Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild. Carl Wilckens

Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens


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      Ich wandte mich um und rannte zur Leiche Chemos zurück. Ich durchwühlte seine Hosentasche. Das schwarze Perl konnte mir wohl nicht die Kraft geben, es mit der gesamten Mannschaft aufzunehmen. Doch zumindest Mario würde dran glauben müssen …

      Als ich die Perle in den Händen hielt, kam mir eine bessere Idee. Ich rannte über das Deck. Die Piraten, die mir im Weg standen, sprangen zur Seite. Einem Mann spaltete ich den Schädel, weil er nicht schnell genug auswich. Einige Piraten zogen ihre Pistolen. Nur wenige wagten, auf mich zu schießen. Keiner traf.

      Zuerst rannte ich dorthin, wo ich vor langer Zeit den Flammenwerfer versteckt hatte. Das mörderische Werkzeug war noch da. Ich gurtete es mir um und rannte zu meinem nächsten Ziel: Meiner Kajüte, wo sich mein Pelzmantel befand. Ich warf ihn mir über, sodass der Flammenwerfer davon verborgen wurde. Zuletzt hastete ich zum Deckaufbau, der zur Dealertür führte. Ich tötete die Wache und nahm ihren Schlüssel. Die Süchtigen auf der anderen Seite der Tür tobten. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Ich hatte kaum drei Schritte getan, als die Tür aufflog und die Süchtigen aus ihr hervorquollen wie Wesen aus der Unterwelt. Ich rannte ins Freie und kletterte auf das Dach eines Schiffsaufbaus. Von dort sprang ich weiter von Dach zu Dach zurück zu den Piraten. Hinter mir her stolperten und stürzten die Süchtigen. Sie fielen von den Dächern und brachen sich die Knochen, aber sie rannten weiter, solange ihr Genick heil war.

      Dann war ich da. Ich sprang vom letzten Dach mitten in die Menge, die sich bereits auflöste. Ehe die Piraten reagieren konnten, folgten die Süchtigen. Sie stürzten von dem Dach des Schiffsaufbaus und kamen von dessen beiden Seiten angerannt. Ihre Haut war weiß, ihr Haar war weiß, ihre irislosen Augen weit aufgerissen. Sie schrien, sie spuckten und sie spien.

      Ich zielte mit dem Flammenwerfer blind in die Menge und betätigte den Abzug. Die Feuerzunge leckte über die Gesichter der Piraten, steckte Kleidung und Haar in Brand und ließ die Männer schreien. Säbel, Macheten und Pistolen blitzten auf. Chaos brach aus. Ich rannte weiter. Dabei brannte ich dutzende Piraten nieder, bis die Gaskartuschen des Flammenwerfers den Geist aufgaben. Hinter mir tobte die Schlacht. Ich war es, hinter dem die Süchtigen her waren. Sie wollten nur das schwarze Perl. Doch die Piraten, die glaubten, angegriffen zu werden, stellten sich ihnen entgegen.

      Ich gelangte ans Heck des Schiffs und entledigte mich des Flammenwerfers. Ich stieg die Treppe hinauf und betrachtete mein Werk von oben. Überall lagen Tote. Brennende und verkohlte Gestalten. Piraten kämpften gegen Süchtige. Schüsse und Schreie jagten über das Deck.

      Wo war Mario?

      „End.“ Ich wandte mich um und sah mich mit einem Mal Black Raven gegenüber. Ich erstarrte.

      „Du dreistes kleines Stück Scheiße.“ Ravens Stimme war ruhig. Er wirkte eher ungläubig denn wütend. „Dich umzubringen ist nicht genug.“ Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, das schwarze Perl zu nehmen. Raven kam näher und zog einen Säbel. „Ich werde dir Arme und Beine abschneiden.“ Wie schaffte er es, mich derart einzuschüchtern? War es der Irrglaube, Raven sei unbesiegbar, der ihn unbesiegbar machte? „Ich werde dich in einen Käfig stecken und dort ganz langsam verrecken lassen.“ Ich wich zurück und zog die Machete. Was hatte ich zu verlieren? Sam war tot.

      „Ich werde dich an die Möwen verfüttern.“ Als wollte er mich bloß informieren. Noch während er sprach, begann er, mit dem Säbel auf mich einzuschlagen. Seine Attacken kamen schnell und mühelos. „Ich habe schon viele grausame Strafen verhängt …“, fuhr er fort, indes ich zurückwich und seine Angriffe mit großer Mühe abwehrte. „… aber für dich muss ich mir was Neues einfallen lassen.“ Es war kein Irrglaube, der Raven unbesiegbar machte, keine Illusion. Er war gut. „Etwas Angemesseneres.“ Er war schnell. Er war furchtlos. Er kannte jede Finte. Er ließ mich glauben, einen Gegenangriff wagen zu können. Dann schlug er mir die Machete aus der Hand. Er trat mir gegen das Bein und ich knickte ein. Ein zweiter Tritt traf mich vor die Brust und warf mich zurück. Noch immer schmerzten meine Rippen vom Kampf gegen Chemo. Mir blieb keine Wahl. Ich holte das schwarze Perl hervor, doch ehe ich die Hand zum Mund führen konnte, stellte Raven einen Fuß auf meinen Arm. Ein Schlag traf mich an die Schläfe und für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Ich wartete auf den nächsten Schlag, der mir das Bewusstsein rauben würde. Wartete darauf, ohne Arme und Beine in einem Käfig zu erwachen, der von einem der Bootskräne baumelte.

