Älterwerden ist nichts für Anfänger. Bernard S. Otis
sicher leben können. Sie werden herausfinden, dass es auf unserer Lebensreise – von der Geburt bis zum Tod – viele gar nicht so offensichtliche Gefahrenzonen gibt, die wir lieber schon früh ins Auge fassen und deren Vermeidung wir planen sollten.
Ich erinnere mich daran, dass eines der größten Vergnügungen meiner Familie, als ich als kleines Kind in Detroit lebte, darin bestand, von unserem Haus im Nordwesten der Stadt zur Belle Island zu fahren, die viele Kilometer entfernt lag. (Zu jener Zeit gab es noch keine Autobahnen.)
Damals war es ein Ort, an dem alle möglichen Winter- und Sommeraktivitäten stattfanden – einschließlich Wassersport, Bootfahren, Schlittschuhlaufen und Feuerwerke vom Fluss aus. Außerdem gab es ein großes Amphitheater, in dem bekannte Persönlichkeiten auftraten. Besonders beeindruckt und fasziniert war ich vom großen Leonard Bernstein, der dort häufig auftrat.
Während meine Familie seine Darbietungen liebte, war ich von seiner Art zu dirigieren hingerissen. Er bewegte die Arme und Beine so harmonisch und schien einen geheimnisvollen Gesichtsausdruck zu haben.
Als ich dies den anderen gegenüber erwähnte, sagten sie, dass sie diese Dinge gar nicht bemerkt, weil sie sich auf die Musik konzentriert hätten. Ich habe diese Faszination nie vergessen, und einige Jahre später, nach Leonard Bernsteins Tod, erschien in The New York Times ein langer Artikel über ihn, in dem ein Musikkritiker schrieb, nur wenige Menschen hätten bemerkt, dass das, was Mr. Bernstein von anderen unterschied und zu einem solchen Meister hatte werden lassen, die ganze körperliche und geistige Hingabe beim Dirigieren des Orchesters gewesen sei.
Wie viel Zeit verbringen wir im Laufe des Lebens damit, unsere Freunde und Angehörigen zu beobachten? Erfassen wir wirklich, wie unsere alternden Eltern ihr Leben bewältigen, oder sind wir so froh zu sehen, wie sie ihren Alltag im Griff haben, dass wir nicht erkennen, wie unglücklich sie dabei sind?
Sind wir so mit anderen Dingen beschäftigt, dass wir uns nicht die Zeit nehmen, einen Schritt zurückzutreten und tatsächlich hinzuschauen und die Emotionen zu spüren, die in unserem Alltagsleben eine Rolle spielen? Ich glaube, es ist so.
Der Besitzer einer großen amerikanischen Möbelfabrik reiste nach Ungarn, um dort Material für seine Firma zu kaufen.
Als er ein Restaurant verließ, kam ihm eine sehr schöne Frau entgegen, die ihn anlächelte. Er erwiderte das Lächeln und versuchte, ihre Bekanntschaft zu machen, doch aufgrund der Sprachschwierigkeiten verstanden sie einander nicht.
Er zeichnete ein Auto, und sie nickte zustimmend, deshalb unternahmen sie eine Fahrt in seinem Wagen.
Er zeichnete eine Bar, und sie nickte zustimmend, deshalb gingen sie in eine Bar und nahmen ein paar Drinks. Er zeichnete ein tanzendes Paar, deshalb gingen sie zur Tanzfläche und tanzten.
Dann gab sie ihm zu verstehen, dass sie seinen Block und seinen Stift haben wollte, und sie zeichnete ein Himmelbett. Er war verwirrt und setzte sie an der Stelle ab, wo alles begonnen hatte.
Am nächsten Tag erzählte er einem Freund von seinem Erlebnis mit der schönen Frau und sagte: »Ich frage mich: Woher wusste sie, dass ich in der Möbelbranche tätig bin?«
Vor Kurzem ging ich mit der Familie einer an Alzheimer erkrankten Frau in eine Einrichtung für betreutes Wohnen, in der sie soeben untergekommen war. Unterwegs deutete eine Person aus unserer Gruppe auf die schönen Möbel, den hübschen Speisesaal und die kostbaren Gemälde an der Wand.
»Wie schön ist es, hier zu leben!«, rief sie aus. Und ich fragte sie: »Was ist mit den Menschen, den Bewohnern? Glauben Sie, dass sie es genauso sehen wie Sie?« Es verschlug ihr die Sprache, als ihr auf einmal klar wurde, dass wir von Männern und Frauen umgeben waren, die keine Gefühle zeigten, die in ihrer eigenen Welt verloren waren und für die kein Unterschied zwischen Buckingham Palace und den finsteren Seitengassen New Yorks bestand.
