Seine schönsten Erzählungen und Biografien. Stefan Zweig
Zug mit den steil getragenen Krügen, aus denen kein Tropfen verschüttet werden soll, fast zwei Stunden dauert, waren wir in die Kirche vorausgefahren, um ihn dort zu erwarten. Aber schon war die Kirche voll. Frauen, Männer, unzählige schwarze lachende Kinder drängten dort in Erwartung des Fests, einer an den andern gepreßt; hoch oben die Fenster, die Sakristei, die Stufen, alles war schon überflutet von wolligen Köpfchen und zitternd vor Erwartung. Aber – ich begriff es erst später – gerade diese Erwartung steigert bei diesen Leichterregbaren Spannung zu einer Art sinnlicher Lust, und als ein erster Böllerschuß meldete, daß an einer Biegung unten am Wege die Spitze des Zuges gesichtet sei, entstand eine Explosion des Jubels, wie ich es selten gesehen. Die schwarzen Kinder patschten in die Hände und stampften vor Freude, die Erwachsenen schrien viva o Senhor do Bomfim, die ganze breite Kirche dröhnte für eine Minute von diesem Jubelschrei. Aber noch war der Zug weit. Die Erregung wuchs, man konnte es an den gespannten Gesichtern sehen, immer mehr ins Ekstatische. Bei jedem Böllerschuß ein neuer Aufschrei viva o Senhor do Bomfim, ein neues Klatschen und Tosen und immer heftiger und heftiger: ich muß gestehen, daß etwas von dieser gestauten Ungeduld, von dieser geballten Leidenschaft der Masse in mich überging. Und näher und näher. Endlich traten die ersten Frauen des Zugs hoheitsvoll durch das Kirchentor, um die Blumen fromm vor dem Altar niederzulegen – ich sah von oben, wie sie durch ein prasselndes Spalier von Schreien aufrecht schritten, und rings herum das Wogen der dicht aneinandergepreßten Köpfe, die tausend aufgerissenen wilden Lippen mit dem einzigen Schrei viva o Senhor do Bomfim, viva o Senhor do Bomfim! Man spürte deutlich eine geballte Erwartung, es war wie ein riesiges schwarzes Tier, das sich auf seine Beute stürzen will. Endlich kam der ersehnte Augenblick. Mit geschulter Energie drängten einige Polizisten die Menge von der Kirchenmitte zurück, um die Fliesen freizulegen, die gescheuert werden sollten. Wasser wurde aus den Krügen – unter fortwährenden tobenden Jubelrufen der Menge – auf den Boden gegossen, und die ersten nahmen die Besen. Aber diese ersten taten es noch in einer frommen, einer demütigen Art, ganz in der ehrfürchtigen Absicht, einen religiösen Dienst zu verrichten; sie verbeugten sich zuerst vor dem Altar und schlugen das Kreuz. Aber bald waren die andern, die gleichfalls dem Heiligen dienen wollten, nicht mehr zu halten; die Ungeduld des Wartens, das Schreien, das Jauchzen hatte sie ekstatisch gemacht. Und plötzlich begann inmitten der Kirche ein Treiben wie von Hunderten schwarzen Teufeln. Einer riß dem andern den Besen weg, oft waren es zwei, drei, zehn, die an einem Stiel durch die Kirche fuhren; andere, die keine Besen hatten, warfen sich hin und rieben mit den nackten Händen die Erde, und jeder, jeder schrie viva o Senhor do Bomfim, die Kinder mit ihren kleinen, gellenden Stimmen, die Frauen, die Männer – es war ein Lustschreien schon, die tollste Massenhysterie, die ich jemals gesehen. Da warf ein Mädchen, sicher sonst still und zurückhaltend, sich von den Ihren losreißend, die Hände hoch und gellte, das Gesicht lusthaft wie eine Bacchantin verzückt, viva o Senhor do Bomfim, viva o Senhor do Bomfim, bis ihr die Stimme brach. Eine andere, die vor Schreien und Toben ohnmächtig geworden war, wurde hinausgetragen, und zwischendurch tobten die tollen Teufel und rieben und schrubbten und fegten, als sollte ihnen das Blut unter den Nägeln vorspringen – etwas so ungeheuer Hinreißendes und Ansteckendes war in diesem religiös-lustvollen Fegen, daß ich nicht sicher war, ob ich nicht selbst, wenn ich mich inmitten dieser Exaltierten befunden hätte, einen solchen Besen an mich gerissen hätte. Es war eigentlich die erste Massentollheit, die ich gesehen, und noch gesteigert in ihrer Unwahrscheinlichkeit dadurch, daß sie in einer Kirche geschah, ohne Alkohol, ohne Musik, ohne Stimulantien und mitten am Tag unter einem glorreich strahlenden Himmel.
