Whitney Houston. Mark Bego
im Warwick-Houston-Clan – da gab es schließlich auch noch Cissy Houston, Whitneys Mutter. Sie sagte über sich: „Ich kann mich in meinen Liedern viel besser ausdrücken, als wenn ich rede. Beim Singen lasse ich allen Frust raus und kann die Traurigkeit und auch die Freude in mir richtig zum Vorschein bringen.“ „Ausdrucksstark“ ist tatsächlich auch das Wort, das ihre starke und einprägsame Stimme am besten beschreibt.
Zwar ist sie vor allem als Backgroundsängerin bekannt, fühlte sich deswegen aber nie so, als ob sie in der zweiten Reihe stand. „Ich habe immer gesagt: Man muss kein Star sein, um ein Star zu sein, denn ich war ein Star im Hintergrund! Vielleicht ist es auch genau das, was mir geholfen hat, einen klaren Kopf zu bewahren. Ich habe auf so vielen Bühnen gestanden und mit so vielen großen Künstlern gearbeitet, wusste aber währenddessen immer, dass ich sie gesanglich jederzeit hätte übertreffen können.“ Wer Cissy Houston je live erlebt oder eine ihrer Platten gehört hat, wird das bestätigen können.
Cissy Houston, geborene Drinkard, begann 1937 in Newark, New Jersey, im Kirchenchor mit dem Singen, im zarten Alter von fünf Jahren. „Ich wollte eigentlich gar nicht“, erinnerte sie sich. „Ich fand das schrecklich. Aber da meine drei Schwestern, zwei Brüder und mein Vater dauernd sangen, hatte ich gar keine andere Chance, und so musste ich in den Kirchenchor, ob ich wollte oder nicht.“ Als die sangesfreudigen Mitglieder der Familie Drinkard schließlich die Drinkard Four gründeten, war Cissy mit dabei.
Mit sechzehn Jahren rief sie den New Hope Baptist Church Young Adult Choir ins Leben, und es dauerte nicht lange, bis sie in verschiedenen Gospelgruppen sang und dabei ihre kräftige, charakteristische Stimme ausbildete. Als sie mit ihrer Schwester und ihren Nichten Dionne und Dee Dee als The Drinkard Singers auftrat, bekam sie einen ersten Eindruck davon, wie es im Showgeschäft und in der Musikindustrie ablief. Und das war wesentlich aufregender als der Gesang im Kirchenchor. Doch dann stieg Dionne Warwick nach ihrer Schicksalsbegegnung mit Burt Bacharach aus und begann ihre erfolgreiche Solokarriere. Cissys Ehemann John Houston berichtete: „Damals dachten alle, die Drinkard Singers würde nach Dionnes Ausstieg auseinanderbrechen, aber Cissy sorgte für einen ganz speziellen Sound. Es dauerte nicht lange, da fegten sie alle anderen Backgroundsängerinnen beiseite.“
Bei ihrem ersten Engagement in einem Plattenstudio übernahm Cissy den Begleitgesang für Ronnie Hawkins & The Hawks, aus denen später die Rockformation The Band wurde. Mitte der Sechziger kamen die Drinkard Singers auch wieder mit Dionne Warwick zusammen, die sie auf dem Gospelalbum The Magic Of Believing unterstützten.
Schon bald wurde Cissy jedoch klar, dass sich mit der Gospelmusik, so sehr sie sie auch liebte, kein Geld verdienen ließ und dass der Kampf an zu vielen Fronten zu viel Kraft kostete. „Ich habe so gern mit meinen Schwestern gesungen“, berichtete sie, „aber nach einer Weile merkte ich, dass man uns als Gospelgruppe einordnete, und das lohnte sich finanziell überhaupt nicht. Ich musste weiterhin Vollzeit arbeiten, um über die Runden zu kommen, und die Doppelbelastung machte mich kaputt.“
Schließlich kam ihr der Gedanke, zusammen mit drei jungen Frauen aus dem Kirchenchor eine eigene Gesangsgruppe zu gründen. Zusammen mit Myma Smith, Sylvia Shemwell und Estelle Brown rief sie die Sweet Inspirations ins Leben, deren erstes, selbstbetiteltes Album 1968 bei Atlantic Records erschien. Gleich die zweite Single, „Sweet Inspiration“, schoss in die Top Twenty der Pop-Charts.
Nebenbei sangen Cissy und die Sweet Inspirations weiterhin die Begleitharmonien auf vielen Platten, beispielsweise auf zahlreichen klassischen Aufnahmen, die Aretha Franklin für Atlantic aufnahm. Es ist die hohe Stimme Cissy Houstons, die hinter Aretha bei „Ain’t No Way“ zu hören ist, wie auch auf vielen anderen Hits der Queen Of Soul. Darüber hinaus nahm Cissy den Begleitgesang für Wilson Pickett, Bette Midler, Neil Diamond, Paul Simon, Connie Francis, Herbie Mann, Dusty Springfield, Buddy Rich, Luther Vandross, Carly Simon, Elvis Presley, Burt Bacharach und viele andere auf.