Nichts regt mich mehr auf, als von Familien gesagt zu bekommen, dass ich mir das wunderbare Heim ansehen müsse, das sie für ihre alternden Eltern ausgesucht haben, oder die schöne Schule, in die sie ihre Kinder schicken.
Was hat das mit der schlechten Lebensqualität zu tun, die ich bei ihnen beobachte, oder mit der Art und Weise, wie Eltern ihre schulpflichtigen Kinder behandeln, wenn sie die schöne Schule als Babysitter missbrauchen?
Eine meiner Familienangehörigen ist eine engagierte Lehrerin, die einige Kilometer von mir entfernt wohnt. Weil sie eine körperliche Beeinträchtigung hat, fällt es ihr schwer, weite Strecken mit dem Auto zurückzulegen. Ich besuche sie gern, und das war auch neulich wieder der Fall.
Die Schule war bereits aus, und sie hatte im Klassenzimmer für den nächsten Tag Vorbereitungen zu treffen, deshalb trafen wir uns in ihrer Schule und unterhielten uns, während sie noch ihre Arbeiten erledigte.
Vor dem Schulgebäude rannten viele Grundschüler unbeaufsichtigt herum, bewarfen sich gegenseitig mit Matsch, schrien, brüllten usw. – das alles auf dem Gelände einer schönen Schule in einem gehobenen Wohnviertel. »Warum?«, fragte ich sie. Die Antwort lautete, dass die Eltern diese Schüler eben noch nicht abgeholt hätten.
Sind wir so blind gegenüber den Bedürfnissen so vieler Menschen? Wollen wir nicht erkennen, wie sehr wir darin versagen, die wahren Probleme zu begreifen und zur Sprache zu bringen, die den von uns Abhängigen selbst das kleinste bisschen Glück verwehren?
Ja, meine lieben Freunde, wir müssen innehalten und nicht nur sehen, was um uns herum los ist, sondern es auch verstehen und Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass wir unsere Lieben in dem, was wir als schöne Einrichtung bezeichnen, verkümmern lassen.
»Das Verhältnis zwischen dem, was wir sehen, und dem,
was wir wissen, ist nie eindeutig. Wir sehen die Sonne
jeden Abend untergehen. Wir wissen, dass sich die Erde
von ihr wegdreht, doch das Wissen, die Erklärung,
passt nie wirklich zum Anblick.«
— John Berger, Ways of Seeing
Als meine Enkelin Julie ihren Abschluss an der Universität von Austin, Texas, machte, sagte ich ihr im Spaß, sie müsse einen guten Job finden, damit sie für mich sorgen könne, wenn ich älter würde. Schlagfertig antwortete Julie lachend: »Das ist die Aufgabe meines Vaters.«
Sie hatte recht. Aber ich dachte daraufhin lange darüber nach. Wie hatte das alles angefangen? Wann hatte ich begonnen, alt zu werden? Wer sollte hier eigentlich für wen sorgen?
Im Rückblick erkenne ich, dass es – zumindest in meinem Fall – mit einem Warnschuss angefangen hatte. Aber dazu später mehr. Zunächst möchte ich noch ein wenig allgemeiner bleiben.
Mit fortschreitendem Alterungsprozess gibt es häufig Anzeichen für möglicherweise zukünftige gravierende Probleme, die wir und unsere Angehörigen zu ignorieren versuchen und dabei so tun, als handele es sich lediglich um normale Aspekte des Lebens. Doch wenn Angehörige schnell und ernsthaft darauf reagieren, können sie eine solche Herausforderung minimieren und/oder beheben, bevor sie sich zu einem echten Problem entwickelt.
Meine lieben Freunde, die Ärzte Judy Freier und Ron Reiter, hielten vor einer kleinen Zuhörerschaft einen Vortrag über die Bedeutung der fünf Sinne. Auf einmal lenkte Ron unsere Aufmerksamkeit auf ein Bibelzitat, in dem es heißt, dass zwar alle Sinne wichtig sind, dass aber das Sehvermögen einen zusätzlichen Nutzen habe, der den anderen Sinnen fehle.
Als die Gruppe fragte, welcher das sei, wies Ron darauf hin, dass es die Fähigkeit sei, die Dinge zu sehen und eine bessere Übersicht darüber zu behalten. So können Sie zum Beispiel in eine Menschenmenge blicken und jemanden sehen, der Ihre Aufmerksamkeit erregt, oder Sie können ein Kunstwerk betrachten, das Sie emotional anspricht. Sie können auf einen Berggipfel steigen und die Schönheit der Täler usw. betrachten.
Als ich 1983 an einem Geschäftstreffen in Kalifornien teilnahm, blickte ich durch den Speisesaal und sah meine zukünftige Frau Anna zum ersten Mal. Es war Liebe auf den ersten Blick.
Ich kann kein besseres Beispiel dafür anführen als das Gedicht