Fabelmacht Bundle. Kathrin Lange
Es war derselbe Junge, über den Mila schon oft geschrieben hatte, eigentlich seit sie ihre ersten Schreibversuche gemacht hatte.
Früher hatte sie in ihrer Fantasie mit ihm zusammen Abenteuer erlebt – sie waren gemeinsam auf die höchsten Bäume geklettert und hatten dort die Beine baumeln lassen. Sie hatten alte Abrisshäuser und verlassene Fabriken durchstreift und dort gegen imaginäre Gegner gekämpft. Später dann, als Mila kein Kind mehr gewesen war, sondern schon ein Teenager, war auch Nicholas in ihren Geschichten älter geworden. In ihrer Vorstellung war er ungefähr so alt wie sie. Er sah auf unaufdringliche Art gut aus – groß, breite Schultern, schwarze Haare. Und er strahlte diese Lässigkeit aus, die sie auch in echt faszinierte. Sie mochte es, wenn jemand sich nicht so leicht durchschauen ließ.
Der alte Mann wartete noch immer auf eine Antwort auf seine Frage.
Mila ließ den Blick über ihren letzten Satz schweifen.
Sollte er?, hatte sie geschrieben. Und: Noch während er sich das fragte, tastete seine Hand schon …
Jetzt fügte sie rasch noch ein in die Tasche seines schwarzen Mantels hinzu und nickte dem alten Mann zu.
»Darf ich es lesen?«, fragte der.
Wie kommt er auf diese absurde Idee?, durchzuckte es sie. Sie wollte ihn schon anfahren, was ihm einfiele, aber dann sah sie in seine hellen, von unzähligen Falten umrahmten Augen.
Plötzlich kam es ihr gar nicht mehr so blöd vor, ihm ihre Texte zu zeigen.
Der alte Mann schien wirklich begierig darauf zu sein, etwas von ihr zu lesen. Und es gab nicht allzu viele Menschen, die sich für ihre Texte interessierten.
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie trotzdem. Das gerade Geschriebene schien ihr zu intim, immerhin schrieb sie über Nicholas, als würde er tatsächlich existieren. Und der Stil hatte etwas Schwärmerisches, das ihr plötzlich fast ein bisschen peinlich war. Dieser Mantel zum Beispiel, den Nicholas trug. Mehr Klischee ging ja wohl eigentlich nicht. Aber sie mochte die Vorstellung, dass er mit einem langen schwarzen Mantel herumlief, dessen Kragen er im richtigen Moment aufstellte oder dessen Schöße hinter ihm herwehten, wenn er mit energischen Schritten durch die Straßen von Paris ging.
Mila blätterte zurück zu einer Szene, die sie vor einigen Wochen geschrieben hatte.
Ein namenloser Mann kam darin vor. Er war alt. Sehr alt, vermutlich noch älter als ihr Gesprächspartner. In der Szene lag dieser Mann auf dem Sterbebett, eine ebenfalls namenlose junge Frau saß neben ihm und empfand einen so tiefen, grauenvollen Schmerz, dass Mila davon beim Schreiben die Tränen gekommen waren.
Sie zögerte kurz, aber dann gab sie sich einen Ruck und schob dem Alten das Notizbuch zu. Er drehte es um.
Las.
Seine Miene blieb völlig ausdruckslos dabei, aber als er fertig war, seufzte er tief. »Sie haben großes Talent, wissen Sie das?«
Das Kompliment freute sie mehr, als sie zugeben wollte. Sie spürte förmlich, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
»Das hier«, der Alte tippte auf ihren Text, »erinnert mich an eine alte Liebesgeschichte, von der ich einmal gehört habe«, erklärte er. »Eine sehr traurige Liebesgeschichte.«
Jetzt fing er schon wieder damit an. Mila bemühte sich, nicht allzu genervt auszusehen. Er schien wie besessen von der Liebe.
Aber dann meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Was, wenn seine Frau vor nicht allzu langer Zeit verstorben war? Bei seinem Alter wäre das nur naheliegend. Und sie zeigte ihm ausgerechnet eine Geschichte über ein Paar am Sterbebett.
Für einen Moment war sein Blick nach innen gerichtet, dann besann er sich. Mit einem Blinzeln schaute er wieder hoch und schob Mila das Notizbuch zurück über den kleinen Tisch. »Genug geredet«, verkündete er überraschend energisch. »Wir sind da.«
Im selben Moment knackte der Lautsprecher über Mila.
