Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild. Carl Wilckens
tot.“
„Das mildert nicht die Tat.“
„Wie dem auch sei“, sagte der Arzt. „Wir müssen sie ins Hospital bringen. Sie braucht eine Bluttransfusion oder sie stirbt.“
„Eine Transfusion?“, wiederholte ich. Nur jeder zweite überlebt das.
„Wir haben keine Wahl. Bedauerlich, aber so ist es nun mal.“ Die Ärzte gingen in die Hocke und hoben die Trage hoch.
„Ich bin zu alt für sowas“, hörte ich den kleinen Mann keuchen, als er und sein Kollege Emily hinaus trugen. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.
„Worauf warten Sie, Harper?“, sagte Lovelace schneidend. „Legen Sie ihm Handschellen an.“
„Mr. Lovelace …“
„Ich habe nichts getan“, rief ich. „Ich habe sie hier so vorgefunden.“
„Du musst zum Zeitpunkt der Tat hier gewesen sein“, sagte Lovelace. „Sie wäre verblutet, wenn du später gekommen wärst.“
„Ich …“ Ich stockte. Er hatte Recht. Der Täter musste ganz in der Nähe gewesen sein, als ich Emily gefunden hatte. Womöglich war er hinter meinem Rücken zur Tür hinausgeschlichen, während ich Emily versorgt hatte. Oder …
„Sie hat es sich selbst angetan“, murmelte ich.
„Mr. Lovelace …“
Der Konstabler hob Schweigen gebietend die Hand. „Was sagst du da? Sie soll es sich selbst angetan haben?“ Ich erwiderte seinen Blick. Seine Miene war glatt wie ein Spiegel – eine Augenbraue ausgenommen, eine gehisste Flagge des Spotts, die unter der Krempe seiner Melone zu verschwinden drohte. Sollte ich ihm erzählen, was ich gesehen hatte, als ich Emily zum Friedhof gefolgt war? Lovelace war drauf und dran, mich in Haft zu nehmen.
„Ich habe sie bei etwas beobachtet“, sagte ich leise und begann zu erzählen. Als ich endete, hatte sich Lovelaces zweite Augenbraue zu der ersten gesellt.
„Wollen Sie mir weismachen, dieses Mädchen habe den Verstand verloren, Mr. Walker?“
„Mr. Lovelace“, sagte Harper, dieses Mal mit unterschwelliger Schärfe in der Stimme.
„Bei Gott, was wollen Sie, Harper?“
„Das sollten Sie sich ansehen.“
Lovelace folgte dem Fingerzeig des Detektivs und stutzte. Erst jetzt bemerkte er den Kreis aus Runen auf Emilys Tür. Seine sonst beherrschte Miene verrutschte. „Was zum …“
„Die Schriftzeichen befinden sich auch auf der Fensterbank“, sagte Harper. „Und sehen Sie dort.“ Er deutete auf die Knoblauchzöpfe, die von der Decke hingen. „Wozu braucht eine einzelne Person so viel Knoblauch? Noch dazu hier, in einem Wohnzimmer. Wieso verwahrt sie es nicht in der Küche? Mr. Walkers Geschichte klingt in der Tat unglaubwürdig, aber mir scheint, dass Miss End irgendeine heidnische Religion mit an Wahnsinn grenzendem Fanatismus praktiziert.“
Lovelace knirschte mit den Zähnen. „Also dann“, sagte er mühsam beherrscht, „wissen Sie ja, was zu tun ist.“
Harper nickte knapp.
„Was soll das heißen?“, fragte ich. Lovelace sah mich an, seine Miene nun so beherrscht wie eh und je.
„Was denken Sie, Mr. Walker? Wir lassen überprüfen, ob sie tatsächlich verrückt ist. Wir bringen sie nach Sankt Laplace.“
W. D. Walker
18. ÄHRENGOLD 1713, LOHNTAG
Erst heute erlaubte man mir, Emily in Sankt Laplace zu besuchen. Sie hat die Bluttransfusion überstanden. Ihre Schnittwunden verheilen gut, doch es geht ihr sichtlich schlecht in der Nervenheilanstalt. Es ist ein schrecklicher Ort. Ein Schrotthaufen für verlorene Seelen. Die Menschen dort existieren, aber sie funktionieren nicht mehr. Sie tragen weiße Hemden, weiße Hosen, weiße Schuhe. Nur wenige wirken normal. Viele sind kahl rasiert, damit sie sich nicht die Haare ausreißen. Manche blicken stumpf, manche brabbeln wild. Andere wiederum tragen eine Jacke, die sie mit ihren eigenen Armen fesselt.
