Fabelmacht Bundle. Kathrin Lange
Sie Liebeskummer.«
Wenn du selbst mal Liebeskummer gehabt hast, dachte Mila, dann ist das vermutlich schon ziemlich lange her.
Obwohl, was wusste sie schon? Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Er war so alt und vermutlich wollte er einfach nur nett sein. Sie legte den Bleistift auf das Notizbuch. »Wie sieht denn jemand aus, der Liebeskummer hat?«
»Na, wie eine hübsche, junge Dame, die allein im TGV nach Paris sitzt, stundenlang grübelnd aus dem Fenster starrt und dabei ab und zu seufzt.«
Das Kompliment freute Mila. Aber ihr war es auch unheimlich, dass er sie die ganze Zeit so genau beobachtet hatte.
»Sie sind von Ihrem Freund kürzlich erst verlassen worden.« Er formulierte das nicht als Frage, sondern wie eine Feststellung.
Mila hatte keine Ahnung, wie er darauf kam, aber er lag richtig. »Und wenn?«, murmelte sie.
Da lächelte er. »Wie hieß er?«
Sie überlegte kurz, ob sie es ihm sagen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. In dieser Geschichte hier, das hatte sie sich geschworen, würde ihr Ex keine Rolle spielen. Sie zuckte mit den Schultern.
Das Lächeln des alten Mannes vertiefte sich. »Ah. Er braucht keinen Namen in dieser neuen Geschichte, nicht wahr?«
Das lag so dicht an dem, was sie gerade gedacht hatte, dass sie ihn erstaunt musterte. »Können Sie Gedanken lesen?«
»So was Ähnliches.«
Mila bemerkte, dass ihre Fingerspitzen nervös auf das dicke Notizbuch trommelten. Irgendwann war es einmal rot gewesen, aber die Farbe war schon lange verblasst. Kinokarten, Prospekte und allerlei Zettel steckten zwischen den Seiten und damit sie nicht herausfielen, hatte Mila ein regenbogenfarbenes Haarband um den Umschlag geschlungen.
»Aber er hat Ihnen wehgetan.« Wieder eine Feststellung.
Und sie ging Mila zu weit. Small Talk im Zug war in Ordnung, aber mit dem Mann über ihren Exfreund zu reden, da hörte es auf. Denn ja, es tat noch immer weh, wobei der Schmerz weniger in ihrem Herzen saß, sondern eher ein Stück höher, in ihrer Kehle, wie ein bitterer Geschmack, den sie nicht loswurde. Ein klarer Fall von gekränkter Eitelkeit, hatte ihre Freundin Isabelle neulich am Telefon gut erkannt.
Milas Handy kündigte eine weitere Nachricht an. Diesmal schaute sie gar nicht erst nach. Ob ihre Mutter diesmal zu ihren Fragezeichen einen Fluch hinzugefügt hatte?
Wo zum Teufel bist du???????
Mila war gestern Abend im Streit von zu Hause abgehauen. Sie hatte ihrer Mutter nur gesagt, dass sie bei einer Schulfreundin übernachten würde, und das hatte sie auch getan. Davon, dass sie heute Morgen ziemlich kurz entschlossen in einen Zug gestiegen war, um zu Isabelle nach Paris zu fahren, hatte ihre Mutter nicht die geringste Ahnung.
Isabelle war eine Freundin, die Mila schon kannte, seit sie sich auf einem internationalen Jugendfreizeitcamp für junge Künstler in Riga getroffen hatten. Damals war Mila vierzehn gewesen, Isabelle schon achtzehn. Und obwohl Mila schrieb und Isabelle malte, hatten sie sich auf Anhieb gut verstanden und waren in Kontakt geblieben.
Gestern nach dem Streit mit ihrer Mutter hatte Mila Isabelle eine SMS geschrieben und sich bei ihr ausgekotzt. »Helena ist mal wieder unmöglich«, hatte sie geschrieben. Sie nannte ihre Mutter oft beim Vornamen, besonders, wenn sie sauer auf sie war. Isabelles Antwort hatte aus genau zwei Sätzen bestanden: »Komm her! Bleib, so lange du willst.«
Also hatte Mila die Nacht bei ihrer Schulfreundin verbracht, deren Mutter glaubte, dass Helena Bescheid wusste, wo sie war. Heute Morgen dann hatte sie sich ganz früh über das Internet eine Fahrkarte nach Paris besorgt und weil sie einfach nur wegwollte, hatte sie sich für die erste, längere Verbindung über Karlsruhe entschieden.
Der alte Mann schaute sie immer noch erwartungsvoll an. Offenbar erwartete er irgendeine Antwort. Betont demonstrativ wechselte sie das Thema. »Ich besuche jemanden in Paris.«
Wie, um sie für ihre Unhöflichkeit zu tadeln, begann ihr Handy jetzt auch noch zu klingeln. Mila drehte es wieder um.