»Meine Damen und Herren«, verkündete die Ansage, »in Kürze erreichen wir den Gare de l’Est.«
Mila machte sich daran, ihre Sachen zusammenzupacken. Sie schob Notizbuch und Handy in ihre Umhängetasche und griff nach der Jacke, die sie an den Haken neben dem Zugfenster gehängt hatte.
Der alte Mann sah ihr dabei zu.
»Soll ich Ihnen mit Ihren Sachen helfen?«, fragte sie.
»Nicht nötig.« Er lächelte jetzt wieder. »Ich habe kein Gepäck.«
Sie nickte nur. Sie fühlte sich leicht schwindelig. Vermutlich hatte sie zu lange gesessen.
»Also dann, auf Wiedersehen«, sagte sie und erhob sich.
Draußen vor den Fenstern tauchte das Bahnhofsgebäude auf und der Zug bremste ab. Mila stand schon im Gang, da beugte sich der alte Mann noch einmal zu ihr. »Worte, junges Fräulein«, raunte er. »Worte können sehr mächtig sein. Wenn die richtigen Menschen sie benutzen, sogar mächtig genug, die Welt zu verändern.«
Als Mila den Bahnsteig betrat, klopfte ihr Herz unerwartet stark. Sie lebte in Berlin, war also die Großstadt gewöhnt, dennoch fühlte es sich gleichzeitig aufregend und beängstigend an, ganz allein hier zu sein. Zum Teil lag das bestimmt daran, dass die letzten Tage ihr so zugesetzt hatten. Und daran, dass ihre Mutter keine Ahnung davon hatte, wo sie steckte.
Sie schüttelte sich. Die letzte Stunde im Zug mit dem alten Mann hatte sie ziemlich durcheinandergebracht und seine merkwürdige Verabschiedung noch viel mehr.
Als sie zusammen mit den anderen Reisenden in Richtung Zugtür gegangen war, hatte ein junger Mann mit Pferdeschwanz den Alten vorgelassen. Jetzt sah Mila den jungen Mann aus dem Zug steigen, doch der Alte war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte er noch einen kleinen Abstecher auf die Zugtoilette gemacht.
Der Bahnhof war bei Weitem nicht so groß, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, und mit seinen vielen schmiedeeisernen Pfeilern und den marmornen Säulen wirkte er viel altmodischer als der moderne Hauptbahnhof von Berlin. Auf dem Bahnsteig herrschte ein unfassbares Gedränge. Eine Großfamilie mit hoch aufgetürmtem Gepäckwagen drängelte sich ganz in der Nähe durch die genervte Menge. Die Frau, eine dicke Blondine, schnatterte dabei auf ihren Mann ein, der jeden ihrer Sätze mit einem resignierten Nicken beantwortete. Geschäftsleute eilten mit ihren Laptoptaschen an Mila vorbei und ein paar Polizisten mit Maschinengewehren musterten prüfend jeden, der ankam. Der Jingle, mit dem die Lautsprecheransagen angekündigt wurden, ertönte, aber das, was durchgesagt wurde, ging in dem Getöse unter, mit dem ein Schnellzug aus der Schweiz auf dem Gleis nebenan einfuhr.
Milas Blick fiel auf ein eisernes Gitter, das direkt an der Bahnsteigkante in den Boden eingelassen war. Aus dem Reiseführer, den sie im Zug zwischen Berlin und Karlsruhe gelesen hatte, wusste sie, dass sich unter einigen Bahnsteigen alte Bunker befanden, die im Zweiten Weltkrieg zum Schutz vor Bomben gedient hatten. Der Gedanke, in einem winzigen, unterirdischen Keller zu hocken, während ringsherum Feuer und Verderben wüteten, bereitete ihr Beklemmungen. Gleichzeitig aber fiel ihr eine Szene ein, in der sie und Nicholas sich gemeinsam in einem solchen Keller befanden.
Sie schob den Gedanken von sich, griff nach ihrem Rucksack und hob ihn auf den Rücken. Zeit, dass sie loskam. Ihre Freundin Isabelle würde sie nicht abholen, weil sie noch arbeitete, aber es war einfach, zu Isabelles Wohnung zu kommen. Mila musste nur vom Gare de l’Est die Metro Richtung Porte de Clignancourt nehmen und an der Station Château Rouge aussteigen. Isabelles Wohnung lag dank ihrer reichen Eltern mitten im Künstlerviertel Montmartre. Um sie zu erreichen, musste Mila zwar zu Fuß den gesamten Hügel erklimmen, aber das war ihr egal. So konnte sie sich gleich ein bisschen in den vielen bunten und interessanten Geschäften dort umsehen – und vielleicht sogar schon einen Abstecher zur berühmten Kirche Sacré-Cœur machen.
Eine