Götter und Göttinnen. Manfred Ehmer
an etwas Höheres, Transzendentes, macht das Wesen jeder Religion aus. Aber wer oder was sind die „Götter“? In den verschiedenen indogermanischen Sprachen sind sehr ähnliche Ausdrücke zu finden, die jenes Heilige und Numinose umschreiben, das wir mit dem Begriff „Gott“ verbinden; immer wieder begegnen uns die Wortwurzeln Dis, Deus, Theos, germanisch Tiuz, indisch Dyaus, auch Devas, das heißt „die Leuchtenden“.
Götter sind also Lichtwesen, aber das Licht, das sie ausstrahlen, ist transzendentes Licht, mit dem sie unser Bewusstsein erleuchten, das heißt, uns selbst zum Leuchten bringen. Auch die moderne Quantentheorie sagt ja, dass im Grunde genommen Alles nur Energie ist: die Vorstellung von fester undurchdringlicher Materie erweist sich als Illusion, die durch den blitzschnellen Tanz der Elementarteilchen erzeugt wird. Es gibt aber nur eine Quelle allen Lichtes, und das ist die göttliche Ur- und Zentralsonne des Alls (das „Zentralfeuer“ der Pythagoreer).
Ist Gott der All-Eine, so sind die „Götter“ das aus ihm hervorgegangene All-Viele. Man kann sich durchaus vorstellen, dass es eine Vielzahl von göttlichen Monaden gibt, die doch alle einer höheren Einheit angehören und dieser auch untergeordnet sind. Die Götter mögen sehr machtvolle Wesen sein, dem Menschen in vielerlei Hinsicht überlegen, aber die Götter sind nicht das Höchste im All. Die Götter des Hinduismus (die Devas) gelten als „Himmelswesen“, Bewohner einer der guten Existenzformen, die in den glücklichen Sphären des Himmels leben, aber wie alle anderen Wesen dem Kreislauf der Wiedergeburt unterliegen. Ihnen wurde ein langes und glückliches Leben beschieden als Lohn vergangener guter Taten (Karma!), aber gerade dieses Glück stellt das größte Hindernis auf ihrem Weg zur Erlösung dar. Den Göttern haftet keineswegs Vollkommenheit an, sie sind vielmehr selbst erlösungsbedürftige Wesen, die eine höhere Stufe in der Hierarchie des Universums erklimmen möchten.
In der Mythologie der antiken Völker, auch unserer Vorfahren, werden die Götter oft sehr menschlich dargestellt. Dies mag uns heute vielleicht etwas befremden. Aber der Zusammenhang von Menschenwelt und Götterwelt wurde in der Antike enger gesehen, als wir es uns heute vorstellen können. In den Goldenen Versen des Pythagoras lesen wir:
Du wirst erkennen der unsterblichen Götter
Und der sterblichen Menschen Verbindung,
Die in allem erscheint und alles überwindet.5
Die zentrale Aussage der Goldenen Verse besagt, dass „göttlichen Stammes die Sterblichen sind“, und daran knüpft sich die Verheißung, dass der Erkennende nach Verlassen seines physischen Leibes selbst zu den Göttern gehören wird; er ist dann „ein seliger Gott und kein Mensch mehr“. Gottwerdung durch Erkenntnis also, das ist der Kern der pythagoreischen Geheimschulung – zum Äther aufzusteigen und Unsterblichkeit zu erlangen. Die Wesensverwandtschaft von Göttern und Menschen war den Griechen durchaus geläufig. „Götter und Menschen sind desselben Ursprungs“, erklärte schon um 700 v. Chr. der Mythendichter Hesiod; und Kleanthes sagt, zu Zeus gewandt, in seinem berühmten Hymnus: „Wir sind deines Geschlechts“.
Diesen Gedanken griff der Apostel Paulus auf, als er den Athenern vom unbekannten Gott predigte: „Denn in ihm leben, weben und sind wir, wie auch einige der Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts“ (Apg. 17,28). Und Pindar von Theben (um 500 v. Chr.): „Ein Stamm: Menschen und Götter; von einer Art ja atmen wir, von einer Mutter wir beiden; doch Macht von ganz verschiedener Art trennt uns.“ Der Mensch also als ein den Göttern verwandtes, göttliches, himmlisches Wesen – das ist der Zentralgedanke jeglicher Esoterik, griechischer ebenso gut wie indischer, ägyptischer oder sonstiger Herkunft. Zwischen Menschen und Göttern besteht nur ein gradueller, kein prinzipieller Unterschied.
Ja selbst im Alten Testament steht: „Ihr seid Götter und allzumal Söhne des Höchsten“ (Psalm 82, 6-7). Was der Psalmist hier sagt, ist uns nicht neu. Im Gegenteil, es ist uralte esoterische Weisheit, bekannt schon den antiken Mysterien, den griechischen Philosophen, den Juden und den Heiden, vor allem aber den Mystikern, Hermetikern, Esoterikern und Theosophen aller Zeiten und Länder. Wir Menschen sind Himmelssöhne, Gottessöhne, ein gefallenes Engelsgeschlecht, Götter in der Verbannung. Das haben sie alle gewusst, die Gnostiker, Manichäer, Katharer, Albigenser, die von der Kirche Verfolgten, Geächteten, ja Verbrannten, auf den Scheiterhaufen des Mittelalters, dieweil die Kirche selber sich nicht mehr erinnern wollte oder konnte an jenes Schriftwort, das da besagt, dass wir alle Götter sind und allzumal Söhne des Höchsten.