Auf dem Display war ein Bild zu sehen, das sie zusammen mit ihrer Mutter zeigte. Es war das einzige Foto, das sie hatte, auf dem ihre Mutter lächelte.
Mila starrte die beiden Gesichter an, ihr eigenes, das von einer leichten Urlaubsbräune überzogen war, die gut zu dem sonnigen Blond ihrer Locken und zu ihren hellblauen Augen passte. Die paar Sommersprossen, die sie immer im Sommer bekam, wirkten wie mit einem feinen Haarpinsel auf ihre Nase getupft.
Und daneben das Gesicht ihrer Mutter, ihrem eigenen ähnlich, aber ausgezehrter. Schon immer hatte Milas Mutter gewirkt, als koste es sie zu viel Kraft, Gefühle zuzulassen. Was kein Wunder war, wenn man bedachte, dass Milas Vater und ihr älterer Bruder kurz vor ihrer Geburt gestorben waren. Helena, die Schriftstellerin war, hatte mehrere Bücher über das Thema Tod und Verlust verfasst, die allesamt nicht besonders erfolgreich gewesen waren. Und gleichzeitig war der Tod der beiden natürlich auch der Grund, warum Helena so sehr an Mila klammerte, dass sie manchmal kaum Luft bekam.
Seufzend drückte Mila den Anruf weg, dann zog sie ihr Notizbuch ein wenig dichter zu sich heran. »Seien Sie nicht böse, aber ich würde jetzt gern weiterschreiben.«
Der Mann nickte. »Natürlich. Bitte entschuldigen Sie! Ich bin wieder einmal viel zu aufdringlich.«
Mila lächelte ihn schwach an. Dann nahm sie ihren Bleistift und setzte ihn auf das fast leere Blatt.
Liebe auf den ersten Blick, dachte sie und las den einzigen Satz, den sie von ihrer neuen Geschichte bisher zustande gebracht hatte.
»Nicholas kniete auf dem Rasen vor dem Eiffelturm«, lautete er.
Nicholas kniete auf dem Rasen vor dem Eiffelturm und blickte das kleine Mädchen an, das vor ihm stand und ihn anstarrte. Die Kleine weinte. In der einen Hand hielt sie den Körper einer bunten Flickenpuppe, in der anderen deren abgerissenen Kopf. Die Haare dieser Puppe waren aus gelben Wollfäden geflochten. Schaumgummi quoll aus dem Hals und der Stoff, aus dem der Körper genäht war, wirkte ausgefranst und zerschlissen. Nicholas war auf das Mädchen aufmerksam geworden, weil er ihr verzweifeltes Schluchzen gehört hatte. Jetzt strich er sich die halblangen schwarzen Haare aus den Augen. »Zeig mal!«
Als er ihr behutsam den Puppenkörper und den Kopf wegnahm, schluchzte sie noch einmal und zog die Nase hoch. »Emmy war schon ganz doll kaputt. Aber jetzt ist der Kopf ganz ab …« In ihren Augen schimmerte kindliche Verzweiflung.
»Schon gut«, sagte er. Er sah sich um. »Wo ist denn deine Mama?«
»Eis kaufen«, antwortete sie mit einem tiefen, schmerzvollen Seufzen. »Ich wollte Emmy doch nur die Tauben da zeigen …« Mit ihrer Kinderhand wies sie auf einen Schwarm der grauen Vögel, die hier überall herumhüpften. »Und dann war der Kopf einfach ab«, schniefte sie.
Nicholas schaute hinüber zum Kiosk. Die Mutter der Kleinen stand in der Schlange und unterhielt sich mit einem älteren Mann. Gleich dahinter wartete Nicholas’ Freund Luc, der für sie beide Kaffee holen wollte.
Nicholas blickte wieder auf die beiden kaputten Puppenhälften. Sollte er? Noch während er sich das fragte, tastete seine Hand schon in der Tasche seines schwarzen Mantels herum. Ihm war klar, dass er gegen die Regeln verstieß, die sein Vater aufgestellt hatte, aber was machte es für einen Unterschied? Er wusste, welche Gefahren damit einhergingen. Gerade er wusste das. Trotzdem erlaubte er sich manchmal, bei solch kleineren Ereignissen die Fabelmacht zu benutzen. Es war, als versuchte er damit etwas wiedergutzumachen.
Er zog einen silbernen Kugelschreiber und ein kleines schwarzes Notizbuch hervor.
»Gleich geht es Emmy wieder gut«, versprach er der Kleinen. »Aber du darfst niemandem verraten, was ich jetzt tue. Einverstanden?«
Mit ernsthaftem Blick nickte das Mädchen.
»Wie heißt du?«, fragte Nicholas.
»Marie-Claire.« Ihr ging