Katharsis. Drama einer Familie. Michael Reh

Katharsis. Drama einer Familie - Michael Reh


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nicht. Sie war nur froh, nicht mehr jeden Mittag um 12 Uhr das Essen auf den Tisch stellen zu müssen.

      Eine Blase umgab die deutschen Dörfer in der Zeit nach Hitlers Machtergreifung. Das Radio war Bindeglied zwischen den Machthabern in Berlin und den Mikrokosmen der Dörfer. Es gab Nationalsozialisten im ganzen Staat und auch genug in Schwarzhausen. Man passte sich an und der Dorfjude wurde verschleppt.

      Paul Wilde junior, der Erstgeborene, war damals gerade Anfang zwanzig. Er wurde Soldat und starb auch brav im Feld fürs Vaterland. Erst später sollte Max herausfinden, dass sein seliger Onkel Paul, dessen Bild bis zum Tode der Großmutter über ihrem Sofa hing, in der SS war und auch zu Hitlers Leibgarde gehörte. Das wurde allerdings beim Sonntagskaffee verschwiegen.

      Es gibt allerdings einen Beweis für seine Mitgliedschaft bei Hitlers Paradesoldaten. Für einen Film der Nazi-Diva Zarah Leander brauchte man in einer Szene fünfzig Statistinnen, die im Hintergrund einen engelsgleichen Chor mimten. Da die Leander groß und breit war, fand man keine Damen, die sich eigneten, und so wurde kurzerhand eine Gruppe von SS-Soldaten aus Berlin nach Babelsberg abkommandiert, in wallende Kostüme gesteckt, mit blonden Perücken ausgestattet und drastisch geschminkt. Noch heute kann man, wenn man genau hinsieht, Paul in der zweiten Reihe ganz rechts außen stehen sehen, während Frau Leander musikalisch verspricht, dass sie weiß, dass ganz, ja wirklich, ganz bestimmt ein Wunder geschehen wird, auch in Schwarzhausen.

      Dort war das Gefühl der Ohnmacht allgegenwärtig, wenn auch den meisten nicht bewusst. Man lebte sein Leben, wehrte sich nicht und hatte höchstens Angst vor dem Nachbarn, der Informationen, die nicht regimekonform waren, weitergeben konnte. Was scherten einen die verschwundenen Juden.

      Die ersten Lebensjahre von Max’ Vater waren geprägt von der engen Beziehung zur Mutter und zur älteren Schwester. Als der Krieg begann und die Nahrung knapper wurde, wurde er im Alter von fünf Jahren in ein kleines Dorf auf dem Land bei Paderborn geschickt. Kinderlandverschickung! Ein Bauernhof wurde sein neues Zuhause und sollte es für einige Jahre bleiben. Verstört von der Trennung, verschloss er sich mehr und mehr seiner gesamten Umgebung.

      Er mistete Ställe aus, ging morgens fünf Kilometer zur Schule und nachmittags wieder zurück, trug Sommer und Winter kurze Hosen und schlief mit dem verhassten Knecht in einer Kammer ohne Ofen. Der Höhepunkt seines einsamen Lebens im Exil, das vier Jahre dauern sollte, war der monatliche Besuch der Mutter, die auch gleichzeitig auszog, um zu hamstern, damit die Familie daheim etwas zu essen hatte.

      Einmal im Jahr kam er für kurze Zeit nach Hause. Beim letzten Besuch im Herbst 1944 nur, um mitzuerleben, wie das elterliche Haus zerbombt wurde. Von da an gab es kein Zuhause für Herrmann mehr.

      Selbst dreißig Jahre später sprach er den Namen des Dorfes bei Paderborn nicht aus und nahm bereitwillig große Umwege in Kauf, um nicht an dem Ort seiner einsamen Kinderjahre vorbeifahren zu müssen.

      Ein gehemmter, schüchterner Junge von elf Jahren kehrte nach Kriegsende im Sommer 1945 in sein Heimatdorf zurück, besuchte das Gymnasium und sagte zu allem Ja und Amen, aus Angst, wieder von der Familie getrennt zu werden.

      4

      Das Erwachen

      Max wachte am Sonntag, den 13. Juni, gegen 14 Uhr auf.

      Lippen wie Sandpapier, die Kehle völlig ausgetrocknet, sein Schädel brummte und für ein paar Minuten war er völlig orientierungslos. Nachdem er eine Ewigkeit an die Decke gestarrt und gewünscht hatte, sie wäre der Himmel, die Hölle oder zumindest das Fegefeuer, kehrte die Erinnerung langsam in seinen malträtierten Schädel zurück oder was noch von ihm übrig war und funktionierte.

      Solche Momente widerten ihn so abgrundtief an, dass er vor lauter Selbsthass nicht wusste, ob er aus dem Fenster springen oder sich das nächste Messer im Harakiristil in den Bauch rammen sollte. Beides versprach einen zu blutigen Ausgang und so wartete er den Anfall einfach ab und schaute weiter auf den Wasserfleck an der Decke. Nach einer halben Stunde quälte er sich in die Küche des Appartements, sein Blick fiel auf leere Wodkaflaschen, Valiumtabletten und Koksreste auf der Anrichte.