Aber das ist das Geheimnis von Bahia, daß hier noch von den Ahnen her sich das Religiöse mit dem Lusthaften im Blute geheimnisvoll verbindet, daß Erwartung oder monotone Erregung besonders bei den Negern und Mischlingen solche unerwartete Rauschempfänglichkeit auslöst; nicht zufällig ist ja Bahia die Stadt der Candomblés und jener Macumba, in der alte, blutige afrikanische Riten sich mit einem Fanatismus für das Katholische auf sonderbarste Weise verbinden. Über diese Macumba ist viel geschrieben worden, und jeder Fremde rühmt sich, durch einen besonderen Freund eine »echte« gesehen zu haben; in Wirklichkeit hat die Sonderbarkeit, die Fremdartigkeit dieser Riten, trotzdem die Neger sie vor der Polizei vorsichtig geheimhalten mußten, den Wert einer Kuriosität erlangt und längst zu solchen pseudoechten Inszenierungen geführt wie in Indien die Darbietungen der von Cook für die Fremden engagierten Yogis. Auch die Macumba, die ich gesehen, war – ich gestehe es ehrlich ein – zweifellos gestellt und inszeniert. Um Mitternacht in einem Wald über Gestein und Gestrüpp eine halbe Stunde lang steigend und stolpernd – die Schwierigkeit der Zugänglichkeit soll die Illusion des Verbotenen und Geheimnisvollen steigern – kamen wir zu einer Hütte, wo bei spärlichem Licht ein Dutzend Neger und Negerinnen versammelt waren. Sie schlugen auf Pauken den Takt und sangen und sangen im Chor eine einzige Melodie, immer dieselbe, immer dieselbe, immer dieselbe, und schon diese Monotonie erregte und machte ungeduldig. Dann kam der Zauberer mit seinen Tänzen und seinem Opfer, immer wieder dazwischen von dem scharfen Zuckerschnaps trinkend und Tabak zerkauend, und es wurde getanzt und getanzt und getobt bis ins Epileptische, da der erste hinfiel mit starren Gliedern und verdrehten Augen. Ich wußte in jedem Augenblick, daß all dies vorbereitet und gelernt war, aber dennoch: durch das Tanzen, Trinken und vor allem die grauenhafte, nervenaufpeitschende Monotonie der Musik war Rauschhaftes selbst in dem Spiel, dasselbe rauschhafte wie in der Kirche Senhor do Bomfim, wo die Lust am Lärm, an der Ekstase um der Ekstase willen die friedlichsten, stillsten Menschen überwältigte. Auch hier wie in allem: was in Brasilien sonst schon vom Neuzeitlichen abgeschliffen, in seinen Ursprüngen verdeckt und von Europäischem überwachsen ist – all das, das Urtümliche, das Bluthafte und Ekstatische, verschollene Seelenepochen, ist hier in Bahia in geheimnisvollen Spuren noch erhalten, und in manchen seltenen Manifestationen spürt man noch hintergründig seine Gegenwart.
Besuch bei Zucker, Tabak und Kakao
Ich hatte in São Paulo dem Kaffee meinen Besuch abgestattet, dem einstigen Potentaten des Landes, so wollte ich auch seine Geschwister sehen, die diese Erde reich, fruchtbar und berühmt gemacht. Solche hohe Herren kommen einem nicht entgegen. Man muß sich die Mühe machen, stundenlang zu ihren Residenzen zu reisen. Aber diese Mühe wird in sich selbst belohnt. Denn der Weg nach Cachoeira, der mitten durch die herrlich fruchtbare Zone um Bahia führt, ist eine einzige Folge schöner Blicke. Da sind die Palmenwälder zuerst, so dicht und so dunkel, so weit und so mächtig, wie ich bisher keine gesehen; man kennt Palmen sonst meist als Einzelgänger, als einsame Wächter über einer alten Hütte, als Hüter in einem vornehmen Park, als Spalier auf südlichen Boulevards. Hier aber waren sie dicht aneinander, Grün in Grün, Schaft an Schaft wie eine römische Legion, Schild an Schild, und diese üppige Masse gab nur die erste Ahnung von der Sattheit und Fruchtbarkeit der Gegend von Bahia. Dann wieder vorbei an langen Flächen, wo Mandioca gepflanzt wird, die Hauptnahrung des Landes, dieses wohlschmeckende und nahrhafte Wurzelmehl, das der Urbevölkerung war, was den Chinesen der Reis, und noch heute mit den Bananen und der Brotfrucht das freigebigste Geschenk der Natur an jeden Armen ist.
Allmählich nehmen die Felder andere Formen an. Wie Bambus schießen aufrecht Schäfte im Grün empor, immer in gleicher Höhe und rechts und links die gleichen Sträucher. Masse macht immer monoton, und so ist ein Zuckerfeld ebenso langweilig zu sehen wie ein Kaffee- oder ein Teefeld in seinem einförmigen, von keinem Farbton unterbrochenen Grün. Nein, er scheint kein amüsanter Gastgeber, der Zucker, er hat nichts zu bieten und nichts zu zeigen. Aber da plötzlich an einer Wegwende begegnet man einem Gespann, und im ersten Augenblick frage ich mich: ist das einer jener alten Farbstiche aus dem Museum oder Wirklichkeit? Denn es ist absolut das Gespann von anno 1600, der Wagen plump und statt der durchbrochenen Räder – wie in Pompeji, wie vor zweitausend Jahren – noch die runde Radscheibe. Und die sechs Ochsen, die ihn ziehen, haben noch denselben Ring durch die Nase für den Zügel wie auf den ägyptischen Wandbildern, und der Neger, der ihn führt, trägt denselben bunten Kattunrock wie in der Sklavenzeit, und genau so werden die Stengel in die Mühle geführt wie in den Zeiten der Kolonisation; vielleicht ist es noch dieselbe, obwohl einige Schornsteine am Rand des Horizonts modernere Raffinierung anzudeuten scheinen. Aber wie fühlt man verwundert (und wohltätig belehrt), einen wie schmalen Streif des Landes erst in Brasilien das Maschinelle und Neuzeitliche erfaßt, wieviel noch hier alter Brauch ist, alte Formen, alte Methoden – mag sein, volkswirtschaftlich zum Nachteil. Aber welche Freude doch jedem Auge, das sich ermüdet an der Monotonisierung