Geist & Leben 3/2020. Verlag Echter
theologische Sinnlinie. Hier wird Jesus (wie schon in Joh 1,29) als „Lamm Gottes“ bezeichnet. Was das heißt, ist hier an dieser Stelle noch gänzlich unklar. Im Lauf des Evangeliums wird der Begriff immer weiter entfaltet. Bei der Kreuzigung Jesu schließt sich der Kreis. Die Anspielungen auf das Paschafest sind dann nicht mehr zu überhören: Wie dem Paschalamm (Ex 12,46) werden Jesu Beine nicht zerschlagen (Joh 19,33). Anders als in den synoptischen Evangelien wird Jesus ein Schwamm mit Essig gereicht, der auf einem Ysopzweig steckt (Joh 19,29). Mit einem Ysopzweig bestrichen die Israeliten in der Nacht des Auszugs aus Ägypten ihre Türen mit dem Blut des Paschalammes (Ex 12,22). Eigens erwähnt das Johannesevangelium, dass aus der geöffneten Seite Jesu Blut und Wasser fließen (Joh 19,34). Immer ist „die Paschasymbolik (…) Mittel der Deutung des Todes Jesu“3. Was der Täufer am Beginn des Evangeliums sagt, wird im Laufe des Evangeliums vollends deutlich: „Jesus ist das wahre Passalamm, das sterbend die Sünde der Welt auf sich nimmt (vgl. Joh 1,29).“4
Für die beiden Jünger mag der Hinweis des Täufers noch recht kryptisch klingen. Die Bezeichnung als „Lamm Gottes“ sagt noch nicht alles und vor allem noch nichts Genaues. Es ist ein Lockruf, der Spannung weckt und zum entdeckenden Aufbruch motiviert. Dementsprechend folgen die beiden Jünger, fast detektivisch, Jesus mit gehörigem Sicherheitsabstand nach. Jesus muss sich ja umwenden, um sie anzublicken und zu fragen.
Direkt, in der 2. Person Plural, spricht Jesus die Jünger an: „Was sucht ihr?“ (Joh 1,38) „Suchen“ ist im Johannesevangelium ein großes Thema. Immer wieder suchen Menschen nach Jesus (Joh 6,24; 7,11; 12,21). Vor dem offenen Grab wird Maria von Magdala am Ende des Evangeliums von Jesus gefragt: „Wen suchst du?“ (Joh 20,15) Die Frage legt sich wie ein Band um das Johannesevangelium. Das Suchen charakterisiert die Jünger und zeichnet sie aus. Wer meint, alles zu haben, wer nichts sucht, wer sich nach nichts mehr sehnt und wem nichts fehlt, der macht sich nicht auf den Weg, der folgt niemandem nach.
„Bleiben“
Die beiden Jünger antworten mit einer Frage. Wörtlich übersetzt lautet sie: „Meister, wo bleibst du?“ (Joh 1,38) Das Wort „bleiben“ ist ein johanneisches Grundverb. An vierzig Stellen wird es im Johannesevangelium verwendet. Jesus charakterisiert die Rolle eines Jüngers bzw. einer Jüngerin mit diesem Wort: „Bleibt in mir und ich bleibe in euch.“ (Joh 15,4) Jüngerschaft kreist stets darum, denn immer geht es darum, bei Jesus zu bleiben (Joh 15,5–7.9). Insofern fragen die Jünger nach dem ureigenen Ort der Jüngerschaft: „Meister, wo bleibst du?“ Dort ist auch der Ort eines Jüngers. Dort, wo du bist, wollen wir sein.
Nicht von ungefähr steht die sich anschließende Einladung Jesu im Futur: „Kommt, und ihr werdet sehen!“ (Joh 1,39) Dieses „Sehen“ erschöpft sich nicht im Hinschauen. Dieses Sehen geht tiefer und meint „erkennen“ und „begreifen“. Die Jünger werden zutiefst verstehen, was die Sendung und der Ort Jesu sind. Am Beginn des Evangeliums fordert das Futur auch „die Hörer und Leser des 4. Evangeliums“ auf, „in die Textwelt einzutreten, nach Sinn zu suchen und ihn zu finden“5. Wer das Evangelium lesend durchwandert, wird „sehen“. Das Evangelium ist das Medium, das den Leser(inne)n Begegnung ermöglicht und Erkenntnis vermittelt.
Es mag enttäuschen, dass die Erzählung endet, ohne weitere Details zu nennen. Wer wissen möchte, wo Jesus – im johanneischen Sinn – „bleibt“, muss weiterlesen. Fast lapidar heißt es nur, dass die Jünger „jenen Tag bei ihm blieben“ und es „um die zehnte Stunde war“ (Joh 1,39). Wie immer im Johannesevangelium ist man gut beraten, hinter den Worten und Begriffen theologischen Tiefgang zu vermuten. So mag dieser eine Tag für das Ganze der Jüngerschaft und die Summe des Lebens und Wirkens Jesu stehen. Diese Anfangserzählung lässt sich als komprimiertes Bild für den gesamten Nachfolgeweg der Jünger(innen) begreifen. Sie verfolgten also den Weg Jesu vom Anfang bis zum Ende.
