Katharsis. Drama einer Familie. Michael Reh

Katharsis. Drama einer Familie - Michael Reh


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weiße Pulver ihn von diesem Ort wegbeamte.

      Was machte er hier? Warum hatte er sich in den Flieger gesetzt, war sechstausend Kilometer geflogen?

      »Verdammte Scheiße«, dachte er und ging nach rechts in die Wohnküche. Die Zeit schien in dieser Wohnung stehengeblieben zu sein. Die Lampe an der Decke verströmte wie damals ein kaltes Neonlicht und darunter baumelte ein Klebestreifen mit toten Fliegen. Das alte Sofa war durchgesessen und das Holzfenster zum Hof war noch nicht durch ein lärmschützendes neues Plastikfenster ersetzt worden.

      Max schaute in den betonierten Innenhof und die Garagenzeile. Der Garten dahinter wurde fast durch die Stille erdrückt. Kein Vogellaut, keine Straßengeräusche. Der Himmel hing tief.

      Es war heiß und stickig. Er öffnete das Fenster, um einen Luftzug in die Wohnküche zu lassen. Heiße, verbrauchte Luft stieg ihm entgegen und in nicht allzu naher Ferne grummelte das erste Anzeichen eines Sommergewitters. Hoffentlich würde es bald regnen.

      Er rieb sich die Stirn, seine Wunde juckte, die Kopfschmerzen wurden wieder stärker. Er brauchte dringend Aspirin, drehte sich um und ging ins Bad. Um die Badewanne herum klebte vertrocknetes Blut, inzwischen schwarz geworden.

      Erstaunlich, wie viel Blut in einem Körper ist, wie viel waren es, sieben, acht Liter? Und warum ist es so zäh und wird schwarz, wenn es trocknet?

      Warum dachte er über die Konsistenz von Blut nach? Plötzlich wollte er nichts als raus aus dieser Wohnung, aus diesem Scheiß-Provinznest, aus diesem Land. Am besten so weit weg wie möglich! Scheiß doch auf das Aspirin. Er verließ das Bad und ging zurück in den Flur, da hörte er ein Geräusch aus dem hinteren Teil der Wohnung. Der Flur machte eine leichte Biegung, angrenzend daran lagen das Wohn- und Schlafzimmer. Ein säuerlicher Geschmack machte sich in seinem Mund breit. Er ging nach hinten und betrat den Schlafraum. Ein alter Mann stand mit dem Rücken zu ihm. Er war mittelgroß, hatte weißes welliges Haar und war etwas übergewichtig. Seine Kleidung war farblos, seine Haltung gebückt. Er hielt einen Umschlag in den Händen. Max räusperte sich, aber es kam keine Reaktion. Er hatte vergessen, dass Herrmann nicht besonders gut hörte, also klopfte er laut gegen den Türrahmen. Der alte Mann drehte sich um, starrte seinen Sohn entgeistert an und steckte hastig einen Umschlag in die Brusttasche seiner Anzugjacke.

      »Hallo Papa«, sagte Max.

      13

      Die zweite Trennung

      Es war eine schlimme Nacht. Max lag auf der Couch im Wohnzimmer seiner Großmutter.

      Am Morgen rief Helene Magda an, um zu erfahren, ob die Brüder den Nachmittag zusammenverbringen konnten. Das würde leider nicht gehen, denn sie, Magda und Erich, würden mit Nikolas in den Zoo fahren und wären schon fast aus der Tür raus. Aus Max’ Sehnsucht wurde Wut. Nikolas vermisste ihn also gar nicht.

      Am frühen Abend durfte er Fernsehen gucken, ein Privileg, das Helene nur selten gewährte. Im ersten Programm lief eine Verfilmung des Märchens Die Schneekönigin.

      Er starrte auf den Bildschirm und erfuhr zum ersten Mal die Geschichte von Kay, Gerda und der Königin im Eispalast. Ihm gefielen die Schneekönigin und ihr vereistes Reich, denn Kay schien nicht mehr zu fühlen, dass er eigentlich lieber mit Gerda zusammen war und nach Hause wollte. Die Splitter des Spiegels, der eine in seinem Herzen, der andere in seinem Auge, machten ihn still und unempfindsam.

      Das erschien Max wie eine Lösung. Seine Wut wich einer Kälte, die sich wie ein Ring um seine Gefühle legte. So wie in Andersens Märchen, in dem die Glassplitter des Spiegels und die Schneekönigin das Herz des Knaben vereist hatten, fühlte er plötzlich nichts mehr.

      Dass Gerda ihren Kay am Ende mit den heißen Tränen erlöste und aus dem kalten Paradies in die Realität zurückholte, erschien ihm nicht weiter wichtig oder erstrebenswert. An diesem Abend ging Max klaglos ins Bett und schlief traumlos bis zum nächsten Morgen.

      Am Sonntagabend kam Anna allein. Wie immer, wenn sie dem dörflichen Mief entflohen war, erschien sie wie ein anderer Mensch. Sie leuchtete, sprudelte nur so vor Energie und all den neuen Eindrücken, die sie aus der großen Stadt mitbrachte. Sie erzählte von der Mauer, die durch die Stadt Berlin gezogen war und Familien trennte, vom großen Kaufhaus KaDeWe, vom Kudamm, Checkpoint Charlie und den Berlinern mit Schnauze.