      Da ertönte ein Donnern. Ein Laut, der das ganze Schiff erschütterte, gefolgt von den panischen Rufen der Piraten und Süchtigen.

      Raven hob den Blick. „Was bei Lotin …“ Er verstand nicht. Ich hingegen schon. Teena hatte die Bombe gezündet. Sie hatte der Swimming Island Sams Tod auf ihre Weise vergolten.

      Ich fuhr auf und zog mein rostiges Messer. Ich selbst hatte nicht für möglich gehalten, dass ich noch solche Kraft besaß. Als Raven überrascht zu mir sah, war es bereits zu spät. Ich stieß ihm die Klinge in den Bauch. Er stöhnte erstickt auf. Blut lief ihm aus dem Mund in den Bart. Die Kälte wich aus seinen Augen.

      „Du …“ Er lächelte im Sterben. „Du bist es …“ Und er stürzte.

      Ich hatte keine Zeit, mich zu fragen, was Raven damit gemeint hatte. Ich sammelte meine Machete auf und verließ das Heck. Das Schiff befand sich bereits in bedrohlicher Schieflage. Ich musste so schnell wie möglich von Bord. Allerdings war da noch was …

      Noch immer kämpften Piraten und Süchtige. Ich rannte über das Deck und tötete jeden, der mir in die Quere kam. Ich betrat das Schiffsinnere und gelangte zu der Geheimtür, die der Eingang zu Sams Versteck war. Ich kletterte durch den Schacht, der längst nicht mehr senkrecht stand. Unten angelangt stellte ich fest, dass der Raum sich mit Wasser füllte. Es spritzte durch das Schlüsselloch der Tür, die zum Unterrumpf führte, und reichte mir bis zu den Knöcheln. Das Bullauge lag gänzlich unter Wasser. Vor mir gähnte der Abgrund des Meeres.

      Tief im Innern des Schiffes tönte ein stählernes Stöhnen.

      Ich hastete in die Ecke des Raumes, in die die Schieflage des Schiffes sämtliche Gegenstände befördert hatte. Da war es. Das Tagebuch. Wie durch ein Wunder lag es noch auf der Kiste, auf der ich es abgelegt hatte. Ich nahm es und wollte gehen, da fiel mein Blick auf das Bett. Sein Anblick raubte mir alle Kraft. Als ich es das letzte Mal gesehen hatte, war Sam noch am Leben gewesen. Wir hatten dort gelegen, auf dieser schmutzigen Matratze, hatten einander gehalten und geliebt. Ich vergaß, dass ich mich in einem sinkenden Schiff befand. Ich ging hinüber und nahm das Kissen. Es hatte sich zur Hälfte mit Seewasser vollgesogen. Ich hob es ans Gesicht und sog den Geruch ein. Es roch nach ihr. Nach ihrem Haar, nach ihrem Schweiß, nach unserer Liebe …

      Das Schiff stöhnte auf. Eine Niete sprang aus der Wand, und ein dünner Wasserstrahl schoss in den Raum. Weitere Nieten folgten. Ein helles Knistern verriet mir, dass das Glas des Bullauges nicht mehr lange halten würde.

      Ich hätte dortbleiben können. Darauf warten können, dass das Glas brach und die hereinströmenden Wassermassen mich zerschmetterten. Dann wäre ich mit Sam wieder vereint gewesen. Aber nicht mit Emily. Ich blickte auf das Tagebuch in meiner Hand. Meine Schwester lebte und wurde womöglich immer noch in diesem Irrenhaus festgehalten.

      Ich warf das Kissen fort, stopfte das Buch in meinen Hosenbund und rannte zur Leiter. Ich musste gegen einen Wasserfall anklettern. Auf halber Höhe ertönte über mir irres Geschrei. Ein Süchtiger erschien an der Schachtmündung und sprang. Ich presste mich an die Wand, er fiel an mir vorbei und schlug klatschend auf dem knietiefen Wasser auf. In diesem Moment brach das Glas des Bullauges. Brüllend brach das Wasser herein, erfasste die Kisten, das Bett und den Süchtigen, schmetterte allesamt an die Wand und spritzte soweit den Schacht hinauf, dass ich mich daran verschluckte. Ich würgte und kletterte weiter.

      Wieder draußen rannte ich zur Reling, wobei ich den Gegenständen auswich, die über das schiefe Deck rutschten. Viele Rettungsboote waren schon ins Wasser gelassen worden und auf dem Weg zur Küste. Ob Mario in einem davon saß? Und Franco? Hatten sie den Kampf überlebt? Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als sie zu würgen, bis ihnen die Augäpfel herausquollen.

      Ich kletterte in eines der verbliebenen Rettungsboote und kurbelte


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