Ich sah Emily mitten unter ihnen in der Kantine der Nervenheilanstalt. Sie trug dieselbe weiße Kleidung, zudem Verbandsstulpen an den Unterarmen. Sie saß an einem Tisch zwischen einer schielenden Frau mit schwarzem, zerzaustem Haar und einem kahlköpfigen Riesen. Auf einem Tablett vor ihr stand eine kaum angerührte Mahlzeit. Erbsen und Brei. Das Sicherheitspersonal wies mich an, zu warten. Die beiden Männer gingen zu ihr. Einer berührte sie sanft am Oberarm, während der andere sich zu ihr herabbeugte und etwas murmelte.
Emily hob den Kopf.
Sie sah mich, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie erhob sich und bewegte sich mit steifen Schritten durch den Saal, das Sicherheitspersonal zu ihrer beider Seiten. Würden sie es zulassen, dass ich sie umarmte? Im nächsten Moment war sie vor mir, und ich tat es einfach. Drückte sie fest an meine Brust. Gott, wie dünn sie geworden war; wie zerbrechlich sie sich anfühlte.
„Ihr habt zehn Minuten“, sagte einer der Männer.
„Warum bin ich hier, William?“, fragte Emily mit tränenerstickter Stimme, sobald man uns allein gelassen hatte. „Man sagte mir, man würde mich in eine Zwangsjacke stecken, wenn ich versuche, mich zu verletzen. Wie kommen sie darauf, dass ich so etwas tun könnte, William? Keiner sagt mir, was los ist.“
„Beruhige dich, Emily. Du kommst hier schon noch raus. Setzen wir uns erst mal.“ Ich führte sie zu einem freien Tisch im hinteren Bereich des Saals. Dabei begegnete ich dem Blick eines Mannes, der mich anstierte, und sah schnell in eine andere Richtung. Ich dachte an die Worte, die das Sicherheitspersonal mir zu Beginn eingeschärft hatte.
Vermeiden Sie direkten Augenkontakt.
Vermeiden Sie ruckartige Bewegungen und laute Geräusche.
Sprechen Sie mit niemandem außer der Person, die Sie besuchen wollen.
Insassen, von denen Gefahr ausgeht, werden in aller Regel isoliert, aber es geschieht immer mal wieder, dass ein bislang harmloser Irrer durchdreht.
Emily und ich ließen uns einander gegenüber am Tisch nieder. Ich musterte sie voller Mitgefühl. Tränen hatten glitzernde Spuren um ihre spitze Nase hinterlassen.
„Sie denken, du hättest dir die Verletzungen selbst zugefügt.“
„Wieso?“, flüsterte sie.
„Weil … weil ich ihnen etwas über dich erzählt habe.“
Emily sah mich aus geröteten Augen heraus an. „Was hast du ihnen erzählt?“
Ich blickte sie traurig an. „Ich habe dich vor einigen Vierteln beobachtet.“ Ich berichtete ihr, was ich gesehen hatte. Wie sie zum Friedhof gegangen war, sich den Arm aufgeschnitten und mit sich selbst geredet hatte.
Emilys Augen weiteten sich. „Warum hast du ihnen das erzählt?“, fragte sie immer noch flüsternd.
Ich rang die Hände. „Weil ich glaube, dass du dich wahrhaftig selbst verletzt hast. Emily, merkst du nicht, dass etwas Merkwürdiges mit dir vorgeht?“
„Ich bin nicht verrückt.“ Wieder traten ihr Tränen in die Augen. „Ich gehöre nicht hierher, William. Ich habe mir nicht die Arme aufgeschnitten. Nicht dieses Mal“, fügte sie leise hinzu.
Ich erinnerte mich, dass ihre Türen offen gewesen waren. „Wer war es dann?“
Sie schwieg.
„Warum zögerst du?“
„Weil du mir niemals glauben würdest. Du musst es mit eigenen Augen sehen. Hör mir jetzt genau zu.“ Ich starrte sie an. „Besorge Schutzhandschuhe, eine Maske, wie man sie beim Schweißen trägt, und Gehörschutz.“
„Was redest du …?“
„Unter dem Fensterbrett meines Schlafzimmers findest du eine