Und nun müssen wir auf die Dämonen zu sprechen kommen. Denn diese gilt es ja neben den Göttern auch zu verehren. Die alten Griechen hatten die Vorstellung von einem Dämon, der dem Menschen beigesellt ist und ihn auf seinem Lebensweg unsichtbar begleitet. Der Mensch hat sich diesen Dämon selbst erwählt; er ist sein Hüter, sein Höheres Selbst, seine Innere Stimme, der lebenslange Begleiter auf dem Pfad der Inkarnation. Bei Platon, und zwar in seinem Hauptwerk Politeia, steht der Satz: „Nicht der Dämon wird euch erlosen; ihr selber sollt euch einen Dämon wählen“ – Der Begriff „Dämon“ mag dem heutigen Leser vielleicht befremdlich erscheinen. Doch muss man berücksichtigen, dass das Wort daimon erst nachträglich einer Sinnänderung unterzogen wurde, indem es ursprünglich eine göttlichnuminose Macht, später aber etwas Antigöttliches, „Dämonisches“ bezeichnete. Dieser Bedeutungswandel geht insbesondere auf das Christentum zurück, das seit den Kirchenvätern eine eigene Dämonologie herausbildete, in der mythische Gestalten der heidnischen Antike umgedeutet und einer fiktiven Gegenwelt Satans zugeordnet wurden.
Wir wollen jedoch auf den ursprünglichen, antiken, nicht durch das Christentum verfälschten Sinn des Wortes „Dämon“ zurückgehen. Unter „Dämonen“, daimones, verstanden die Griechen halbgöttliche Wesen, die als Mittlerwesen zwischen den Menschen und Göttern fungierten. Diese Anschauung, wohl die der Volksreligion, wird bei Platon in seinem Dialog Das Gastmahl wiedergegeben. Dort heißt es: „Das Reich der Dämonen liegt zwischen Göttern und Menschen. (….) Sie vermitteln den Göttern die Gebete und Opfer der Menschen, den Menschen überbringen sie den Willen der Götter und die Gegengaben für Opfer. Sie füllen die Kluft zwischen beiden, sodass sich das All zusammenfügt. Durch sie vollzieht sich jede Seherkunst und die Weisheit der Priester bei Opfern und Weihen und Beschwörungen und bei jeglicher Wahrsagung und Zauberei. Gott steigt nicht zum Menschen hernieder, – nur durch Dämonen gibt es Verkehr und Zwiesprache der Götter mit den Menschen, im Wachen und im Traum. Wer weise ist in diesen Dingen, der ist ein dämonischer Mensch; dagegen ist ein Banause, wer sonst in einer Kunst oder einem Handwerk Bescheid weiß.“6
Der Begriff des Daimon hat in der griechischen Religionsgeschichte eine durchaus wechselnde Bedeutung gehabt. Bei Homer begegnen wir den halbgöttlichen Dämonen, aber noch ganz in die Außenwelt projiziert; in jüngerer Zeit verschiebt sich der Begriff des Daimon mehr in das Innere des Menschen, wenn z. B. Heraklit den innersten Charakter des Menschen als seinen Daimon bezeichnet. Zugleich wachsen die Einzelgestalten der Dämonen zu dem eher abstrakten Neutrum des daimonion („das Dämonische“) zusammen. In diesem Sinne spricht Sokrates in seiner berühmten Verteidigungsrede vor Gericht von seinem „daimonion“ als einer Inneren Stimme, die ihn als eine Art Ratgeber durch das Leben begleitet; er spricht davon, „dass ein Göttliches und Dämonisches zu mir kommt, von dem ich euch mehrmalen und verschiedentlich gesprochen habe (….). Mir ist es von Jugend auf geschehen, dass sich mir eine Stimme hat hören lassen, und wenn sie sich hören lässt, so hält sie mich immer ab von dem, was ich tun will, treibt mich aber niemals an.“7
Die Dämonen besaßen in Griechenland keinen eigenen Kult; die späteren Philosophen – vor allem Sokrates – setzten sie mit dem Göttlichen im Menschen bzw. mit der inneren göttlichen Stimme gleich. Eine weitere Entwicklung des Begriffs lag darin, der der „Dämon“ als der persönliche Schutzgeist gedacht wurde, der jeden Einzelnen auf seinem Lebensweg begleitete und ermächtigt war, menschliches Schicksal zum Guten oder Bösen zu wenden. Vielfach wollte man den „Dämon“ für alles Verhängnisvolle verantwortlich machen, der in diesem Sinne dem Begriff „Tyche“ (Schicksal) nahekam. Auch die Römer kannten einen persönlichen Schutzgeist des Menschen, den sie den Genius nannten; er begleitete den Menschen sein ganzes Leben hindurch. Er wurde am Geburtstag der jeweiligen Person gefeiert und meist als Schlange dargestellt.