Katharsis. Drama einer Familie. Michael Reh

Katharsis. Drama einer Familie - Michael Reh


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nicht die Goldmarie, sondern sie waren die wahren Pipi Langstrumpfs des Wemphofes, so der Name der Straße. Sie hatten Pipis Abenteuer – und es verwunderte sie nicht, dass ein Mensch so heißen konnte – im dörflichen Kino am Sonntagnachmittag gesehen. Die Zwillinge waren sehr beeindruckt von ihr, denn sie war stark, furchtlos und kaufte für alle Kinder im Dorf Köstlichkeiten aus dem herrlichen Süßigkeitenladen.

      Zwar war eine Bude im Kohlenpott kein Süßwarengeschäft aus einem schwedischen Kinderfilm und auch das dörfliche Kino wurde zwei Jahre später zum Pampamkino, der ruhrpottlichen Variante eines Sexkinos, aber das scherte die Brüder nicht.

      Da Pipi leider nicht in der Nachbarschaft, sondern in einem unbekannten Land namens Schweden wohnte, verteilten Max und Nikolas die Haribo-Erdbeeren und Milkyways an die Kinder aus der Straße, fühlten sich großartig und pinkelten dann mit zusammen Martin Stahlke von der Kirchhofsmauer auf den Bürgersteig. Unglücklicherweise kam Herrmann zu dem Zeitpunkt von der Arbeit und erwischte sie in flagranti.

      Was den Zwillingen Spaß machte, brachte ihn auf die Palme. Hausarrest. Vorher gab es nach dem obligatorischen Satz: »Anna, hole mir den Riemen«, womit er meinte, dass sie ihm seinen Ledergürtel holen sollte, noch kräftig ein paar rote Striemen auf den Hintern.

      Verheult krochen die Brüder unter den hämischen Blicken der Goldmarie, die immer brav aufs Klo ging und auch ansonsten keinen Unsinn machte, in ihr Zimmer, einander tröstend, dass sie nicht alleine waren, und heckten Pläne aus, wie sie bald gemeinsam vor ihrem unlustigen, riemenklatschenden Vater fliehen würden. Was Pipi konnte, das mussten sie auch schaffen!

      Doch trotz Prügel mit dem Riemen, katholischen Glaubenssätzen und einem moralinsauren Vater waren die ersten Jahre ihres Lebens durchaus schön und nichts sollte darauf hinweisen, welch dunkles Schicksal Nikolas und Max erwarteten würde.

      10

      Deutscher Boden

      Der Alkohol hatte seine Wirkung nicht verfehlt.

      Max hatte um 5 Uhr morgens europäischer Zeit trotz besseren Wissens einen doppelten Whisky zu sich genommen. Eigentlich rührte er das Zeug nicht mehr an, seit er nach einer Schlittenfahrt mit dem Schneemann und JM eine halbe Flasche Scotch gesoffen hatte, um der aufsteigenden Koksparanoia zu entfliehen. Danach hatte er sich die Seele aus dem Leib gekotzt. An diesem Morgen auf dem Düsseldorfer Flughafen, der ihm äußerst provinziell erschien, war der Hangover nur halb so schlimm.

      Misstrauisch schaute ihn ein deutsches Paar Augen an, das zu einem misstrauischen deutschen Grenzbeamten, der seinen Pass kontrollierte, gehörte.

      Vor einigen Jahren hatte Max die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragt, mit der festen Absicht, nie wieder deutschen Boden betreten zu wollen. Jetzt hatte er dem deutschen Grenzbeamten mit einem akzentfreien »Guten Morgen« seinen amerikanischen Pass hingelegt. Dieser hatte zwar sämtlicher Herren Länder Stempel, aber nicht den der Bundesrepublik Deutschland.

      Eine grantige Stimme fragte, wie lange Max auf deutschem Boden weilen wolle und was er hier zu suchen hätte. Trotz eines aufkommenden Übelkeitsgefühls erwiderte er etwas von familiären Gründen und bekam unter herrischem Blick seinen Stempel. Max zog von dannen, nicht, ohne dem Beamten ein freundliches »Asshole« zugeworfen zu haben. Aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse verstand dieser offenbar ein »Ach so«.

      Er wartete auf sein Gepäck und ging dann sofort in das Flughafenhotel, um zu schlafen.

      Nach drei Stunden wurde er wieder wach, zog den Vorhang von den dreifach verglasten Scheiben zurück und starrte auf einen trostlos betonierten Innenhof, über dem ein bleierner Junihimmel hing. Er konnte die Flugzeuge, die abhoben und ankamen, zwar sehen, aber nicht hören. Vollkommene Schallisolierung. Sein Vater hatte auch jeden Abend alle Jalousien in der Wohnung heruntergelassen, die Züge auf den Gleisen vor dem Haus hatte er trotzdem gehört.

      Wo sollte er anfangen?

