Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild. Carl Wilckens

Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens


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derer der Regen unerbittlich stärker wurde. Wieso dauerte das so lange?

      Das Fenster des Mannes schwang auf. „Tut mir leid, Junge. Sie öffnet ihre Tür nicht.“

      „Haben Sie auch an der richtigen Tür geklopft?“

      Der Mann nickte. „Ganz sicher. Vermutlich schläft sie. Und das solltest auch du tun. Komm morgen wieder.“

      In diesem Moment klickte das Schloss zum Treppenhaus. Die Tür schwang auf …

      Da war sie. Emily in einem weißen Kleid. Einige Sekunden vergingen, während wir einander ansahen. Emilys Augen waren gerötet. Ihre schmalen Schultern zitterten. Inzwischen goss es wie aus Kübeln. Sie tat einen Schritt und war binnen eines Augenblicks durchnässt bis auf die Haut. Unter ihrem weißen Kleid zeichneten sich die Umrisse ihrer Gestalt ab, doch mein Blick verlor sich in ihren Augen. Ihr Kinn krauste sich. Sie kam näher, blieb vor mir stehen und hob den Blick. Im selben Moment, da ich es keine Sekunde länger aushielt und sie an mich zog, fiel sie mir regelrecht in die Arme. Sie vergrub ihr Gesicht in meiner Brust, krallte ihre Hände in meinen Frack und wurde von Schluchzern geschüttelt. Emily, was ist nur los? Der Regen ging heftiger denn je auf uns nieder, der Sturm nahm stetig an Stärke zu, und dennoch verharrten wir so eine Ewigkeit …

       Treedsgow

      Im Hinterhof eines leer stehenden Hauses senkte sich eine Gestalt aus dem Himmel. Es handelte sich um einen kleinen Mann mit stechend blauen, zugleich toten Augen. Auch sonst machte er einen leblosen Eindruck. Wenn man genau hinsah, bemerkte man vielleicht die dünnen roten Striemen an seinen Handgelenken.

      Der Mann rührte sich nicht, schwebte mit von sich gestreckten Armen in der Luft wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden und schleifte mit den Füßen über den Boden. Regenwasser floss ihm in die weit geöffneten Augen und tropfte ihm von der Nasenspitze.

      Nichts an seiner Erscheinung ließ ahnen, welche Schlacht in seinem Kopf tobte. Wie sein Verstand Angriffswelle für Angriffswelle gegen die fremde Macht schickte, die von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Vergebens. Zuletzt zog sich der Eindringling freiwillig zurück, jedoch nicht ohne seinem Hirn erheblichen Schaden zuzufügen.

       Im Verwunschenen Tal

      Der Marionettenmann hängte das Spielkreuz über den Rand seines Kessels und lehnte sich zurück. Er blies die Wangen auf und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Er hatte sein Möglichstes getan, um Emilys Selbstmord zu verhindern. Der Rest lag bei William.

      Wie sich herausgestellt hatte, hatte der Spiegel ihm mit Emilys Tod nicht die Gegenwart gezeigt, sondern die Zukunft. Und der Marionettenmann hatte alle Register gezogen, um ihr Leben zu retten. Nur Emily wusste, wie man das Verwunschene Tal betrat. Sie hatte ihm die Tränen gestohlen und nur sie konnte sie ihm zurückbringen.

      Gewissermaßen hatte Emily den Marionettenmann enttäuscht. Er hatte ja befürchtet, dass sie eines Tages einknicken würde, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich durch einen Selbstmord aus der Affäre ziehen würde.

      Der Marionettenmann trat vor den Spiegel und beobachtete, wie William das halbe Viertel zusammenschrie. Eine Zeit lang sah es so aus, als ob er scheiterte. Dann aber öffnete Emily die Tür, und sie fielen einander in die Arme.

      Wie überaus bewegend.

      Pah!

      Der Marionettenmann bleckte die Zähne. Er beobachtete, wie Emily und William zusammen ins Trockene gingen. Wie sie redeten, und William schließlich etwas tat, das ihn schadenfroh grinsen ließ. Er legte die Hände mit ihren langen bleichen Fingern ineinander und knetete seine Handflächen.

      Genießt diesen kurzen Moment des Glücks, dachte er und warf einen Blick auf die Sanduhr zwischen den Schrumpfköpfen im Regal. Der Hals der Uhr war verschlossen gewesen. Nun aber floss der feine weiße Sand. Langsam aber stetig verrannen die letzten Stunden von William David Walker.

