatte Goldie verfügt, »du bist unfähig, dich um dich selbst zu kümmern.« Bob hatte nicht geantwortet und den Kopf zum Fenster des Krankenzimmers gewandt, um einen Baum zu betrachten, den er gar nicht sah. »Bob? Hörst du mich? Du kannst nicht mal eine Waschmaschine bedienen!«, und der Baum war vor seinen plötzlich brennenden, tränenschweren Augen verschwommen. Dann waren die kranken Zellen in Goldies Nervensystem vorgedrungen und hatten ihr das Bewusstsein geraubt, sie lag nun seit zwei Monaten in einem tiefen Koma und wurde künstlich beatmet. Die Krankheit hatte sich zwar stabilisiert, aber die Ärzte schlossen aus, dass Goldie wieder aufwachte.

      Bob wollte auf Paris verzichten, doch die Fluggesellschaft zeigte sich unnachgiebig – die Versicherungen, die er abgeschlossen hatte, deckten den Rücktritt im Fall des Komas eines der Reisenden nicht ab. In ihren Augen hatten allein eine Sterbeurkunde oder ein handgeschriebener, unterzeichneter Brief der kranken Person Gültigkeit. Als die Fluggesellschaft sich endlich einverstanden erklärte, sich »angesichts der schmerzlichen Umstände kulant zu zeigen« und ihm den Preis der beiden Tickets zu erstatten, überlegte Bob es sich anders. Er erklärte seinen Kindern: »Dieses verdammte Flugzeug wird nicht ohne eure Mutter und mich abheben!« Er lehnte die Rückerstattung der beiden Tickets ab, auch Goldies. Der Platz neben ihm würde auf dem Hin- wie auf dem Rückflug leer bleiben. Bob packte seinen Koffer, so gut er konnte. Er hakte seine ganze Liste ab und legte zum Schluss sorgfältig die Lederweste des H.O.G zusammen, denn er hatte allen Mitgliedern des Chapter versprochen, damit vor dem Eiffelturm ein Selfie zu machen. Vor dreizehn Stunden hatten seine Tochter und sein Sohn ihn von Milwaukee zum Flughafen von Chicago gefahren. Während der einstündigen Fahrt wurde Bobby Juniors Pick-up von zwanzig Harleys eskortiert, die zur Feier des Tages mit amerikanischen und französischen Wimpeln geschmückt waren.

      Als die Räder der Boeing den Boden berührten, öffnete Bob die Airbnb-Unterlagen, um die Adresse der Pariser Wohnung nachzulesen, die seine Kinder für ihn ausgesucht hatten: Madame Renard, Rue Edgar-Charellier 18. Wenn jemand fragt, sagen Sie, Sie seien einer meiner Cousins aus Amerika.

      Die Ladenwerkstatt im Erdgeschoss war vom Abendlicht durchflutet. Auf dem Tisch lagen die zweihundertsiebenundsechzig Fragmente einer Keramikstatue, die vor ihrem Sturz auf den Marmorboden eines Wintergartens eine gut achtzig Zentimeter hohe Bacchantin dargestellt hatte. Magalie hatte die Bruchstücke gezählt, nach Farbfamilien sortiert und auf verschiedene Haufen verteilt. Die hübsche Statue aus dem neunzehnten Jahrhundert war buchstäblich in tausend Stücke zersprungen. Ihr Besitzer hatte instinktiv richtig reagiert: Er hatte einen Handbesen genommen, alle Stücke in einen Karton gepackt und war zu Magalie gelaufen. Die meisten Leute denken, ein derart zersplitterter Gegenstand sei endgültig verloren. Doch sie täuschen sich. Im Gegensatz zu Lebewesen können Gegenstände wiederauferstehen. In drei Monaten würde die schöne Bacchantin wieder an ihrem Platz unter den Pflanzen ihres Glashauses stehen, und niemand würde auf die Idee kommen, dass sie einmal in zweihundertsiebenundsechzig Scherben auf dem Boden lag. Natürlich würde man vorsichtig mit ihr umgehen müssen, aber das war alles. Sie wäre wieder da. Wie alle Gegenstände, die seit fünf Jahren durch Magalie Lecœurs Hände gegangen waren: glasierter Tonkrug, Elfenbeinfigur, Fayence-Tasse, Opalglasvase … »Sie sind eine Zauberin« – wie oft hatte Magalie diesen Satz aus dem Mund ihrer Kunden gehört, ob Privatleute oder Antiquitätenhändler, und das war das schönste Kompliment, das man ihr machen konnte.

      Nach ihrem Abschluss im Fach »Restaurierung und Konservierung« an der École de Condé hatte Magalie sich in mehreren Werkstätten weitergebildet, ehe sie mit siebenundzwanzig Jahren ihren eigenen Betrieb eröffnete. Sie hatte den Laden des Teppichhändlers in der Rue Edgar-Charellier Nummer 18 übernommen. Monsieur Raffi, Spezialist für Teppiche aus dem Iran, der dreißig Jahre dort ansässig gewesen war, ging vorzeitig in den Ruhestand. »Niemand will mehr Teppiche haben, Mademoiselle, die neue Generation träumt von gewachsten Parkettböden. Ich habe den Eltern dieser Leute Teppiche verkauft, und wenn sie sie erben, dann bringen sie sie mir zurück! Ich will ja meine Teppiche gerne zurücknehmen, aber an wen soll ich sie


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