Die Sweet Inspirations verdienten niemals viel Geld, obwohl sie stets gut zu tun hatten. Cissys Ehemann John, der die Band managte, sagte: „Die Plattenfirmen machten die Kohle, nicht die Musiker. Aber es war damals auch ein Lernprozess. Wenn man später zurückblickte und sah, wie viel Geld man liegengelassen hatte und was man vielleicht hätte besser machen sollen, dann lernte man daraus.“
1970 hatte Cissy schließlich genug davon, die Sweet Inspirations zum Erfolg zu führen, und beschloss, sich auf eine Solokarriere zu konzentrieren. Der erste Versuch scheiterte jedoch. Für Janus Records, ein kleines Label, spielte sie allerdings einen Song ein, von dem die meisten dachten, dass er sich für sie zum Hit entwickeln würde. Es handelte sich um einen Country-Song, dessen Text sie leicht abgewandelt hatte. Statt „The Midnight Train To Houston“ hieß er nun „The Midnight Train To Georgia“.
John Houston war überzeugt: „Das war ein Hit, ganz klar! Überall wurde die Platte gekauft und gespielt. Mit lausigen fünftausend Dollar hätte man genug Werbung machen können, um den Song zum Erfolg zu führen. Aber man ist leider der Plattenfirma ausgeliefert und es hängt alles davon ab, ob die das Geld für Promotion hat oder eben nicht.“
Der Song „Midnight To Georgia wurde 1973 ein Riesenhit für Gladys Knight And The Pips, der bis auf Platz 1 der US-Charts vorstieß. Cissy berichtete: „Tja, Gladys Knight nahm den Song auf, und wir wissen ja, was dann passierte. Aber Gladys war immer sehr nett und hat stets drauf hingewiesen, woher der Titel kam.“
Nicht jeder war so fair. John Houston erinnerte sich: „Es kam immer wieder vor, dass Plattenfirmen Cissy zum Star aufbauen wollten, aber jedes Mal drohten sofort ein paar große Namen auf dem Label damit, sich zu verabschieden, wenn man Cissy weiter förderte.“ Sie fürchteten die Konkurrenz durch Cissys enorm starke Stimme.
Während Cissy noch bei Janus Records unter Vertrag stand, arbeitete sie an einem Album von Burt Bacharach mit, das unter dem schlichten Titel Burt Bacharach 1971 bei A&M Records erschien. Sie übernahm dabei den Leadgesang auf „One Less Bell To Answer“, „Mexican Divorce“ und „All Kinds Of People“. Das Album erreichte Platz 18 in den Billboard-Charts und wurde, nachdem es sich mehr als eine halbe Million Mal verkauft hatte, mit Gold ausgezeichnet. Rückblickend wirkt es beinahe ein wenig ironisch, dass diese drei Songs, die zu ihren stärksten Auftritten als Sängerin zählten, ausgerechnet ein Album des Mannes zierten, der ihre Nichte Dionne als Produzent betreute – die Welt ist eben doch oft ein Dorf.
Allerdings ging es mit Cissys Karriere in den Siebzigern nicht besonders gut voran. „Ich weiß nicht, was da falsch lief“, sagte sie. „Aber ich war irgendwann total genervt. Ich war schon so lange in dem Geschäft, und es hat mich sehr entmutigt, wenn ich sah, dass Leute, die quasi erst gestern angefangen hatten, schon an die Spitze der Charts stürmten. Eine Zeitlang dachte ich darüber nach, aufzuhören und mich nur noch um meine Familie zu kümmern. Aber innerlich wusste ich, dass ich immer wieder zur Musik zurückkehren würde.“
Cissy arbeitete eine Weile als Backgroundsängerin, bevor sie 1972 wieder die Sweet Inspirations zusammentrommelte, um an Aretha Franklins Album Young, Gifted And Black mitzuarbeiten.
1976 eroberte in New York ein neuer Trend die Musikszene – ein Sound, den man Disco nannte. Plötzlich nahmen alle Songs im Disco-Stil auf. Cissy hatte sich damals auf den kleinen Bühnen und Clubs von New York einen guten Namen gemacht und war vor allem für ihre Soul-Version eines Songs aus dem Broadway-Musical Annie bekannt geworden, der „Tomorrow“ hieß. Niemand im ganzen Musikgeschäft konnte diesen Titel so singen wie Cissy Houston. Die Zuschauer strömten in kleine Clubs wie das Reno Sweeney in Greenwich Village oder den Dinner-Club Les Mouches an der Kreuzung 11th Avenue und West 26th Street. 1977 schließlich hatte Cissy mit dem Album Cissy Houston, das auf Private Stock Records erschien, den wohl größten LP-Erfolg ihrer Karriere. „Tomorrow“ war darauf ebenso enthalten wie „He Ain’t Heavy, He’s My Brother“ und „Make It Easy On Yourself“ – Coverversionen, die so gut waren, dass sie die Originale vergessen ließen.
Es schien unvermeidlich, dass Cissy 1978 ebenfalls auf den Disco-Zug aufsprang. Alben mit Balladen verkauften sich nicht mehr – die Leute wollten tanzen und sonst nichts. Cissys größter Disco-Hit war von eben jener Energie geprägt, mit der sie sonst die Songs anderer Künstler veredelt hatte. „Think It Over“ wurde zu einem echten Disco-Knüller.