Die „Stunde“
Der Begriff „Stunde“ ist im Johannesevangelium ebenso bedeutungsvoll. Die Stunde, von der Jesus wiederholt spricht (Joh 2,4; 4,23; 12,23; 17,1), meint keine chronologische Zeiteinheit. Die Stunde steht für die Summe des Wirkens Jesu, für die Erhöhung und Verherrlichung. Sie umfasst die Passion, die Kreuzigung, aber eben auch die Auferstehung Jesu und die Geistsendung (Joh 19,30). Die Jüngerschaft beginnt in der zehnten Stunde. Der Tradition nach stirbt Jesus um die neunte Stunde. Die zehnte Stunde ist jene Stunde, in der alles geschehen ist: Jesus ist zum Vater erhöht. Von dieser guten Aussicht zehrt die Jüngerschaft. Ein(e) Jünger(in) lebt von der „zehnten Stunde“. Sie setzt den Nachfolgeweg in ein helles, österliches Licht.
Die ersten beiden namenlosen Jünger ebnen allen Leser(inne)n den Weg ins Evangelium. Angesprochen sind sehnsüchtige Leser(innen), die mehr erfahren und genauer erkennen wollen. Wer diesen beiden Jüngern folgt und sich mit – oder besser: in ihnen – auf den Weg durch das Evangelium macht, „wird sehen“ und Näheres über Jesus erfahren. Das Buch des Evangeliums ist die Ausbildungsstätte der Jünger(innen). Es wurde geschrieben, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31).
Der geliebte Jünger: Garant und Vorbild
Über diese geheimnisvolle Gestalt wurde schon viel spekuliert: Nur im Johannesevangelium tritt der geliebte Jünger auf. In der Alten Kirche wurde er mit dem Apostel Johannes gleichgesetzt. Aber im Evangelium bleibt er anonym. Er wird nicht über einen Namen identifiziert, sondern als idealtypischer Jünger präsentiert. Was ihn auszeichnet, ist kein Titel und kein Name, sondern eine Zusage: Er ist geliebt. So kann sich jede(r) im geliebten Jünger wiedererkennen: „Seine Namenlosigkeit läßt für jeden künftigen Jünger Raum, um in die Funktion einzutreten, die Jesus (…) dem ‚Jünger, den er liebte‘, vom Kreuz herab gibt.“6 Mit dem geliebten Jünger zeichnet das Johannesevangelium ein Beispiel aufrichtiger Nachfolge in die Jesusgeschichte ein. Wie dieser Jünger ist, so soll jeder Jünger und jede Jüngerin sein! Er ruht an der Seite Jesu (Joh 13,23), wie Jesus im Schoß des Vaters ruht (Joh 1,18). Er gibt Zeugnis von Jesus (Joh 21,24), wie Jesus vom Vater Zeugnis gibt (Joh 15,15). Er harrt aus und bleibt noch unterm Kreuz bei Jesus (Joh 19,26). Er glaubt und vertraut auch ohne Beweis (Joh 20,8) und erkennt den Auferstandenen im Alltag (Joh 21,7).
Der geliebte Jünger ist weit mehr als nur eine literarische Fiktion oder Kunstfigur.7 Es dürfte diesen Jünger wirklich gegeben haben.8 Auf seiner Sicht der Dinge ruht letztlich das Zeugnis des Johannesevangeliums: „Er ist die große Autorität, die hinter dem Evangelium steht (21,24: Er hat es geschrieben) und dessen Verkündigung seine Schüler und Freunde als bleibendes Gut (…) aufgenommen und festgehalten haben. Aus diesem ‚johanneischen Kreis‘ stammen das Evangelium und die Briefe des Johannes.“9 Auf das Zeugnis dieses geliebten Jüngers – auf seine Wahrnehmung und Deutung der Geschichte Jesu – beruft sich das Johannesevangelium: „Wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“ (Joh 21,24)
Den Begriff „Lieblingsjünger“ sollte man dabei möglichst vermeiden. Die Bezeichnung trägt unterschwellig eine Hierarchie und Konkurrenz in die Jüngerschaft ein, die der griechische Text nicht hergibt. Dort ist schlicht und ergreifend von dem Jünger die Rede, den Jesus liebte – nicht bevorzugt und schon gar nicht im Gegensatz zu allen anderen Jünger(inne)n. Es wäre sogar verfehlt, im geliebten Jünger nur eine exzeptionelle Erscheinung zu sehen. Das Evangelium ist vielmehr darum bemüht, die zeitlose Relevanz und Bedeutung des geliebten Jüngers zu verdeutlichen. Er verkörpert das Selbstverständnis und die Aufgabe aller Jünger(innen): Sie sollen sich von Jesus geliebt wissen und – wie der geliebte Jünger – die Sendung Jesu aufnehmen und weitertragen. Für die johanneische Gemeinde wurde er zum Dolmetscher, der das Evangelium in eine eigene Sprache und Begrifflichkeit übersetzt. Sein Zeugnis will Zeug(inn)en ausbilden, die ihrerseits das Evangelium weitertragen und verkünden.
Maria von Magdala: Aufbruch ins Leben (Joh 20,11–18)
Die Szene ist eindrücklich und anrührend: Allein steht Maria von Magdala vor dem Grab Jesu. Sie weint. Sie ist verzweifelt. Sie sieht nur das gähnend leere Loch des Grabes. Sogar der Ort der Trauer wurde ihr genommen. Sie sucht nach dem Leichnam Jesu und findet ihn schließlich: doch anders als sie meint, erst nach einem intensiven Trauerweg und Erkenntnisprozess.