       Das Tagebuch

      In dieser Nacht betrat ich erstmals Emilys Wohnung. Der würzige Geruch von Büchern und Kerzenwachs lag in der Luft. Der Regen prasselte gegen das Fenster ihres Esswohnzimmers, und der Wind rüttelte an den Läden.

      Emily entschuldigte sich und zog sich in ein angrenzendes Zimmer zurück. Ich hängte den durchnässten Frack über die Lehne eines Stuhls und machte mich am Kamin zu schaffen. Als Flammen über die Holzscheite leckten, richtete ich mich auf und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Ich bemerkte, dass Emily die Fensterbank mit seltsamen Schriftzeichen bekritzelt hatte. Knoblauchzöpfe hingen von der Decke, und auch auf der Tür blühte ein Kreis aus Runen.

      Sie ist verrückt, dachte ich. Doch der Gedanke erschreckte mich nicht. Im Gegenteil, er stimmte mich heiter.

      „Ich weiß, was du denkst.“

      Ich wandte mich zu ihr um. Sie trug nun ein weißes Nachthemd.

      „Du hältst mich für verrückt.“

      „Oh ja“, sagte ich und nickte. „Paranoid, um genau zu sein.“ Ihr Blick entlockte mir ein Lächeln. „Ich würde sogar sagen, nur du bist verrückt genug, dass ich dich mögen kann.“ Die Sorge in ihrem Blick schmolz dahin, und Tränen der Erleichterung füllten ihre Augen.

      „Komm“, sagte ich und fasste sie am Handgelenk. Ihre Haut war eisig. „Du solltest dich aufwärmen.“ Ich führte sie zum Kamin, wo Emily sich nahe den Flammen in einen Sessel sinken ließ. Verlegen starrte sie auf ihre Füße.

      „Ich weiß nicht, wie ich mich erklären soll“, sagte sie mit erstickter Stimme.

      „Niemand hat eine Erklärung verlangt.“

      Im Grunde war es mir gleich, was sie umtrieb. Ich bin an etwas erkrankt, das Ed hormonelle Vergiftung der Hirnrinde nennt. Kurz gesagt, ich bin verliebt, und würde mich vermutlich nicht einmal daran stören, wenn Emily ein Flüchtling aus dem Hochsicherheitstrakt von Sankt Laplace wäre.

      „Was kann ich tun, damit es dir besser geht?“, fragte ich.

      Emilys Worte waren jetzt nur noch ein Flüstern. „Bleib bei mir.“

      Ich lächelte schwach. „Du musst es mir schon ein bisschen schwerer machen, Emily.“

      Ihre Lippen zuckten, doch schon im nächsten Moment war ihre Miene wieder ernst. Ihr Blick glitt durch den Raum und blieb an meinem Frack hängen.

      „Wieso trägst du einen Anzug?“

      „Ich wollte Diane im Hafen besuchen.“ Mir kam nicht in den Sinn, sie zu belügen.

      „Oh …“

      „Sie bedeutet mir nichts“, fuhr ich fort und sah Emily fest in die Augen. „Ich war betrunken, als ich sie kennenlernte, weil …“

      Emilys Augen weiteten sich, als sie verstand. „Weil ich dir diesen Brief geschrieben habe“, sagte sie.

      Ich presste die Lippen zu einem schmalen Strich und nickte.

      „William …“ Emily holte tief Luft. „Nach unserer Verabredung im Hafen fing ich an, dich zu mögen. Sehr zu mögen. Das war nicht gut.“ Sie atmete erneut tief ein und sah zum Kamin. Die Flammen tanzten in ihren Augen. „Bevor ich Studentin in Treedsgow wurde, war ich ein Niemand. Eine Waise ohne Mittel. Ich suchte Zuflucht bei einer alten Dame, die sich um Kranke kümmerte. Seit einiger Zeit war sie selbst erkrankt und wurde von ihrer Enkelin gepflegt. Das Mädchen war viel zu jung, um allein für ihre Großmutter zu sorgen. Weil ich mich auf die Naturheilkunst verstehe, blieb ich dort. Ich pflegte die alte Dame, versorgte an ihrer statt die Kranken und kümmerte mich um das Mädchen. Dann eines Tages …“ Emily holte tief Luft, wie um Kraft zu sammeln. „… küsste ich das Mädchen beim Zubettgehen auf die Stirn. Am nächsten Morgen erkrankte sie. Ein Viertel später war sie tot.“

      Ich runzelte die Stirn. Emily konnte nicht ernsthaft glauben, dass ein Zusammenhang bestand.

      „Bald darauf starb auch die alte Dame“, fuhr sie


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