      Nachdem er ein paar Minuten auf die gegenüberliegende Betonwand gestarrt hatte, bestellte er einen doppelten Espresso und etwas zu essen beim Zimmerservice. Nach einer halben Stunde schob ein schlechtgelaunter Kellner das Frühstück mit einem geknurrten »Guten Tag« in das Zimmer. »Servicewüste Deutschland«, dachte Max, würgte das Essen herunter und spülte den dünnen Espresso hinterher. Er duschte, zog sich an und verließ das Hotel.

      Er nahm den Aufzug in die untere Etage, ging zur nächsten Autovermietung, nahm nach einigen Minuten den Schlüssel für den Mietwagen in Empfang und machte sich auf den Weg.

      Die Luft war schwül und schien kaum Sauerstoff zu beinhalten, man hätte sie mit einem Messer schneiden können.

      Er fuhr über die B1 in seine alte Heimat und brauchte knapp eine Stunde, um die Ausfahrt zu erreichen, die ihn in das Dorf bringen sollte, das er seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr betreten hatte. Wie klein die Welt doch geworden war, früher war die kurze Fahrt in die nächste Stadt schon eine Art Himmelfahrt gewesen.

      Sein Magen grummelte pausenlos vor sich hin. Er zündete sich eine Zigarette an, hatte feuchte Hände und der Himmel schien noch ein wenig weiter auf das heiße Wagendach und Max’ trübe Stimmung zu sinken. Eine Welle der Hilflosigkeit schlug über ihm zusammen. Er fühlte sich plötzlich so hilflos wie damals.

      Das Märchen der Schneekönigin, seiner alten Freundin, fiel ihm wieder ein. Er durfte das alles nicht so an sich ranlassen. »Mach bloß kein Drama aus der Sache! Reiß dich mal zusammen!« Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Wie würde er auf die Familie reagieren und wie diese auf ihn? Was würde sein Vater sagen, würden sie sich überhaupt etwas zu sagen haben?

      Nach Annas Tod hatte Herrmann kurze Zeit später wieder geheiratet. Die neue Frau an seiner Seite kannte Max nur flüchtig. Sie war eine geschiedene Lehrerin aus dem Norden und hatte Max’ Eltern auf einer Studienreise in Rom kennengelernt.

      Er erinnerte sich dunkel an eine lebenslustige Mittvierzigerin, die, wie so viele aus der Generation seiner Eltern, Dinge lieber verdrängte, als sie wahrzunehmen. Unsympathisch war sie ihm nie gewesen. Auch dann nicht, als sie seinem sich nach katholischen Grundsätzen noch in der Trauerzeit befindlichen Vater das Jawort auf einem unpersönlichen Standesamt gab.

      Außer Marie war keiner aus der Familie anwesend, denn Helene, immer noch Matriarchin des Remark-Clans, billigte die neue Verbindung nicht.

      In der Nacht nach Annas Beerdigung hatte Herrmann Max in volltrunkenem Zustand erklärt, dass er eine neue Ehe als einzigen Weg sehen würde, um nicht als Priester, Alkoholiker oder Selbstmörder zu enden. Wenn das die Alternativen zur Ehe für ihn sein sollten, war er doch besser bei der lebenslustigen, geschiedenen Norddeutschen aufgehoben.

      Herrmann, der seinen Kummer erst lieber im Alkohol ertränkte und dann in einer neuen Ehe Vergessen suchte, saß in dieser Nacht wie ein Haufen Unglück auf der durchgesessenen Eckbank in der Küche.

      Max wohnte damals schon lange nicht mehr zu Hause und kam zu Annas Beerdigung für einige Tage aus Paris, wo er damals studierte. Rätselhafte Umstände hatten zum Tod seiner Mutter geführt. Schweigen umhüllte die Wahrheit. Das Motto der Familie Wie es hier drinnen aussieht, geht niemanden etwas an hatte sich über Jahrzehnte bewährt und galt. Konventionen und Regeln waren die Grundpfeiler in Herrmann Wildes Leben, welches nicht durch die seltsamen Umstände des Todes seiner Frau und das Leben seiner missratenen Söhne gestört werden sollte.

      Die Gefühle für seinen Vater, die er jahrelang in die unterste Schublade seines Bewusstseins verstaut hatte, kamen mit einer Gewalt zurück, die er nicht erwartet hatte. Max lenkte den Wagen noch rechtzeitig auf den Standstreifen, öffnete die Tür und erbrach sich.

      Es war unvermeidlich, dass er sich wohl oder übel mit der gesamten fauligen Brühe der Lügen auseinandersetzten musste.

      Nach ein paar Minuten hatte er die Hauptstraße des Dorfes erreicht und fuhr an schmucklosen Häusern vorbei, deren Tristesse durch die Farblosigkeit des Himmels noch unterstützt wurde.

      Geändert hatte sich nicht viel. Man hatte den alten Wasserturm gegenüber dem Sportplatz abgerissen. Jetzt standen dort langweilige Doppelhaushälften und ein großes Mietshaus. Hinter allen Fenstern


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