Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild. Carl Wilckens

Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens


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auf dem metallenen Untergrund nicht. Ich ging kaum zehn Schritte, als mich ein Mann aus einem der dunklen Seitengänge ansprach.

      „Ssst. Junge.“ Ich zuckte zusammen und wich zurück. Sein Anblick löste ein mulmiges Gefühl in mir aus. Der Mann war abgemagert. Er hatte einen stoppeligen Bart und schütteres Haar. Er trug einen abgewetzten Zylinder, sonst nichts als Lumpen, genau wie ich nur einen Schuh und schmutzige Verbände um beide Hände. Es war jedoch nicht sein ungepflegtes Äußeres, das mir Angst einjagte, sondern seine Augen. Seine Iriden waren komplett weiß, sodass sie nicht mehr von seinen Augäpfeln zu unterscheiden waren. Geblieben waren nur die Pupillen, zwei schwarze Punkte. Ich wusste damals nicht, dass sein Erscheinungsbild typisch für einen Perlsüchtigen war.

      „Du solltest lieber von dem Gang verschwinden“, sagte der Fremde. Trotz seiner merkwürdigen Iriden entging mir nicht, wie er den Blick senkte und meine Hand fixierte. Ein gieriger Ausdruck trat in seine Augen. Ich wurde gewahr, dass ich einen kostbaren Siegelring trug, und ich ließ die Hand hinter dem Rücken verschwinden.

      Ein zweiter Mann trat hinter dem ersten hervor. Er unterschied sich nur unwesentlich von seinem Partner, von seiner kleineren Statur mal abgesehen. Auch seine Augen waren die eines Perlsüchtigen.

      „Olli hat Recht, Junge. Komm hierher. Sonst holt dich der Pelz.“

      Ich hatte genug gehört. Obwohl ich immer noch erschöpft war von der Hetze durch den irren Piraten, machte ich kehrt und rannte den Gang zurück.

      „Ihm nach!“, rief Olli, und das Getrappel zweier Paar Füße erklang hinter mir. Panisch suchte ich nach einem Schacht, in den ich flüchten konnte, doch mir war klar, dass mein Vorsprung nicht groß genug war, um hineinzukriechen.

      Dann hörte ich Schritte. Stampfende Schritte, die den Untergrund erzittern ließen, begleitet vom metallischen Schaben der Klauen.

      „Der PELZ!“, rief Ollis Kumpane. Seine Stimme ging fast unter in dem markerschütternden Gebrüll, das der Bär im selben Moment ausstieß. Ich wagte es, einen Blick über die Schulter zu werfen. Mir blieb fast das Herz stehen. Das Biest füllte den Gang ganz aus. Speichel troff aus seinem weit geöffneten Maul. Auch seine Augen wurden vom Weiß der Perlsucht beherrscht. Ich sah, wie der Bär Ollis Kumpanen im vollen Lauf einen Hieb mit der Pranke versetzte. Es warf den kleinen Mann mit solcher Wucht nach vorne, dass er an mir vorbeiflog, gegen die leicht bogenförmige Wand krachte und komisch verdreht liegen blieb, wobei er ein geradezu künstlerisches Werk an der genieteten Eisenwand hinterließ, gezeichnet mit seinem eigenen Blut.

      Ich schrie. Kreischte wie ein kleines Mädchen. Ich warf mich vor den nächsten Schacht, der von dem Gang abzweigte, und kroch panisch hinein. Hätte der Bär es drauf angelegt, er hätte mich packen können. Doch er gab sich mit Ollis Kumpanen zufrieden.

      Während ich tiefer in den Schacht kroch, fing der Bär an zu fressen. Ich höre die Laute heute noch. Ein Schmatzen und Knacken, dass mir schlecht wurde.

      Ich kroch weiter, solange, bis ich den Bären nicht mehr hören konnte. Kroch, bis mir die Knie schmerzten. Folgte willkürlich dem Verlauf kreuzender Gänge, Leitern rauf und runter, die seit dem Bau des Schiffes niemand mehr benutzt hatte. Schließlich gelangte ich in eine Kammer, deren Boden auf einschläfernde Weise vibrierte. Irgendeine Maschine arbeitete darunter. Das Metall war angenehm warm. Dämmriges Licht drang durch Schlitze im Boden. Ich kroch in eine Ecke und rollte mich zusammen. Trotz des entsetzlichen Dursts, den ich mittlerweile verspürte, schlief ich fast sofort ein.

      Ich träumte von Rico Fonti. Er stand an Deck der Seven Worlds. Winkte mir zu. Die Welt hinter ihm verschwand im Nebel. Dann donnerten die Kanonen und rissen ihn in blutige Fetzen.

      Ich schreckte aus dem Schlaf, die Kleidung nass vom Schweiß.

      Ich schlief wieder ein und träumte von Emily. Sie trieb unter der Wasseroberfläche im Hafen von Grey Heaven. Kalt, weiß und leblos versank sie immer tiefer in der Dunkelheit, bis sie nicht mehr zu sehen war. Ich erwachte wieder, weinend, und ich weinte auch noch, als ich zum dritten Mal einschlief.