      Zwei Espressi und drei Zigaretten später kam die Erinnerung an die letzten 36 Stunden zurück. Nachdem er für einige Sekunden bewusstlos vor dem Flagshipstore von Ralph Lauren auf dem West Broadway zusammengebrochen war, kam Gott sei Dank Pablo, der Doorman, um ihn in die klimatisierten Hallen des Gebäudes zu schleppen.

      Max hatte sich bei dem Fall die Stirn aufgeschlagen, blutete wie ein Schwein, sein Handy hatte den Fall seltsamerweise unbeschadet überlebt.

      Während das Blut auf die weißen Marmorfliesen der Lobby tropfte, wusste Max nicht, ob die eventuelle Gehirnerschütterung oder seine Schwester, die immer noch am Telefon war, Schuld an seiner Übelkeit trug. Irgendwo nahm er die Kraft her, um zu sagen, dass er sie zurückrufen würde.

      Kurze Zeit später begleitete ihn JM in die Notaufnahme des Mount Sinais Hospitals. JM kannte den Arzt von diversen sexuellen Happenings und so mussten sie nur dreißig Minuten zwischen schreienden Kindern, blutenden Unfallopfern und hysterischen Eltern warten.

      300 Dollar später und mit einer Klammer auf der Platzwunde trafen Max und JM Thierry, den Schneemann mit dem weißen Pulver, an der Ecke 61. Straße und 10th Avenue. So begann eine Rutschpartie, die fast dreißig Stunden dauern sollte.

      Max hatte die letzten zwei Stunden seines Lebens schon vergessen, noch bevor er sich kurz darauf mit JM die erste Line in die Nase zog. Danach war alles egal und die beiden Freunde putschten sich gegenseitig mit viel Wodka und einigen bezahlbaren Escorts zu den Limits ihres heiligen Grals hinauf.

      Die Klammer in der Stirn wurde unwichtig, die Damen wurden erst am Samstagmorgen entlassen. An Schlaf war nicht zu denken, Thierry stand 45 Minuten nach einem Anruf erneut vor der Tür und sie machten da weiter, wo sie angefangen hatten. Neue Escorts waren schnell gerufen, Viagra war immer zur Hand. Jedes Gefühl wurde rigoros weggeschnupft.

      Irgendwann am frühen Sonntagmorgen schaffte Max es, völlig high in ein Taxi zu fallen, das ihn nach Hause fuhr.

      Vier Schlaftabletten der starken Sorte und zwei Valiumtabletten halfen ihm für einige Stunden, das Bewusstsein zu verlieren, und so stand er am Nachmittag mit der Klammer im Kopf und dem Eisring um sein Herz in seinem Soho-Loft und alles war mit noch stärkerer Macht und ohne Kompromiss zurückgekehrt: Nikolas saß in Dortmund in Untersuchungshaft, angeklagt wegen zweifachen Mordes.

      Max bemerkte, dass er seine Schwester noch nicht einmal gefragt hatte, wen sein Bruder getötet hatte. Warum hatte er nichts gemerkt, gespürt? War das Band zwischen ihnen nicht mehr existent?

      Mit Zwillingen ist das so eine Sache, besonders bei eineiigen. Nikolas und Max waren unzertrennlich in den ersten Jahren ihres Lebens und auch später, nachdem Nikolas dann schwierig wurde und sich zurückzog, spürte Max doch immer, wenn mit seinem Bruder etwas nicht stimmte.

      Wie alle anderen in der Familie nahm Max irgendwann hin, dass Nikolas seltsam war, kaum sprach, anscheinend autistische Züge angenommen hatte. Er nahm es hin, wie man Wolken am Himmel hinnehmen muss, an einem Tag, der wolkenfrei bleiben soll. Es war eben so.

      5

      Der Anfang – zweiter Teil

      Tibor Remark war ein schöner Mann.

      Er kam von Ungarn über Umwege ins Ruhrgebiet, fand Arbeit beim Bergbau und ließ sich in Schwarzhausen nieder. Ein wahrer Till Eulenspiegel. Er erzählte harmlose Lügengeschichten, dass sich die Balken bogen, feierte, bis die Kühe nach Hause kamen, küsste mehr als eine Frau in seinem Leben und war im ganzen Dorf beliebt.

      Er heiratete im Jahre 1937 Helene Bartholomae, eine verschlossene junge Frau, die als Schneiderin arbeitete. Die erste Tochter, Anna, wurde acht Monate später geboren. Das Kind wurde vom Vater zärtlich geliebt, von der Mutter eifersüchtig beäugt und verbrachte die ersten Lebensjahre glücklich in dem kleinen Hause nahe dem dörflichen Park.

      Kinderfotos zeigen ein schlankes Mädchen mit dünnen Zöpfen und grünen Augen, das ständig auf dem Schoß des Vaters zu finden war. Er war ihr Held, Anna spürte, dass die Verbindung zum Vater etwas ganz Besonderes war, genauso wie ihr späterer


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