      Ein Klischee nach dem anderen füllte ihre Erzählungen. Max hörte kaum zu, während Helene mit zusammengepressten Lippen aus dem Fenster schaute. Anna war wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Mal einen Schulausflug gemacht hatte. Diese Situation sollte sich immer wiederholen, wenn sie von einer ihrer Reisen, die sie später alleine zweimal im Jahr unternehmen würde, zurückkehrte. Dass Max besonders schweigsam war, fiel ihr nicht weiter auf.

      Kurz darauf packte Anna Max in den hellblauen Audi 60, hielt fünf Minuten später vor Magdas Haus gegenüber der Kirche, stieg aus und war bald mit Nikolas zurück. Sie trug ihn auf dem Arm, was sie eigentlich schon seit einiger Zeit nicht mehr getan hatte, da die Jungen ihr zu schwer geworden waren.

      Sie setzte Nikolas auf den Beifahrersitz und stieg ins Auto. Er sagte kein Wort und starrte nur vor sich hin. Der vereiste Max saß auf der Rückbank. Schweigend fuhren sie die paar Minuten nach Hause.

      Anna drehte sich zu Max: »Max, steig aus, mach das Garagentor auf und warte vor der Haustür.«

      Er tat wie befohlen, wissend, dass etwas passiert sein musste, denn er hatte seine Mutter noch nie so verwirrt gesehen. Er wartete einige Minuten vor der Haustür, bis Anna mit Nikolas auf dem Arm kam. Noch immer hatte Nikolas kein Wort gesagt. Fragend schaute Max ihn an, doch sein Blick blieb unerwidert. Sie aßen kurz zu Abend, putzten sich die Zähne und mussten ins Bett, schließlich war am nächsten Tag Schule.

      Die Brüder hatten ein so genanntes Stockbett. Max schlief oben, Nikolas unten. Es war ruhig im Zimmer, Max beugte sich nach unten und fragte endlich, was los sei, wie es bei der Tante und im Zoo gewesen war. Nikolas antwortete nicht, drehte sich zur Seite. Max war verstört, kletterte aus dem Bett, um seine Mutter zu fragen, ob etwas passiert sei. Sie beruhigte ihn und meinte, Nikolas hätte wohl etwas Fieber und bekäme eine Erkältung. Max wusste, dass sie log. Sie schickte ihn zurück ins Bett. Im Dunkeln kletterte er die Holzleiter hoch und erschrak. Nikolas lag in seinem Bett und schaute seinen Bruder mit großen Augen an. Max legte sich neben ihn und sofort klammerte sich Nikolas an ihn an und weinte. Max weinte mit, wusste nicht warum, und fühlte nur, dass irgendetwas Schlimmes passiert war und dass es nie mehr so sein würde wie früher. Irgendwann schliefen sie fest umschlungen und völlig erschöpft ein.

      Am nächsten Morgen musste Max allein in die Schule. Nikolas hatte Fieber, erbrach sich. Anna meinte, er hätte einen grippalen Infekt, Max sollte nicht zu ihm und in den nächsten Tagen bei seiner Schwester schlafen. Am nächsten Tag hatte Max ebenfalls einen heißen Kopf und wollte nicht zur Schule. Anna sagte, er solle nicht so ein Theater machen, band ihm einen Schal um und schickte ihn in die Grundschule.

      In der ersten Pause um 10 Uhr mussten alle raus auf den Schulhof, es war ein schöner Septembermorgen und die Kinder spielten Gummitwist an der Mauer, die an Magdas Garten grenzte. Alle schrien und redeten laut.

      Plötzlich erschien Magda an der Mauer. »Seid ruhig, ihr Blagen, das ist ja nicht zum Aushalten«, keifte sie. Dann sah sie Max. Sie starrte ihn an, murmelte etwas und schon war sie verschwunden.

      Nach einigen Tagen ging es Nikolas etwas besser, aber er verhielt sich seltsam. Er aß nicht, selbst den geschmorten Wirsing, sein Leibgericht, das es immer mittwochs gab, verschmähte er. Er wand sich in den abendlichen Kuschelminuten aus den Armen seiner Mutter und redete nur das Nötigste. Jede Nacht kletterte er zu Max ins Bett, weinte, sagte aber kein Wort.

      Max wusste nicht, was er tun sollte, lag bei seinem Bruder, bis er einschlief, und hielt ihn nur fest. Nikolas wachte oft in der Nacht auf und fing an zu schlafwandeln.

      Nach einigen Wochen hatte er ein paar Kilo abgenommen. Herrmanns Strafpredigten und die Pflege seiner Mutter konnten ihn nicht aus seiner Sprachlosigkeit erlösen. Selbst als der Vater den Gürtel aus seiner Hose zog und Nikolas zum Reden prügeln wollte, erreichte er nichts damit. Nikolas starrte apathisch vor sich hin.

      An


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