      Dieses Mal träumte ich von dem Mann, den ich erschossen hatte. Jamaal. Er starrte mich an aus seinem verbliebenen Auge und der blutigen Augenhöhle. Stundenlang. Und dann öffnete er den Mund und sagte ein Wort: „Mörder.“

      Dieses Mal erwachte ich, weil mich etwas ins Ohr zwickte. Ich setzte mich auf, und eine ganze Schar fetter Ratten floh in alle Richtungen. Ich schrie auf, packte einen Eisensplitter, von dem ich bislang nicht einmal gewusst hatte, dass er da gewesen war, und stach blind zu. Ich erwischte eines der Biester und es verendete fauchend. Ich starrte auf das Blut, das aus der Wunde troff. Und wieder loderte der Durst in meiner Brust und erstickte mein Denken.

      Ich wollte es nicht tun, doch etwas Seltsames ging mit mir vor. Mir schien, als verließe ich meinen Körper und beobachtete mich selbst, wie ich das Tier nahm, den Kopf in den Nacken legte und anfing, sein Blut zu trinken. Erst als nichts mehr aus der Wunde lief, kehrte ich in mich selbst zurück. Ich warf die Ratte fort und schüttelte mich vor Ekel. Mein Magen krampfte zusammen, und beinahe hätte ich mich erbrochen. Ich wischte mir mit dem Ärmel über den Mund und starrte auf die Schachtmündung, die aus der kleinen Kammer führte. Was sollte ich tun? Bestimmt hatte das Schiff längst abgelegt. Trotzdem wollte ich einen Weg nach draußen finden, um zu fliehen, sobald die Swimming Island irgendwo ankerte. Wie lange mochte das dauern?

      Ich wusste damals nicht, dass der Unterrumpf ein Gefängnis war. Kaum einer konnte ihn nach Belieben betreten und wieder verlassen. Nur solche, die die geheimen Eingänge kannten und sich auf die Kunst des Schlösserknackens verstanden, und solche, die im Auftrag Black Ravens hierherkamen, ausgestattet mit Flammenwerfern und anderen Waffen, um zu den Maschinenräumen zu gelangen.

      Um mich abzulenken, ging ich auf alle Viere und kroch in den Schacht hinein. Meine Knie schmerzten. Mit dem Metallsplitter kratzte ich Pfeile in den Schachtboden und versuchte, mir somit eine Orientierung in diesem Netzwerk aus Schächten und Gängen zu schaffen.

      Stunden später kehrte ich in die Kammer zurück, unter deren Boden jene seltsame Maschine wummerte. Ich war müde und hungrig. Meine Knochen schmerzten, und ich sehnte mich nach dem Licht der Sonne. Nach dem offenen Himmel.

      Drei Ratten nagten an dem Kadaver ihres Artgenossen, dessen Blut ich getrunken hatte. Sie blickten nicht einmal auf, als ich die Kammer betrat. Erst als ich eine von ihnen mit dem Metallsplitter tötete, rannten die anderen davon. Ich trank das Blut meiner Beute, weidete sie aus und nagte das rohe Fleisch von ihren Knochen. Anschließend legte ich mich schlafen. Wieder wurde ich von Albträumen und Ratten heimgesucht.

      So vergingen die Tage, ohne dass ich hätte sagen können, wie viele. Ich erkundete den Unterrumpf, wobei ich mich nur selten aus den Konstruktionsschächten hervorwagte. Ich ernährte mich von Ratten und dem, was ich fand. Manchmal stahl ich. Brot, einen Schluck Wasser aus der Flasche eines Perlsüchtigen … nie zu viel, da es mir unrecht erschien. Die Schächte führten mich bisweilen durch verborgene Kammern, in denen sich die anderen Bewohner des Rumpfes eingelebt hatten. Rattennester nannte man diese Orte an Deck des Schiffes, wie ich später erfahren sollte.

      Wenn ich müde war, kehrte ich in die mir vertraute Kammer zurück. Stets wummerte die Maschine unter dem Boden. Stets dämmerte das Licht durch die Ritzen. Manchmal hörte ich Stimmen. Um mich vor den Ratten zu schützen, verkleidete ich die Löcher in den Wänden. Ich sammelte alles, was ich auf den Erkundungstouren finden konnte. Selbst der nutzloseste Unrat konnte irgendwie hilfreich sein. Bald hatte ich genügend Materialien zusammen, um mir eine simple Rattenfalle zu bauen.

      Ich erfuhr viel über die Menschen, die im Schiffsrumpf der Swimming Island lebten. Fast alle waren Perlsüchtige. Sie waren abhängig von einer Droge, die man im Innern einer Muschel fand. Diese wuchs am Rumpf des Schiffes und auch in einigen wenigen Salzwasser gefluteten Bereichen im Rumpf. Sie wurden von Clans bewacht, die regelrechte Kriege um die Vorherrschaft dieser Becken führten.

      Um den Rausch des Perls zu erleben, musste man es sich unter die Zunge legen. Schwarzes Perl war besonders stark, besonders selten und sehr wertvoll. Das Zahlungsmittel war Zigaretten oder … Geld. Ganz normales Geld. Meist Münzgeld, da Banknoten schnell zu schimmeln anfingen.


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